# taz.de -- Kolumne German Angst: In der Hose der Anderen | |
> 35 Organisationen haben für das Verbot religiöser Beschneidungen | |
> demonstriert. In der Debatte ging es von Anfang an um mehr als ein Stück | |
> Haut. | |
Bild: Ein muslimischer Junge am Tag vor seiner Beschneidung. | |
Es ist faszinierend, wie ein kleiner Reiz ausreicht, um jahrhundertealte | |
Vorurteile aus dem kulturellen Unterbewusstsein an die Oberfläche zu | |
schwemmen. Vor drei Jahren fällte das Kölner Landgericht ein | |
aufsehenerregendes Urteil: Es erklärte die religiöse Beschneidung von | |
muslimischen und jüdischen Jungen zur Straftat. Mittlerweile hat der | |
Bundestag die Beschneidung geregelt – und so die Kriminalisierung jüdischen | |
und muslimischen Lebens verhindert. | |
Die Mehrheit in Deutschland aber lehnt den Beschluss ab. Die Debatte lief | |
aufgebracht, monatelang. Das Kindeswohl wurde in Stellung gebracht gegen | |
ein „barbarisches“ Ritual, „religiös motivierte Gewalt“, die | |
„Verstümmelung“. Und schon befinden wir uns wieder im 19. Jahrhundert | |
mitsamt der Stereotype vom Kinder quälenden Juden und vormodernen Muslim. | |
Es gipfelt in der Unterstellung der christlich säkularisierten Mehrheit, | |
jüdische und muslimische Kinder müssten vor ihren Eltern geschützt werden, | |
von ihr. | |
Die Emotionalität zeigt, dass es um mehr ging als ein Stück Haut. Um mehr | |
als Kinderrechte, Religionsfreiheit. Denn ausgerechnet jene klagten über | |
den Verlust der Vorhaut, die sie selbst im Regelfall besitzen. Hinter dem | |
universell daherkommenden Plädoyer für das Recht auf „körperliche | |
Unversehrtheit“ lauerte der Paternalismus der Mehrheit. | |
Das notorische Scheiden zwischen den Aufgeklärten und den Barbaren mit | |
ihrer Bringschuld gegenüber einer fortschrittlichen Gesellschaft – es ist | |
diese Blindheit gegenüber einer Realität, die regelt, wer über was sprechen | |
darf, die den Sprecher als deren Nutznießer entlarvt. Denn wenn die | |
Beschnittenen „barbarisch“ sind, haben „wir“ das Recht auf unserer Seit… | |
In Köln demonstrierten am 7. Mai 35 Organisationen für das Kölner Urteil. | |
Sie sprachen von „Amputation“, suggerieren, der Penis würde beschnitten, es | |
wurde gar der Vergleich zur weiblichen Genitalverstümmelung, also dem | |
Herausschneiden der Klitoris, gezogen. | |
Das ist entlarvend, denn vor 100 Jahren gehörte die polemische Verwechslung | |
von Be- und Abschneiden, die drohende Verweiblichung und der effeminierte | |
Jude zum Kern des Antisemitismus. Sicher, wer sich gegen die Beschneidung | |
wendet, ist nicht per se ein Antisemit. (Ich schreibe das, denn hierzulande | |
gilt es ja als schlimmer, jemanden einen Antisemiten zu nennen als einer zu | |
sein.) Es gibt gute Gründe, gegen die Beschneidung zu sein. | |
Die Fantasie, Muslime und Juden täten etwas Ungehöriges, aber ist tief | |
verankert im europäischen Bewusstsein. Das Bedürfnis, sich in „fremder | |
Männer Hosen“ (Navid Kermani) zu versenken, um jenes Andere sichtbar zu | |
machen, kommt daher. Die Geschichte des europäischen Antisemitismus zeigt | |
die Attacke auf sichtbare Symbole – Gotteshäuser, Rituale, Kopfbedeckungen | |
– als Muster. Als Tradition. | |
Wie tief die geht, zeigt sich, wenn man den Blick von Europa löst und auf | |
die USA schaut. Dort ist die Mehrheit der christlichen Männer beschnitten – | |
der Eingriff eine Sache des Geschmacks. Eine persönliche Entscheidung. | |
Nichts, was ein Kollektiv brandmarkt. | |
12 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Sonja Vogel | |
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