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# taz.de -- Neue Eskalationsstufe in Istanbul: Polizei attackiert Ärzte
> Den ganzen Tag über liefern sich in Istanbul tausende Demonstranten
> Auseinandersetzungen mit der Polizei. Und zum ersten Mal betreten
> Erdogan-Anhänger den Protestort.
Bild: Die Polizei während der kleineren und mittleren Ausschreitungen am Sonnt…
ISTANBUL taz | Am Sonntag herrscht auf dem Taksimplatz nach dem
[1][nächtlichen Großangriff] eine gespenstische Leere. Die Polizei hat den
Platz abgesperrt, nur Journalisten dürfen durch. Über den Platz
patrouillieren Mitglieder der Sonderkommandos, an schattigen Eck sitzt ein
Dutzend Männer auf Plastikstühlen und trinken Tee. Die meisten tragen zwar
zivil, dennoch wirkt das hier wie der Feldherrenhügel. So führen sich
Besatzer auf.
Noch am frühen Nachmittag sind [2][Müllwagen] damit beschäftigt, die
Hinterlassenschaften der Parkbesetzer wegzuräumen. Auch die Bagger sind
noch nicht damit fertig, die Reste der Barrikaden abzutransportieren. Umso
mehr hat man sich beeilt, alle [3][Wandparolen und Graffiti] rund um den
Park zu übertünchen. Selbst die mit Sendemasten bestückten Busse der
Telekommunikationsfirmen, die rund um den Park abgestellt waren, sind
notdürftig überstrichen. Es ist, als wolle jemand sagen: [4][Es ist nichts
passiert].
Zum Gezi-Park durchzukommen ist schwer. Auf Bänken sitzen Polizisten, die
harsch reagieren, wenn man dem Park zu sehr nähert. Nur einer ist
gesprächig: „Die Terroristen, die diesen Platz besetzt hatten, haben alles
so verdreckt, Sie können sich das nicht vorstellen“ sagt der schnauzbärtige
Mittvierziger mit fettglänzendem Gesicht feist grinsend. Er wirkt wie der
Bösewicht aus einem türkischen B-Movie der siebziger Jahre, ist aber echt.
„Wir haben alles weggeräumt und mit Wasser durchgespült, dahinten werden
gerade Blumen gepflanzt. Sie werden sehen, das hier wird ein wunderschöner
Park werden.“
Die Istanbulerinnen und Istanbuler, die [5][bis in den frühen Morgen] trotz
Polizeigewalt versuchten, zum Taksimplatz durchzukommen, nehmen nun in
kleineren und mittleren Gruppen einen erneuten Anlauf. Für 16 Uhr ist dort
eine Kundgebung angekündigt.
## Taksim ist natürlich nicht überall
Dass der Aufruf dazu schon am Samstagnachmittag erfolgte, als der Gezi-Park
noch nicht geräumt war, hält sie nicht ab. Sie skandieren zwar immer wieder
„Taksim ist überall, Widerstand ist überall“, aber Taksim ist natürlich
nicht überall. Taksim ist Taksim, und da wollen sie hin. Im Laufe des
Nachmittags gibt es rund um den Platz zahlreiche Auseinandersetzungen mit
der Polizei. Besonders heftig geht es diesmal auf der Einkaufsstraße
Istiklal zu.
Eine Gruppe von etwa tausend Demonstranten – so bunt zusammengewürfelt wie
die gesamte Protestbewegung, aber vereint in der Gegnerschaft zu
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan – versucht auf Höhe des Gebäudes des
türkischen Staatsfernsehens zum Taksim-Platz durchzukommen.
Von einer Verbindungsgasse zur Istiklal aus schießen Polizisten
Lärmgranaten und immer wieder Gasgranaten, die von den Demonstranten
zurückgeworfen werden. Dann kommt vom Taksimplatz eine Gruppe von
Polizisten mit Gasgewehren und Knüppeln – viele davon in Zivil – und treibt
die Leute hinunter zum Tarlabaşı-Boulevard, einer mehrspurigen Straße, die
zum Goldenen Horn hinunterführt.
Kaum ist die Polizei verschwunden, drängt die Menge an diese Ecke zurück.
Einmal gelingt es den Demonstranten, am Tarlabaşı-Boulevard eine Barrikade
zu errichten, die sie aber bald aufgeben müssen. Später errichten sie noch
eine Barrikade, aber sie ist zu schwach für die Wasserwerfer. So geht es
den ganzen Nachmittag lang.
## Pfeffergaskartuschen als Geschoss
Polizisten schießen wie gewohnt große Mengen Pfeffergas auf die Menschen.
Sie zielen auf Körperhöhe. Und geschossen wird nicht nur mit Gas. Einmal
bleibt ein Einsatzwagen der Polizei an einer Gruppe von vier Menschen
stehen. Aus dem Wagen richtet ein Polizist ein Gummigeschoss aus drei
Metern Entfernung auf eine Frau und drückt ab. Die Frau bricht schreiend
zusammen.
Aus etlichen Stadtteilen wird von Auseinandersetzungen berichtet. Aus
Beşiktaş machen sich einige tausend Menschen auf dem Weg zum Taksimplatz,
in Şişli und Kurtuluş wird gekämpft, und auch von der anatolischen Seite
versuchen Menschen [6][wie in der Nacht zuvor über die Brücke zu kommen].
Aus Nişantaşı heißt es, Polizisten hätten einen armenischen Friedhof
verwüstet.
Bestätigen lässt sich das zur Stunde nicht. Denn während Stadtbusse nicht
nur für den Transport von Polizisten genutzt werden, sondern auch dafür, um
Anhänger von Erdogans AKP zu dessen Kundgebung am westlichen Stadtrand zu
transportieren, ist der übrige öffentliche Verkehr eingestellt.
Derweil holt die Erdogan-Regierung zum Racheschlag aus: Nachdem bei der
Räumung des Platzes schon [7][die meisten Hotels am Gezi-Park], die den
Demonstranten Zuflucht geboten hatten, von Polizeieinheiten attackiert
wurden, sind nun die Ärzte dran. Das Gesundheitsministerium will gegen alle
ermitteln, die Verletzten geholfen haben. Meldungen machen die Runde, dass
der AKP wohlgesinnte Unternehmer Mitarbeiter entlassen, die sich an den
Protesten beteiligt haben.
Und Mitglieder von Çarşı, die Ultras des Fußballclubs Beşiktaş, die währ…
der Straßenschlachten festgenommen wurden, sollen wegen Bildung einer
kriminellen Vereinigung angeklagt werden. Erdogans Rede nach zu urteilen,
dürfte das erst der Anfang sein. [8][Wie viel Angst diese Regierung
trotzdem hat], zeigt eine Randnotiz von der AKP-Kundgebung: Nicht nur, dass
dort Fahnen drei großen Istanbuler Fußballklubs sowie von Çarşı gehisst
werden, der Moderator der Veranstaltung weist von der Bühne auch noch
ausdrücklich darauf hin. Die Botschaft: Das Volk steht hinter uns. Und zur
Not helfen wir eben etwas nach.
Als die Dunkelheit anbricht, betreten etwa 200 Erdogan-Anhänger den
Tarlabaşı-Boulevard, dort wo die Demonstranten am Nachmittag die Barrikaden
zu errichten versuchten. In der Nähe, im Stadtteil Kasımpaşa, ist Erdogan
aufgewachsen. Seine Parteigänger greifen einige Demonstranten an, die
Polizei direkt daneben handelt nicht.
16 Jun 2013
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## AUTOREN
Deniz Yücel
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