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# taz.de -- Psychologin über #Aufschrei: „Sexismus ist übrigens erforscht“
> Die meisten Frauen schätzen sich optimistisch falsch ein. Sie
> unterschätzen ihre Furcht vor negativer Bewertung, sagt die Psychologin
> Charlotte Diehl.
Bild: Werder Bremen hat das Problem erkannt. Immerhin.
taz: Frau Diehl, müssen wir Joachim Gauck für seinen im Spiegel-Interview
offengelegten Sexismus dankbar sein?
Charlotte Diehl: Irgendwie schon. Es ist wichtig, dass die Debatte nicht
abbricht. Und Herr Gauck hat dafür gesorgt, dass sexuelle Belästigung in
Deutschland wieder ganz oben auf der Agenda steht.
Viele könnten sich von seinem Versuch, Sexismus als läppische Angelegenheit
abzuwerten, aber auch bestätigt fühlen.
Sicher, aber sein Wort blieb ja nicht unwidersprochen, es blieb ja nicht
stehen. Und als er 33 Frauen am 7. März den Bundesverdienstorden verlieh,
sagte er folgende Sätze: „Auch in unserer Gesellschaft, die uns allen so
entwickelt und reif erscheint, gibt es noch Benachteiligung, auch
Diskriminierung und alltäglichen Sexismus.“ Gauck rudert also zurück und
erkennt die Realität jetzt an. Zumindest wenn er sich öffentlich äußern
muss.
Sie kritisieren, dass wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Sexismus
viel zu kurz kommen in der Diskussion.
Es ist irritierend, wie sehr die Politik und die Medien sexuelle
Belästigung privatisieren. Frauen werden immer nur gefragt, ob ihnen schon
mal etwas passiert sei, wie sie reagieren würden im Fall des Falles und ob
sie wirklich nie mehr flirten wollten. Dabei wäre es hilfreich, zum
Beispiel die Erkenntnisse einer vom Familienministerium in Auftrag
gegebenen Studie von 2004 zu berücksichtigen. Die besagt, dass 58,2 Prozent
aller Frauen sexuelle Belästigung erlebt haben. Brüderle ist also kein
Einzelfall.
Trotzdem scheinen Frauen auf diese Übergriffe unvorbereitet.
Leider. In einer experimentellen Studie von 2009 wurden Studentinnen
befragt, wie sie sich verhalten würden, wenn ein Mitstudent ihnen in einem
experimentellen Computerchat wiederholt sexuell belästigende Bemerkungen
zusendet. Etwa: „Bei deinem Anblick wird meine Hose mir echt zu eng.“ Zwei
Drittel der Studentinnen sagten, sie würden den Chat abbrechen. In der
realen Situation tat dies aber nur eine von 78 Teilnehmerinnen, alle
anderen ließen die wiederholten Belästigungen bis zum Ende über sich
ergehen. Die Mehrheit der Frauen schätzt sich optimistisch falsch ein.
Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?
Ein Faktor ist sicher, dass Frauen, heute, keine Feministinnen sein wollen.
Also versuchen sie, sich unfeministisch zu verhalten. Außerdem müssen sie
damit rechnen, abgewertet zu werden, sobald sie sich wehren. Auch das ist
untersucht: In der Regel werden Frauen, die sich wegen sexueller
Belästigung oder sexistischer Diskriminierung beschweren, als
Querulantinnen abqualifiziert. Ihre Duldsamkeit ist also durchaus
verständlich.
Wirklich? Was ist denn so schlimm daran, nicht everyone’s darling zu sein?
Sind die Frauen heute harmoniebedürftiger als, sagen wir, die Generation,
die zwischen 1960 und 1970 geboren ist?
Das kann man so nicht sagen. Aber eine Rolle spielt sicher, dass Frauen
heute vielfach mit einem weniger kritischen Weltbild aufwachsen, einfach
von der Chancengleichheit zwischen Mann und Frau ausgehen. Sie bekommen
häufig vorgehalten, dass Frauen noch zusätzlich gefördert werden. Womöglich
ist die sexuelle Belästigung heute auch etwas subtiler. Und: In den 70ern
entstand gerade die zweite Frauenbewegung. Das war etwas Neues,
Aufregendes. Heute werden Frauen, die sexistisches Verhalten kritisieren,
vielfach hiermit konfrontiert: Es hat sich doch schon so viel getan, und
ihr beschwert euch immer noch?
Ja nun. Die Mitte der Gesellschaft mag es doch nie, wenn Personen gegen
Regeln verstoßen. Früher nicht, heute nicht.
Hinzu kommt aber, dass das überschätzte Selbstbewusstsein die Frauen in
einer Sicherheit wiegt: Ich werde mich sicher wehren. Mehr Gedanken machen
sie sich häufig nicht. Kommen sie dann aber in die Situation, sind sie auf
ihre Furcht vor negativen Konsequenzen nicht vorbereitet.
Bei Sexismus sprechen alle von Frauen. Wo bleibt die Frage nach den Männern
und ihrem Sichaufführen, das diese Übergriffe opportun macht?
Natürlich ist es auch und vor allem eine Männerfrage. Aber die
Umetikettierung ist eben Teil der bei Sexismus immer anzutreffenden
Schuldumkehr: Die Frauen werden zum Thema gemacht und sind damit schuld an
dem Problem.
Die aktuelle Debatte dreht sich ja vor allem um alte Männer. Wird der
Altersunterschied überschätzt?
Ja. Denn die meisten sexuellen Belästigungen finden zwischen hierarchisch
gleichgestellten Männern und Frauen statt. Sexismus ist etwa für den
männlichen Kollegen ein beliebtes Mittel, mit dem Konkurrenzdruck umzugehen
und Hierarchien herzustellen. So etabliert er sich unter Gleichen als der
Ranghöhere. Die Medien aber stürzen sich lieber auf spektakuläre Fälle, bei
denen prominente Männer, also solche mit Macht, im Spiel sind.
Die Verteidiger von Brüderle sehen häufig den Mann als Opfer, die Frau
hingegen geriere sich nur als solches. Warum funktioniert das Opferargument
bei Frauen noch immer als Totschlagargument, indessen es in Verbindung mit
dem Mittelschichtmann dessen Entlastung dient?
Auch das hat etwas mit der Medienlogik zu tun, die wir zu einem gewissen
Teil übernommen haben. Männer als Opfer sind etwas Neues, Ungewohntes, das
wird positiv besetzt. Entsprechend gern werden solche Fälle thematisiert.
Auch in der Wissenschaft nimmt die Erforschung von männlichen Opfern
sexueller Gewalt zu. Frauen als Opfer, das kennt man schon, da beginnt das
große Gähnen.
Werden Männer denn zunehmend Opfer von sexueller Belästigung?
Nein. Etwa 30 bis 50 Prozent der berufstätigen Frauen sind von sexueller
Belästigung betroffen. Und etwa 10 Prozent Männer. Und vergessen wir auch
nicht: Diese 10 Prozent werden zur Hälfte von Männern belästigt. In diesem
Feld sind Frauen als Täterinnen also recht selten.
10 Mar 2013
## AUTOREN
Ines Kappert
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Sexismus
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