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# taz.de -- Sexismus in Deutschland und Italien: Brüderle d’Italia
> Sind Brüderle und Berlusconi Brüder im Geiste? Was die aktuelle
> Sexismus-Debatte über das deutsch-italienische Verhältnis erzählt.
Bild: Rainer Berlusconi? Oder doch eher Silvio Brüderle?
Wenn sich die Deutschen nicht trauen, muss es eben ein Italiener sagen:
Steinbrück hatte recht mit seiner Clowns-Aussage; und Gauck hatte recht mit
seiner Kritik am deutschen „Tugendfuror“ in der Causa Brüderle. Zumindest
dann, wenn ich mich geistig in mein Heimatland zurückversetze: Hier würden
ein paar abgeschmackte Anzüglichkeiten eines Politikers niemals für
Aufregung sorgen. Sie sind alltäglich.
Nach 20 Jahren TV-Titten, obszönen Anspielungen und geilen Witzchen, für
die sich unser Führer Berlusconi auch noch vor der ganzen Welt gerühmt hat,
kann es die italienische Frau nicht einfach ihren nordischen Schwestern
nachmachen und Worte wie „Sexismus“ und Diskriminierung“ in den Mund
nehmen.
Auch die [1][italienische Wikipedia] sieht das so, wenn sie das primäre
weibliche Geschlechtsorgan gut katholisch definiert: „Die Vagina ist eine
Öffnung, die den Penis während des Koitus aufnimmt.“ Wenigstens das ist
also geklärt.
## Dolce-Vita-Gockeltum
Schauen wir aber noch mal genauer hin, was uns der deutsche Sexismus-Streit
über das deutsch-italienische Verhältnis sagt, dieses ewige Hin- und Her
von Liebe und Hass, in dem ihr uns Dolce-Vita-Gockeltum vorwerft, während
wir italienischen Männer uns für die größten Liebhaber des Erdballs halten
– eure Frauen, liebe Deutsche, sehen das übrigens genauso.
Als der Fall Brüderle richtig abging, saß ich mit Freunden aus Italien in
einem Berliner Café. Ich las ihnen den inzwischen berüchtigten
Stern-Artikel von Laura Himmelreich vor. Das Urteil meiner Freunde über den
FDP-Bundestagschef ist eindeutig und einhellig: „Was für ein Dilettant!“
Auch als ich ihnen erklärte, worum es sich genau bei einem „Dirndl“
handelt, lassen sie jedes kulturelle Einfühlungsvermögen vermissen: „Was
soll an diesem schrecklichen Kleidungsstück erotisch sein?“
Die italienischen Zeitungen nahmen in den Tagen darauf genau diese Linie
auf. Sie machten sich auf die Suche nach attraktiven deutschen
Politikerinnen und fragten Brüderle: „Schau mal, wer so um dich rum ist –
und du denkst an Dildo-Dirndl-Dirdel, oder wie man dieses Ungetüm
ausspricht?“
Die Berlusconi-nahe Zeitung Libero beschwerte sich natürlich auch über die
deutsche Heuchelei in Hinblick auf die Bunga-Bunga-Affäre. Wie dumm!
Zwischen Brü. und Ber. liegen Lichtjahre! Der eine träumt von unter
bajuwarischem Leinen verborgenen Rundungen ihm ausgelieferter
Mediensklavinnen; der andere hält sich tatsächlich einen Harem, mit
Dutzenden von „Freiwilligen“, die sich als Politessen, Krankenschwestern
und Ordensfrauen kostümieren.
Ein Heer von Pornodarstellerinnen, die er seine „Fans“ nennt; und sich
gleichzeitig überhaupt nicht schämt, öffentlich zu sagen, dass er sie
bezahlt, und zwar „gepfeffert“: „Ich mache das, weil ich ein guter Mensch
bin“.
## 90-60-90
Beim Berlusconi-Bunga-Bunga geht es auch viel präziser, sozusagen deutscher
zu als beim FDP-Brüderle, was vielleicht den Niedergang der einstigen
Vorzeigepartei des berühmten deutschen Mittelstands erklärt. 90-60-90 ist
der Standard, basta! Nichts mit „auch ausfüllen“ (Stern). Bei Super-Silvio
hätten Sie, Frau Himmelreich, also keine Chance – nehmen Sie’s ihm nicht
übel. Das ist einfach so in Italien: Wenn die Maße nicht exakt stimmen,
würde kein Politiker einen wie auch immer gearteten Annäherungsversuch in
der Öffentlichkeit wagen – es sei denn, es handelt sich um seine Ehefrau.
Die ganze Halbinsel würde ihn auslachen.
Denn das Konzept ist zu klar, und wir werden von Kindesbeinen darauf
getrimmt: Wenn du reich bist, kannst du dir eine Barbie kaufen, eine Marke,
nicht irgendeine nachgemachte Puppe, so nett und intelligent sie auch sein
mag. Wir bestehen auf dem Original. Denn wenn du es anders machst, steht
immer der Verdacht im Raum, dass du vielleicht eher auf Big Jim stehst, und
damit verstößt du gegen das oberste Bunga-Bunga-Gesetz: „Lieber eine schöne
Frau kaufen als eine Schwuchtel sein“.
Zurück zu den italienischen Freunden. Als ich ihnen Bilder von Brüderle
zeige, sind sie geschockt. „Mein Gott, ist der hässlich. Der muss sich aber
dringend generalüberholen lassen.“ Es ist eben nicht so, dass wir Italiener
denken, Macht allein reiche aus. Nein, um eine schöne Frau zu erobern,
braucht es schon auch ein wenig Stil und vor allem Liebe zu sich selbst.
Man muss was aus sich machen, mit den richtigen Anzügen, mit Besuchen im
Solarium und beim Chirurgen oder wenigstens mit ausreichend Make-up.
Und da gibt es einen weiteren Unterschied zwischen den beiden B.s. Brüderle
sah eine besondere Nähe zwischen Politikern und Journalisten, am Ende seien
sie „alle nur Menschen“ (Stern). Eine rührend-treuherzig-deutsche Aussage.
Für Berlusconi sind alle Journalisten Kommunisten, also das Gegenteil von
Menschen – abgesehen von denen natürlich, die für sein Medienimperium
arbeiten.
Journalisten sind in den Worten des „Cavaliere“ hässlich, sie stinken und
bringen zu viel auf die Waage, das Gegenteil von „Bella Figura“. Und
umgekehrt hätte es gar nichts genutzt, wenn Frau Himmelreich Berlusconi
aufgefordert hätte, auf einer „professionellen“ (Stern) Ebene zu bleiben.
Denn letztlich leben alle Journalisten in Italien von B. – die einen, weil
er sie bezahlt, und die anderen, weil sie gegen ihn schreiben können. Das
sind B.s eigene Worte. Er ist ja nicht blöd, oh nein: Das ist er nicht.
Wie die Sache mit Brüderle dann ausging, rührt meine italienischen Freunde.
„Der arme Kerl, erst wird er in sein einsames Bett verfrachtet, und nun
weiß auch noch die ganze Welt, dass er bei Frauen nicht ankommt.“
Das jemand anderes in der Sache das Opfer sein könnte, das kommt ihnen
nicht im entferntesten in den Sinn.
Übersetzung aus dem Italienischen: Ambros Waibel
12 Mar 2013
## LINKS
[1] http://it.wikipedia.org
## AUTOREN
Riccardo Valsecchi
## TAGS
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