# taz.de -- Zum Tod von John le Carré: Hochstapler vom Dienst | |
> Der Schriftsteller machte die Abgründe britischer Geheimdiensttätigkeit | |
> zu Bestsellern. Doch auch Agenten wussten, was sie an ihm hatten. | |
Bild: Intelligent und aufklärend: John le Carré 1974 während eines Aufenthal… | |
Wenn ein Geheimdienstler sagt, dass alle Geheimdienstler lügen, ist diese | |
Aussage wahr? Das uralte Lügner-Paradoxon der klassischen Philosophie | |
charakterisiert Leben und Werk des britischen Schriftstellers John le | |
Carré, der jetzt im Alter von 89 Jahren gestorben ist. Kollegen aus aller | |
Welt würdigen den Autor berühmter Agententhriller als Chronisten des 20. | |
Jahrhunderts, dessen Romane einzigartige Einblicke [1][in die verborgene | |
Schattenwelt der Geheimdienste] gewähren – im Kalten Krieg vor allem, aber | |
auch bis in die Gegenwart. Nobelpreisverdächtig war le Carré nie, aber | |
Millionen Fans haben sein zynisches Weltbild, in dem es keine Guten gibt, | |
zur Wahrheit erklärt. | |
Ein großes Missverständnis, wenn man ihm selbst glaubt. Über seinen ersten | |
Erfolg „The Spy Who Came In From The Cold“ sagte er einst: „Wäre es wahr, | |
wäre es nie veröffentlicht worden, ich war ja noch im Dienst. Meine | |
Dienststelle ließ es zu, weil es die Wahrheit nicht wiedergab und keine | |
Geheimnisse verriet.“ Der Klassiker aus dem Jahr 1963 entstand während le | |
Carrés Stationierung in Deutschland als Mitarbeiter des britischen | |
Auslandsgeheimdienstes. Die Geschichte behandelt doppelt- und dreifachem | |
Verrat im geteilten Berlin kurz nach dem Mauerbau, wo Wahrheit nicht nur | |
nicht zählt, sondern nicht existieren kann: wenn man sich als Doppelagent | |
ausgeben muss, ohne es zu sein, und es dann wird, indem man damit | |
aufzuhören versucht, ist wahrhaftiges Verhalten nicht mehr möglich. Daran | |
zerbrechen Menschen, und niemand hat dieses Zerbrechen so meisterhaft in | |
Szene gesetzt wie John le Carré. | |
Seine über fünf Jahrzehnte gepflegte Romanfigur George Smiley als | |
unscheinbarer, duldsamer, aber eigensinniger Agentenführer entstand als | |
Gegenentwurf zu James Bond, dem implausiblen Superhelden des Agentenromans | |
der 1950er Jahre und des Trashkinos seitdem. Bond ist Glamour und | |
Abenteuer, Smiley ist Verdecktheit und Tragik. Bei James Bond betrauert die | |
Welt den Tod seiner Schauspieler, bei Smiley den Tod seines Erfinders. | |
Alle Literatur ist Erfinden, aber bei John le Carré ist Selbsterfinden | |
zentral. Was an ihm war eigentlich echt? In Wirklichkeit hieß der 1931 | |
Geborene David Cornwell. Zum Geheimdienst stieß er nach dem Zweiten | |
Weltkrieg als Student. Er diente im Österreich, später wurde er | |
Deutschlehrer im englischen Eliteinternat Eton, dann britischer Diplomat in | |
Bonn, offiziell um in Deutschland für den britischen EWG-Beitritt zu | |
werben, tatsächlich erneut als Geheimdienstler. Den „Spion, der aus der | |
Kälte kam“ schrieb er, ohne im Osten gewesen zu sein. Manche warfen ihm | |
später vor, der Roman sei eine vom Geheimdienst autorisierte bewusste | |
Verdrehung der Realität gewesen. Aber wo ist die Realität, wenn es nur | |
Verdrehung gibt? | |
Als Bestsellerautor quittierte le Carré den diplomatischen Dienst. Verließ | |
er auch den Geheimdienst? Geheimnisträger bleibt man sein Leben lang. Über | |
seine Geheimdienstkarriere hat er nie Klartext geredet. Le Carré | |
entwickelte sich im hohen Alter zum scharfzüngigen Kritiker des britischen | |
Establishments, dem er [2][Lug und Trug vorwarf bis hin zum Brexit.] War | |
dies Kritik von außen oder von innen? | |
Dass der junge Cornwell Geheimdienstler wurde, war keineswegs | |
außergewöhnlich. In der damaligen britischen Klassengesellschaft boten die | |
Geheimdienste Außenseitern die beste Aufstiegsmöglichkeit in eine | |
Wissenelite. David Cornwell war der geborene Außenseiter, sein Vater Ronnie | |
Cornwell war ein verurteilter Bankrotteur am Rande des organisierten | |
Verbrechens, ein typischer Londoner Aufschneidertypus, wie ihn diese | |
Weltstadt immer wieder hervorbringt – [3][Figuren wie Boris Johnson] sind | |
John le Carré vertraut und daher suspekt. | |
Geboren 1931 im südenglischen Poole, lernte er von seinem Vater – die | |
Mutter war früh ausgezogen – die Tricks des Überlebens, die er für den | |
natürlichen menschlichen Umgang unter Erwachsenen hielt. Auf ein Internat | |
geschickt, weil sein Vater im Gefängnis saß, musste er erst in eine neue | |
Rolle schlüpfen, um dazuzugehören, mit erfundenem Akzent, Tonfall und | |
Familienhintergrund. Er brachte sich das Werkzeug des Spions bei, bevor er | |
einer wurde. | |
Die Welt, in der der Agent Cornwell den Autor le Carré erfand, ist längst | |
versunken. Anfang der 1960er Jahre lag der Zweite Weltkrieg nur kurz | |
zurück. Ältere Erwachsene waren Kriegsveteranen. Das Empire war am | |
Verglühen, Kubakrise und Berliner Mauerbau ließen den Kalten Krieg als | |
Vorbote eines Dritten Weltkriegs mit Atomtod erscheinen. Und ausgerechnet | |
in diesen Jahren wurde ein britischer Geheimdienstverantwortlicher nach dem | |
anderen als Sowjetagent enttarnt, oft aus alten Weltkriegsloyalitäten her. | |
Das war das Setting für le Carrés Erforschung menschlicher Abgründe. | |
## Er galt in England als uncool | |
Denn in Großbritannien – ähnlich wie in den USA, der einstigen Sowjetunion | |
und Israel und auch einst in der DDR, aber nicht in der alten | |
Bundesrepublik – sahen und sehen sich die Geheimdienste als Hüter der | |
Nation, sie durchschauen den Lug und Trug des Politalltags. Ihre Tätigkeit | |
heißt auf Deutsch „Aufklärung“ und auf Englisch „Intelligence“, zwei … | |
die ansonsten für autonomes Denken stehen – der Geheimdienst als Hirn des | |
Staates. | |
John le Carré wurde immer mit diesem Doppelsinn gelesen: intelligent und | |
aufklärend, zugleich ein Enthüller über angebliche Machenschaften der | |
Schattenwelt. Dass diese das immer abstreitet, gehört zum Geschäft, wobei | |
umgekehrt nichts dadurch wahr wird, dass ein Lügner es dementiert. „Ich | |
erfinde Versionen von mir selbst, nie die Wirklichkeit, falls sie überhaupt | |
existiert“, schrieb le Carré einmal in einem autobiografischen Essay. Er | |
will auch einmal einem Mann vorgestellt worden sein, der einer seiner | |
eigenen Romanfiguren so perfekt ähnelte, dass es ihm gruselte. | |
Lange galt le Carré in England als uncool, so eine Art englischer Peter | |
Scholl-Latour, aber ehrlicher, weil er offen zugibt, dass er sich alles | |
ausgedacht hat. Verehrer hatte er vor allem in den USA. Im 21. Jahrhundert | |
trieb ihm die verbreitete Skepsis über Lügen der Regierenden auch in der | |
Heimat neue Leser zu. 1998 ließ sich der mittlerweile weltberühmte le Carré | |
vom damaligen britischen Auslandsgeheimdienstchef, der als Kind dasselbe | |
Internat besucht hatte wie er, zum privaten Essen einladen – in einer Zeit, | |
in der nicht einmal die Identität des Auslandsgeheimdienstchefs offiziell | |
bestätigt werden durfte. Die Spione wussten, was sie an dem Multimillionär | |
mit seinen Bestsellern haben, vor allem wenn ihr Inhalt nicht stimmt. Der | |
bemängelte zugleich, dass die Geheimdienste so viele Hochstapler anzögen. | |
Vielleicht verstanden sich beide deshalb so gut. | |
14 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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