# taz.de -- Weltwirtschaftsforum in Davos: Gaucks Mahnung an Osteuropa | |
> Die Flüchtlingskrise ist auch bei den Mächtigen in Davos das Topthema. | |
> Der Bundespräsident nutzt seine Bühne dort. | |
Bild: Soll Europa zerbrechen? „Niemand kann das wollen“, sagt Joachim Gauck. | |
DAVOS dpa | Die Flüchtlingskrise wühlt die Menschen auf, und die Welt | |
blickt auf Deutschland. Vom Schweizer Alpenkurort Davos aus ist dieser | |
Blick besonders sorgenvoll. Denn hier sind die ökonomisch Einflussreichen | |
versammelt, und für sie ist nach einer Umfrage unter 750 Managern und | |
Wissenschaftlern eine weitere Zunahme der Massenflucht das | |
wahrscheinlichste Risiko für die Weltwirtschaft und die politische | |
Stabilität. | |
Bundespräsident Joachim Gauck kann die Mächtigen nicht wirklich beruhigen, | |
und er will das auch nicht. Keine andere Rede wurde am Mittwoch, dem | |
Eröffnungstag des Weltwirtschaftsforums, mit so viel Spannung erwartet wie | |
die von Gauck – auch nicht die von US-Vizepräsident Joe Biden ein paar | |
Stunden später. | |
Gauck nutzt die Gelegenheit und liest vor allem den Partnern in der | |
Europäischen Union die Leviten. Wollen wir wirklich, dass Europa | |
zusammenbricht, fragt er – gar nicht rhetorisch, sondern bitterernst. | |
„Niemand, wirklich niemand kann das wollen.“ | |
Und der Mann aus der ehemaligen DDR nimmt sich vor allem die | |
mittelosteuropäischen Länder vor, die bisher jede Solidarität mit | |
Deutschland in der Flüchtlingskrise verweigern. Er könne, so Gauck, „nur | |
schwer verstehen“, warum ausgerechnet diese Länder Solidarität mit | |
Verfolgten verweigerten, wo sie doch selbst Solidarität erfahren haben. | |
Seine klare, teils ärgerlich klingende Mahnung an europäische Partner, die | |
Bundesrepublik nicht im Regen stehen zu lassen, dürfte für jede Menge | |
Gesprächsstoff in den kommenden Davoser Politikrunden gesorgt haben. Ebenso | |
seine Forderung nach Begrenzungsstrategien im Umgang mit dem | |
Flüchtlingsandrang und seine Warnung vor eine „Re-Nationalisierung“ in | |
Europa. | |
## Merkel hatte dankend abgelehnt | |
Viele WEF-Teilnehmer hatten sich beim Thema Flüchtlingspolitik Kanzlerin | |
Angela Merkel als Hauptrednerin gewünscht. Mit Enttäuschung nahm man | |
zunächst zur Kenntnis, dass die vom Time-Magazin zur „Person des Jahres“ | |
2015 gekürte, mutmaßlich einflussreichste Politikerin zumindest Europas | |
bereits im November die Einladung von WEF-Chef Klaus Schwab dankend | |
abgelehnt hatte. | |
Aber Gauck bleibt bei seinem Auftritt in Davos nichts schuldig. Nach fast | |
vier Jahren im Amt und ein gutes Jahr vor der nächsten Wahl eines | |
Bundespräsidenten weiß er, dass der Flüchtlingszuzug sein großes Thema | |
bleiben wird. Und so nimmt er sich auch die hektische, von Verunsicherung | |
und Ängsten, aber auch von demagogischen Zuspitzungen geprägte Debatte in | |
Deutschland vor. | |
Ja, es gehört zu verantwortungsvollem Regierungshandeln, | |
Begrenzungsstrategien zu entwickeln, sagt er. Eine solche Strategie könne | |
moralisch und politisch geboten sein. Ein halbes Dutzend Mal spricht Gauck | |
von „Begrenzung“ oder „Begrenzungsstrategie“. Die Kanzlerin hat das Wort | |
bisher nicht in den Mund genommen, sie spricht lieber von Reduzierung – | |
auch deshalb, damit niemand in der bayerischen CSU dies mit einer | |
„Obergrenze“ verwechselt – wie sie am Dienstag in Österreich beschlossen | |
wurde. Auch Gauck nennt das O-Wort nicht. | |
## „Recht und Ordnung“ | |
Die Rede in Davos kann auch als Forderung an die deutsche Politik gelesen | |
werden, nun endlich zu handeln. Es gebe nach den jüngsten Ereignissen in | |
deutschen Städten auch die „Furcht, dass der Staat nicht mehr immer und | |
überall imstande ist, Recht und Ordnung zu wahren“. Diese Verunsicherungen | |
und Sorgen forderten „überzeugende Antworten des demokratischen | |
Rechtsstaates“. | |
Klar macht Gauck aber auch das Grundsätzliche: Die Aufnahme Verfolgter sei | |
ein Gebot humanitärer Verantwortung. Dies sei durch die Genfer | |
Flüchtlingskonvention und in Deutschland durch das Recht auf Asyl im | |
Grundgesetz abgesichert. Die Offenheit im Sommer und Herbst 2015 sei aber | |
vor allem ein Bekenntnis gewesen „zu einem Land, dass nach seinem tiefen | |
Fall offen, solidarisch, aber nie mehr fremdenfeindlich oder gar | |
rassistisch sein will“. | |
Von Davos aus wird Deutschland wieder einmal in einer internationalen | |
Schlüsselrolle gesehen. Die großen Erwartungen von Wirtschaft und Politik | |
bringt die Financial Times am Mittwoch so auf den Punkt: Allein Deutschland | |
könne „die Spannungen in Europa zähmen“. Aber schaffen die das, fragen si… | |
viele. In deutscher Sprache ist bei Diskussionsforen und Cocktailpartys | |
Merkels wohl berühmtester Satz zu hören, gelegentlich in abgewandelter | |
Form. „So, you are German?“, fragt ein amerikanischer Reporter und fügt | |
radebrechend hinzu: „Schoffen we das?“ | |
20 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Thomas Burmeister | |
Thomas Lanig | |
## TAGS | |
Davos | |
Weltwirtschaftsforum | |
Joachim Gauck | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
Österreich | |
Österreich | |
Weltwirtschaftsforum | |
Oxfam | |
China | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Woche: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch? | |
Gauck hält Speisekarten hoch, Zschäpe macht auf armes Ding und für das | |
abendliche Stuhlkreisinferno kann der SWR nichts. | |
Kommentar Obergrenze für Flüchtlinge: Österreich tritt Lawine los | |
Die Pläne der SPÖ-Regierung stehen für ein Europa, das an seinen nationalen | |
Egoismen scheitert. Sie setzen auch Angela Merkel unter Druck. | |
Reaktionen auf Obergrenze in Österreich: Was nun? | |
Flüchtlingskoordinator Altmaier reagiert vorsichtig auf Österreichs | |
Vorstoß. Die Merkel-Kritiker in der Union freuen sich. Die Folgen sind | |
unklar. | |
Weltwirtschaftsforum in Davos: Reich werden, Flüchtlingen helfen | |
Offiziell geht es in Davos um die vierte industrielle Revolution: die | |
Digitalisierung des Lebens. Eine große Rolle spielt auch das Thema Flucht. | |
Oxfam-Studie zur sozialen Ungleichheit: Der Reichtum der Elite | |
Für einen Teil der Welt gelten andere Spielregeln, so die Hilfsorganisation | |
Oxfam. Laut einer Studie besitzen 62 Superreiche so viel wie 3,6 Milliarden | |
Arme zusammen. | |
Sommer-Davos in China: Im Reich der schwindenden Mittel | |
Auf dem Weltwirtschaftsforum in Dalian stemmt sich Chinas Führung gegen | |
eine drohende Wirtschaftskrise. Optimismus ist das Wort der Stunde. |