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# taz.de -- WM-Underdog Senegal: Die Antithese zum Tikitaka
> 2002 schaffte Senegal den Wahnsinn: Es besiegte die einstige
> Kolonialmacht und den Welt- und Europameister Frankreich. Heute spielen
> sie gegen Polen.
Bild: Die senegalesische Mannschaft bereitet sich auf das Spiel gegen Polen vor
Nach 2002 in Südkorea ist die WM in Russland die zweite Weltmeisterschaft,
an der die Löwen von Teranga teilnehmen. Heute wie damals gelten sie als
Underdogs. Heute wie damals kann man sich nicht sicher sein, was sie auf
den Platz bringen werden.
Ihre erste WM ist legendär, sie wurde es schon mit dem allerersten Spiel,
am 31. 5. 2002 in Seoul. Sie trafen auf Frankreich, amtierender Welt- und
Europameister, erster Titelanwärter vieler Experten. Barthez war da, Henry,
Trezeguet, Vieira auch. Zidane fehlte, der Oberschenkel.
Der Spielstil der heutigen Mannschaft ähnelt dem der damaligen. Senegal
spielt wieder einen sehr physischen, intensiven, dynamischen Fußball. Sie
verteidigen als Mannschaft, diszipliniert und kompakt, um dann bei
Ballbesitz in schnelle, dynamische Angriffe zu investieren. Es ist eine Art
des Konterspiels, wie Hannover 96 sie unter Slomka praktizierte. Dieser
Spielanlage haftet etwas Dramatisches an: Es kann immer etwas
Spielentscheidendes passieren, jeder Zweikampf könnte Anlass sein, den
Rhythmus des Spiels komplett zu verändern. Das liegt auch daran, dass es
offensiv keinen festgefügten Plan gibt, sondern ganz der Improvisation
verpflichtet ist.
## Platz für die Intuition
Während sich nämlich die Defensive als stabile Einheit, als solidarische
Masse präsentiert, wird vorne in aggressiven Einzelaktionen die Nische
gesucht, die der Gegner anbietet, um dann Räume zu öffnen, die Platz lassen
für die Intuition, den Ideenreichtum der Spieler. Dieser Stil ist die
Antithese zum Tikitaka.
Der 31. Mai 2002 in Seoul, es läuft die 29. Minute. Senegal war bisher die
bessere Mannschaft, Frankreich wirkt satt, lustlos. Es vertraut auf
Einzelaktionen seiner herausragenden Fußballer, und tatsächlich hat
Trezeguet bereits den Pfosten getroffen, später wird Henry noch einen Ball
an die Latte chippen.
Aber es gibt keinen Spielfluss bei Frankreich, das wissen die Senegalesen
zu verhindern: hinten bissig in den Zweikämpfen, und wann immer sie den
Ball gewinnen, spielen sie ihn so schnell wie möglich nach vorne. Es gibt
keinen ausgeklügelten Plan, wie man die Angriffe am günstigsten abschließt,
welche Schussposition die vielversprechendste ist; man baut ganz darauf,
dass Dinge passieren können, die eigentlich nicht passieren, dass das Spiel
seine Akteure dazu antreibt, und sei es nur, für einen Moment über sich
hinauszuwachsen.
Und dieser Moment, er kommt. El Hadji Diouf bekommt links außen einen
weiten Ball in den Fuß gespielt, er zieht an Frank Lebœuf vorbei, geht
runter bis zur Grundlinie, legt den Ball flach zurück auf Papa Bouba Diop.
Emmanuel Petit springt der Ball an den Fuß, Fabien Barthez rettet mit einer
Parade. Was dann passiert, ist wie die Quintessenz des Spiels: Der Ball
kullert zwischen Barthez, Petit und Diop dahin, und während die beiden
Franzosen noch kaum verstanden haben, wo genau der Ball jetzt ist, stochert
Diop den Ball im Liegen über die Linie.
## Mehr als ein Sieg
Noch heute, wenn man sich die Bilder von damals ansieht, scheint die Feier
des Tores verhalten, fast verschämt. Papa Bouba Diop trabt zur Eckfahne und
zieht sich sein Trikot aus, als käme er gerade aus einem Kraftraum, und
legt es auf den Boden; Mannschaftskameraden gruppieren sich um ihn und
tanzen, als würden sie das gerade zum ersten Mal machen, ein bisschen
hüpfen, ein bisschen Arme schwenken.
Die Kameras zoomen ins Publikum, auf senegalesische Fans, die – Hände in
den Himmel, Mund weit offen – ungläubig überrascht den Kopf nach links,
nach rechts drehen, stumme Jubelrufe auf den Lippen. Sie sehen aus, als
wären sie gerade aus einem Traum gerissen worden; dabei fängt der Traum
gerade erst an.
Denn es ist mehr als ein Sieg. Den Großteil seiner neueren Geschichte war
der Senegal von Frankreich als Kolonie unterdrückt worden, erst 1960 wurde
es unabhängig. Die Folgen dieser Zeit waren 2002 allgegenwärtig und sind es
auch heute noch. Sie spiegeln sich auch im Fußball. Nach den deutlich
einwohnerstärkeren Ländern Nigeria und Ghana ist der Senegal jene Nation,
die am meisten Spieler nach Europa exportiert; um die 70 Spieler
senegalesischer Herkunft spielen im europäischen Profifußball, knapp unter
30 davon in einer der fünf Topligen. Alle 23 Mitglieder des aktuellen
Kaders spielen im Ausland.
Das stellt die Mannschaft vor Probleme. Die großen europäischen
Turnierfavoriten – Deutschland, Spanien, England – greifen auf feste Achsen
zurück, einem Kern an Spielern, die sich aus dem Kluballtag kennen und die
Zeit hatten, sich gemeinsam feste Abläufe anzutrainieren.
## Hoffen auf Geistesblitze
Es ist auffällig, dass bei internationalen Turnieren – auch bei
Afrikameisterschaften – häufig jene Mannschaften am Ende siegen, die auf
einen solchen festen Schwerpunkt zurückgreifen können. Dahinter tritt die
individuelle Entwicklung, die beispielsweise ein Sadio Mané nach dieser
fabelhaften Saison bei Liverpool mitbringt, zurück. Der körper- und
zweikampfbetonte Spielstil, den der Senegal pflegt, könnte die Lösung sein;
die Defensive lässt sich leichter organisieren als die Offensive, also
lässt man vorne drin das Moment des Zufalls herrschen und hofft auf
Geistesblitze.
Das kann ganz bezaubernd werden, ist aber riskant. Für die Entwicklung
eines Angriffssystems fehlen die Voraussetzungen. Um den afrikanischen
Fußball, sowohl die Klubs als auch die Nationalmannschaften, erfolgreicher
aufzustellen, schlagen Experten wie Professor Abdoulaye Sakho eine
Sperrklausel einheimischer Fußballspieler vor, wie sie im Ostblock lange
Jahre praktiziert wurde; dann dürften sie erst ab einem bestimmten Alter
ins Ausland wechseln. Ein Wunschtraum. Eine solche Maßnahme würde der
moderne Fußball niemals erlauben.
2002 jedenfalls ging der Traum nahtlos weiter; nach zwei Unentschieden,
unter anderem einem furiosen 3:3 gegen Uruguay, schlägt der Senegal
Schweden im Achtelfinale, bevor er an einer überragend aufspielenden Türkei
scheitert. Noch heute spricht man von La folle epopée, der Wahnsinnssaga,
die die Mannschaft geschrieben hat.
Möglich, dass [1][die jetzige Mannschaft diesen Wahnsinn wiederholt], auch
wenn ein Sieg wie gegen Frankreich unwiederholbar bleibt. Der Wahlspruch
der Republik Senegal lautet: „Un Peuple, Un But, Une Foi“; „Ein Volk, ein
Ziel, ein Glaube“. Das „but“, es ließe sich ebenso gut mit „Tor“
übersetzen. Es klingt wie ein Versprechen.
19 Jun 2018
## LINKS
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## AUTOREN
Frederic Valin
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