# taz.de -- Vom Leben mit einer bipolaren Störung: Plötzlich ist nichts mehr … | |
> Jens Cencarka-Lisec ist Mitte 40, als er die Diagnose erhält. Nun soll er | |
> einen Teil von sich bekämpfen. Und lernt, damit umgehen. | |
Bild: Von den letzten fünf Jahren hat Jens Cencarka-Lisec etwa acht Monate in … | |
In mir herrscht Krieg. Ich habe einen inneren Feind, gegen den ich immerzu | |
kämpfe. Gegen diesen Feind schicke ich meine Heerscharen, aber die kommen | |
geschlagen zurück. Noch habe ich nur Schlachten verloren. Den Krieg darf | |
ich nicht verlieren. | |
Das Absurde aber ist: Mir ist gar nicht richtig klar, warum ich gegen | |
diesen Feind überhaupt kämpfe. Der ist doch ein Teil von mir. Zwar ein Teil | |
von mir, den ich nicht erklären kann, der auch gern den Schalter umlegt, | |
mal in die, mal in die andere Richtung – aber eben ein Teil von mir. Ich | |
muss versuchen, eine halbwegs vernünftige Koexistenz herzustellen, wenn ich | |
mit der Bipolaren Störung umgehen will. Aber befrieden kann ich den Zustand | |
nicht. Der Krieg in mir wird den Rest meines Lebens weitergehen. | |
## * * * | |
Was mit mir los ist, wurde richtig klar 2014, da war ich 44 Jahre alt. Das | |
Jahr war eine Zäsur. Ich ging mit Freunden auf eine Reise, die gründlich | |
schief ging. Geplant war ein Segeltörn von New York nach Deutschland. Schon | |
New York hat mich gestresst, die Stadt war so laut und wahnsinnig heiß. Als | |
wir dann aus New York raus gefahren sind, den Hudson hinunter, vorbei an | |
der Freiheitsstatue, habe ich den Anker eingepackt – und mir wurde | |
schlecht. Zuerst dachte ich noch: Ist ja normal, ich habe ja gerade nach | |
unten geguckt. Oder ich bin seekrank. Aber das ging nicht mehr weg. Das war | |
dann doch eine andere Nummer. | |
Mir war permanent komisch auf dieser Reise – außer, es ist gerade was | |
passiert, es waren Wale da oder irgendeine Action, wie an dem Tag, an dem | |
wir jemanden aus Seenot gerettet haben. Ansonsten habe ich in meiner Koje | |
gelegen und trübe vor mich hingestarrt. Alles war schlimm und schrecklich. | |
Die anderen haben irgendwann Angst bekommen, dass ich über die Reling | |
hüpfe, und beschlossen, dass ich nach Hause muss. Also sind wir abgebogen | |
zu den Bermudas. Von da aus bin ich dann zurückgeflogen, begleitet von | |
einem meiner Freunde. | |
Über den Sommer habe ich mich erholt, hatte in der Freien Schule, in der | |
ich damals als Geschäftsführer arbeitete, viel zu tun und dachte, mir | |
geht’s wieder gut. Bis mich die Kollegen eines Tages zum Teamgespräch | |
geladen und mir gesagt haben: So, Jens, du packst jetzt deine Sachen, gehst | |
nach Hause, lässt dich krankschreiben und kommst mindestens zwei Wochen | |
nicht wieder. | |
Ich habe gar nicht verstanden, was die meinen, was die von mir wollen. Die | |
sagten: Du bist unerträglich, ein völliger Kontrollfreak. Du bist unfassbar | |
nervig und gereizt. Okay, hab ich mir da gesagt, geh ich morgen halt mal zu | |
meiner Hausärztin. Und die hat mich dann direkt einweisen wollen. Das war | |
noch komischer, das habe ich erst recht nicht verstanden, mich aber | |
trotzdem krankschreiben lassen. | |
Also habe ich zu Hause rumgehangen, und mich mit meiner Frau so schwer | |
gestritten, so existenziell, das sie mir nach 19 Jahren Ehe mit Trennung | |
gedroht hat. Am darauf folgenden Tag bin ich völlig zusammengeklappt: Ich | |
habe nur noch geheult, ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich war tief | |
verzweifelt. Ein Freund hat mich in die Klinik gebracht, da haben sie mich | |
erst einmal zwei Wochen ruhiggestellt. | |
Dann ging die Diagnostik los, aber das ist nicht ganz einfach. Schon weil | |
die Bipolare Störung so ein breites Spektrum hat. Man kann nicht sagen: Die | |
Störung beginnt hier und endet dort. In meiner Selbsthilfegruppe erzählt | |
keiner dieselbe Geschichte, die Krankheitsverläufe sind immer anders. Bei | |
den einen geht das im Wochentakt oder sogar täglich hoch und runter, das | |
nennt man Rapid Cycling. Bei anderen baut es sich ganz langsam auf, da | |
können die Perioden anderthalb Jahre dauern. Andere fliegen ein paar Tage | |
ab, wie man das aus dem Kino kennt. | |
Bei mir war das zudem noch schwieriger zu diagnostizieren, weil ich ein | |
Hypomaniker bin. Das heißt, man merkt nicht so richtig, dass ich manisch | |
werde. Es steigert sich langsam über Wochen, manchmal Monate, und ich | |
funktioniere auch in der Manie noch ganz gut. Während schwere Maniker Haus | |
und Hof versetzen, laufe ich zur Hochform auf, bin unheimlich kreativ, | |
schaffe viel weg, fange aber auch irrsinnig viel an und bringe es nicht zu | |
Ende. | |
Ich war bei einer Reha, aber da hatten sie nicht wirklich eine Ahnung, was | |
bipolar bedeutet, und haben mich machen lassen: In den sechs Wochen habe | |
ich ein Buch gemacht, einen dicken Folianten mit Gedichten und Zeichnungen, | |
dazu noch eine ganze Serie mit anderen Arbeiten, ich hab für meine Frau | |
eine Isländer-Strickjacke gestrickt und mich nebenbei noch in eine | |
Mitpatientin verliebt, die gar nichts von mir wollte. Aber da steckte ich | |
eben schon mitten im Wahn, ohne es zu merken. Mit Anfang 20 habe ich mal | |
ein Theaterstück geschrieben und wollte das dann nicht nur inszenieren, | |
sondern auch gleich die Hauptrolle übernehmen, die Kostüme, alles. Am | |
Schluss war ich fest überzeugt: Ich bin ein großer Künstler! Ich kann | |
alles! | |
Der Wahn ist gigantisch. Plötzlich ist der Himmel offen, und ich habe das | |
Gefühl, alles schaffen zu können. Aber man kriegt dann eben auch sein Leben | |
nicht mehr geregelt, der Alltag ist einem egal. In solchen Phasen würde ich | |
am liebsten alles hinschmeißen, den Job, die Beziehung, und nur noch Kunst | |
machen. Aber das hält eben nur eine Weile an, und dann macht es puff, und | |
alles ist vorbei, und man fällt in die Depression. | |
Die Depression ist dann, als würde mir jemand Tropfen für Tropfen Blei ins | |
Hirn gießen. In letzter Konsequenz ist es wie eine Starre, aus der ich | |
nicht mehr herauskomme. Außerdem tut mir auch körperlich alles weh, der | |
ganze Körper schmerzt. Und mir ist ständig kalt, ich lege mich jeden Tag in | |
die Badewanne. In solchen Augenblicken denke ich, ich habe keine Haut mehr. | |
Und dann kommen natürlich die Suizidgedanken. Ich stand schon mal an einer | |
der meist befahrenen Bahnstrecken Europas, da kommt alle paar Minuten ein | |
Zug lang. Aber ich konnte mich nicht vor einen werfen, weil mir der | |
Lokführer leid tat. Letztes Jahr wollte ich auf die Autobahn rennen, aber | |
ich machte mir Sorgen um den Lkw-Fahrer. Tatsächlich sind es solche | |
Gedanken, die mich schon ein paarmal gerettet haben. | |
2014 in der Klinik sollte ich mein Leben aufschreiben, meine | |
Stimmungsbrüche protokollieren. Da habe ich zwei Tage drüber gesessen – und | |
dann haben wir festgestellt, dass es immer schon so war. Spätestens mit 17 | |
hatte ich die erste heftige manische Episode, gefolgt von einer schweren | |
Depression. Da erst wurde mir klar, dass über Jahre in Abständen immer | |
wieder dasselbe passierte: Auf Phasen extremer Aktivität folgte ein | |
Zusammenbruch, einmal auch mitten auf der Straße. Doch da wurde gesagt: Das | |
ist ja normal, der hat zu viel gearbeitet, und jetzt ist er halt schlapp. | |
Das hieß mal Überlastungssyndrom, später Burnout. Da macht man eine Pause, | |
vielleicht eine Therapie, und dann geht es wieder. | |
Nach acht Wochen in der Klinik stand die Diagnose fest: Bipolare Störung. | |
Seitdem werde ich mit Medikamenten eingestellt. | |
## * * * | |
In der Zeit danach war ich erst einmal sehr wütend, weil mir bewusst wurde, | |
um was es ging: Der Jens, der ich bin, wurde von allen und auch von mir | |
selbst zum Kranken erklärt. Der sollte jetzt ein Medikament wie Lithium | |
nehmen, das ihn unter eine Käseglocke verbannt, ihn gefühllos macht. | |
Vor unserem Haus steht eine Kletterrose. Ein irres Ding, das quasi | |
explodiert, wenn sie blüht. Das sind Gerüche und Farben, Wahnsinn. Wenn ich | |
unter Lithium bin, dann weiß ich nur, dass die Rose schön ist. Aber ich | |
spüre es nicht mehr. | |
Noch schlimmer: Die Medikamente produzieren einen Jens, der angeblich | |
normal ist, den ich aber gar nicht kenne. Dagegen habe ich mich lange | |
gewehrt. Ich wollte das nicht wahrhaben und habe gesagt: Leckt mich doch, | |
ich bin eben so. Geht doch selber damit um! Von angeblich normalen Menschen | |
wird doch auch nicht erwartet, anders zu sein als sie sind. Von mir aber | |
wird etwas verlangt, was ich nicht leisten kann. Was ich nur unter dem | |
Einfluss von Medikamenten leisten kann. | |
Von außen kommt ganz viel Unverständnis. Denn es gibt ein großes | |
Missverständnis zwischen den Bipolaren und ihrer Umwelt: Ich kann | |
niemandem, absolut niemandem beschreiben, wie ich mich fühle. Jemand, der | |
keine Depressionen hat, dem kann man nicht vermitteln, was eine Depression | |
ist. Ich kann umschreiben, immer neue Adjektive finden. Aber die anderen | |
können nicht wissen, wie man sich fühlt. | |
Mir ging das ja selbst so: Ich habe vorher ja auch gehört, was andere über | |
Depressionen oder die Manie berichten, ich habe Bücher gelesen. Trotzdem | |
wusste ich nicht, dass ich krank war, weil es bei mir ganz anders war. | |
Vielleicht kann man es so erklären: Ich sitze in einem Rollstuhl, nur sieht | |
ihn keiner. Ich bin wie ein Rollstuhlfahrer, der nach dem Unfall versuchen | |
muss, sein Leben im Rollstuhl zu leben, der sich damit arrangieren muss. | |
Ich hoffe, ich lerne mit dem Rollstuhl zu leben. Aber ich weiß, ich werde | |
nie wieder aus dem Rollstuhl rauskommen. | |
Bloß verlangt niemand von einem Rollstuhlfahrer, dass er aufsteht und geht. | |
Von Bipolaren wird das verlangt. Wir müssen diese mehr oder weniger | |
schrecklichen Medikamente nehmen, damit wir normal werden – was immer das | |
ist. Das heißt aber, dass ich meine innere Normalität verleugnen muss, und | |
das verletzt mich: Ich darf nicht mehr der sein, der ich eigentlich bin. | |
Ich verstehe dieses Ansinnen total, denn wir sind zeitweise schlimm | |
anstrengend. Aber ich empfinde es auch als extrem verletzend, dass ich mich | |
mit Medikamenten kastrieren soll. Dass ich ständig auf mich selbst achten | |
muss. Andere dürfen doch auch einfach sie selbst sein. | |
Schließlich habe ich doch jahrelang wie jeder andere daran geglaubt, dass | |
ich der bin, der ich bin. Jemand, der kreativ ist, der viel schafft. Ich | |
habe immer Kunst gemacht, gemalt und gebildhauert, ich war Meisterschüler | |
an der Hochschule der Künste in Berlin, ich habe ausgestellt. Wir haben in | |
der Prignitz ein Haus gekauft und ausgebaut, eine kleine Firma aufgebaut, | |
wir haben Kräutertee hergestellt und verkauft, nebenbei habe ich | |
mitgeholfen, dort in der Einöde eine freie Schule aufzubauen. Nachdem wir | |
in die Nähe von Dresden umgezogen sind, haben wir einen zweiten Hof | |
renoviert, und die Freie Schule Dresden wurde mit mir als Geschäftsführer | |
immer größer, Schulneubau inklusive. Und das alles, während wir vier Kinder | |
großgezogen haben. | |
Im Nachhinein betrachtet klingt das auch für mich irre und überfordernd, | |
aber damals war das völlig normal. Ich war so. Ich habe Sachen in meinem | |
Leben geschafft, auf die ich stolz bin. Sachen, die manch anderer nicht | |
geschafft hätte. Sachen, die ich aber eben ohne die Störung vielleicht nie | |
angegangen hätte, vielleicht nie geschafft hätte. | |
Aber jetzt soll ich etwas ganz anderes sein. Der Jens, den ich kenne, der | |
ist seit der Diagnose krank. Der Jens ist jetzt bipolar, und das geht | |
nicht. Ich soll jetzt ein anderer Jens sein, ich soll der normale Jens | |
sein. Aber dieser Jens will ich eigentlich nicht sein. | |
Es ist nur die Vernunft, die mir sagt: Versuche dieser normale Jens zu | |
sein. Denn mittlerweile habe ich verstanden und akzeptiert, dass ich die | |
Krankheit in den Griff bekommen muss, weil sie selbstzerstörerisch ist. | |
Weil mein Rücken, mein ganzer Körper die manischen Phasen auf Dauer nicht | |
mitmachen würde, weil ich meine Frau nicht verlieren will, nicht verlieren | |
kann, weil ich meine sozialen Beziehungen nicht zerstören will, weil ich | |
mich irgendwann umbringen würde. Also nehme ich meine Medikamente. | |
Das Lithium, das ich früher nehmen musste, war schrecklich. Das hat mich | |
lahmgelegt und dafür gesorgt, dass die Phasen sich zum Teil täglich | |
abgewechselt haben. Mittlerweile nehme ich ein neues Medikament, das heißt | |
Quetiapin und ist zwar sehr viel besser, aber auch das hat Nebenwirkungen. | |
Ich muss genau planen, wann ich es einnehme, weil ich manchmal eine Stunde | |
später einfach ausgeschaltet werde und einschlafe. | |
Eine andere Nebenwirkung ist, dass ich mich an fast jeden Traum erinnern | |
kann. Ich wache morgens auf und statt die Träume zu vergessen wie andere, | |
verfolgen sie mich den ganzen Tag lang. Einige sind so präsent, die muss | |
ich aufschreiben, sonst werde ich sie nicht mehr los. Letzte Nacht habe ich | |
zum Beispiel geträumt, ich bin Regaleinräumer in einem Großmarkt. Aber ich | |
mache alles falsch, was man falsch machen kann. Und jedes Mal, wenn ich | |
etwas falsch mache, wird mir nach einem komischen Punktesystem etwas vom | |
Lohn abgezogen, so dass ich am Schluss gar nichts mehr verdiene. So was ist | |
noch kein echter Albtraum, aber wenn man das dann den ganzen Tag mit sich | |
rumschleppt, ist das auch scheiße. | |
Es gibt auch richtige Albträume, wo ich nachts schreiend aufwache, weil ich | |
ermordet werde. Oft haben sie mit meiner Familie zu tun, zum Beispiel: | |
Vater fliegt ein Flugzeug. Mutter steigt auf die Tragfläche, redet die | |
ganze Zeit, bindet sich fest und stellt sich wie ein Artist vor das | |
Cockpit. Ich klammere mich an auf der Tragfläche liegende Seile und habe | |
furchtbare Höhenangst. Vater sitzt jetzt am Ende der Tragfläche und lacht. | |
Später beschimpfe ich ihn wegen seiner Ignoranz und werfe Meißner Teller | |
mit Zwiebelmuster, von denen nur der Rand etwas angeschlagen ist. | |
## * * * | |
Ich weiß, ich werde nie gesund werden. Die Bipolare Störung heißt nicht | |
umsonst Störung und nicht Krankheit, weil das suggerieren würde, sie wäre | |
heilbar. Ich bin nicht krank, ich bin so. Das ist das Problem. | |
Man kann nur versuchen, mit den Medikamenten die höchsten Spitzen und die | |
tiefsten Tiefen zu kappen. Jemand, der nicht bipolar ist, kann sich das | |
wahrscheinlich nicht vorstellen: Ich kapiere nicht, dass ich in einer | |
Notsituation stecke. Ich registriere schon, dass alles schräg ist, dass | |
Menschen auf mich seltsam reagieren, aber ich denke dann nicht daran, mir | |
helfen zu lassen. | |
Es gibt beispielsweise gemischte Episoden, in denen man gleichzeitig | |
manisch und depressiv ist. Das sind eigentlich die gefährlichsten | |
Situationen. Mitten in so einer Episode bin ich einmal losgelaufen und | |
meinte, Deutschland zu Fuß durchqueren zu müssen. Ich bin kreuz und quer | |
durch die Gegend gewandert. Von Dresden nach Leipzig, mit dem Zug nach | |
Prenzlau, von dort an die Ostsee, die ganze Küste lang und das Grüne Band, | |
also die ehemalige innerdeutsche Grenze, bis zum Brocken, durch den Südharz | |
und das Saaletal. | |
Insgesamt waren es 1.300 Kilometer in sechs Wochen, manchmal bin ich mehr | |
als 50 Kilometer am Tag gelaufen. Ich hatte so viel Druck im Kopf, so viel | |
Druck auf den Schultern, ich wusste, dass etwas Blödes passieren würde, | |
wenn ich nicht weiterlaufe. Kurz vorm Saaletal war der Druck dann so groß, | |
dass ich das Bedürfnis hatte, mich umzubringen. Dann bin ich von da aus | |
nach Bad Kösen in eine Reha-Klinik gelaufen, die ich schon kannte, damit | |
die mich auffangen. | |
Deshalb ist es wahnsinnig wichtig, dass man ein funktionierendes soziales | |
Umfeld hat. Menschen, die einen auffangen und notfalls eben einweisen. Denn | |
eine schwere Depression bedeutet: Wenn ich jetzt nicht in die Klinik komme, | |
bringe ich mich wahrscheinlich um. | |
Viele Bipolare haben aber kein funktionierendes soziales Umfeld mehr, weil | |
sie es im Wahn zerstört haben. Ich habe meine Frau, ich habe einen | |
Freundeskreis, eine Arbeit. Meine Frau und unsere beiden besten Freunde | |
haben sich schon zwei-, dreimal zusammengesetzt und mir anschließend die | |
Pistole auf die Brust gesetzt: Du musst jetzt in die Klinik. | |
Doch wird das Umfeld koabhängig von meiner Störung, vor allem meine Frau | |
natürlich. Die hat den ganzen Scheiß dann allein an der Backe, muss sich | |
nicht nur um mich kümmern, sondern auch um die Kinder, um den Hof, um | |
alles, was liegen bleibt, weil ich depressiv in der Ecke hänge oder in der | |
Klinik bin. Ihr Leben und zum Teil auch das meiner Kinder muss sich während | |
der Episoden nach mir ausrichten: Der Kranke mit seinen Höhen und Tiefen | |
bestimmt das Leben aller anderen. Dass meine Frau trotzdem bei mir bleibt, | |
ist auch der Beweis, wie sehr sie mich liebt. | |
Deswegen trage ich aber auch immer eine Schuld mit mir herum. Es sagt zwar | |
niemand zu mir: Du bist doch wieder manisch! Du bist doch wieder depressiv! | |
Aber ich hinterfrage das andauernd. Ich beobachte mich ständig selbst. Das | |
ist eine permanente unfreiwillige Selbstkontrolle. Immerzu frage ich mich: | |
Bin ich normal? Oder schon manisch? Oder depressiv? Heute, wenn ich auf | |
Arbeit einen Fehler mache, dann sage ich mir nicht: Jeder macht mal einen | |
Fehler. Stattdessen frage ich mich: War das jetzt die Krankheit? | |
Ich darf nicht einfach leben wie andere, ich muss immerzu mich selbst | |
reflektieren und jede meiner Handlungen hinterfragen. Das nervt, das ist | |
wahnsinnig anstrengend. Diese ständige Schuld werde ich nicht los. | |
Auf der anderen Seite hilft einem die Gesellschaft nicht. Es ist klar, dass | |
ich keine 40 Stunden die Woche arbeiten kann, weil mich der Stress so | |
antriggern würde, dass eine manische oder depressive Periode ausgelöst | |
werden würde. Und so ein Aufenthalt in der Psychiatrie ist kein Spaß, das | |
ist großer Scheiß. Weggesperrt zu werden, weil du dich im Ernstfall | |
umbringen könntest. | |
Also habe ich einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt. Es ist | |
klar, ich habe diese Störung. Es ist klar, dass ist eine der zehn | |
schlimmsten psychischen Störungen, die es gibt. Es ist klar, bis zu 30 | |
Prozent der Bipolaren bringen sich um. Aber ich kriege keine | |
Erwerbsminderungsrente, weil ich nicht vor 1961 geboren wurde. Das ist die | |
Begründung. Es gibt einen Stichtag, ab dem kriegt man die Rente nicht mehr. | |
Stattdessen sagen Rentenversicherung und Arbeitsamt: Wenn ich den Job, den | |
ich mache, nicht mehr machen kann, soll ich mir einen neuen suchen. Aber | |
das ist totaler Quatsch: Dieser Job ist ja gerade ein wichtiger Teil meines | |
sozialen Umfelds, das ich brauche, um mit der Störung leben zu können, weil | |
es akzeptiert, dass ich jederzeit ausfallen kann. | |
Das Amt will das nicht verstehen. Da ist man verzweifelt. Ich sage mir dann | |
selber: Steh doch einfach auf aus deinem Rollstuhl und fang an zu laufen. | |
Das ist so entwürdigend: Ich bin krank, hab diese scheiß Kiste an der | |
Backe, die Gesellschaft erwartet von mir, ihre Normen einzuhalten, aber | |
weil man es mir nicht ansieht, habe ich nichts zu erwarten. Darunter leide | |
ich sehr. | |
## * * * | |
Wenn ich in meine Familiengeschichte blicke, dann ist das alles keine | |
Überraschung: Eine Großmutter und wahrscheinlich auch ein Großvater haben | |
Selbstmord begangen. Mein Vater hat sich in Raten umgebracht mit Alkohol, | |
Nikotin und Kaffee. Auch meine Mutter hat versucht, sich umzubringen, und | |
außerdem ist sie möglicherweise eine Borderlinerin: Man konnte nie sicher | |
sein, ob man sich eine einfing oder ob sie im nächsten Moment mit einem | |
durchs Zimmer tanzte. | |
Ich bin nicht wütend auf meine Eltern, jedenfalls nicht, weil sie selbst | |
irgendetwas in sich getragen haben. Aber weil sie sich nicht gekümmert | |
haben. Ich finde nicht, sie hätten unbedingt eine Therapie machen müssen. | |
Aber sie hätten sich um sich – und damit auch um mich und meine Brüder – | |
kümmern müssen. Stattdessen haben sie mir das alles unreflektiert | |
mitgegeben. Vielleicht konnten sie das damals nicht anders. | |
Ich habe mit meinen Kindern gesprochen. Ich beobachte meine Kinder sehr | |
genau, ob ich Symptome an ihnen erkennen kann. Und ich habe ihnen gesagt, | |
dass sie auf sich achten sollen. Zum Glück ist bislang kaum etwas zu sehen, | |
ich hoffe natürlich, das bleibt so. Natürlich tut mir leid, dass ich ihnen | |
womöglich etwas mitgegeben habe, zumindest die Veranlagung dazu, aber was | |
soll ich tun? Ich kümmere mich wenigstens. Ich habe drei Psychotherapien | |
hinter mir und in den letzten fünf Jahren etwa acht Monate in Kliniken | |
verbracht. | |
Mit dem neuen Medikament komme ich besser klar. Zu Beginn der depressiven | |
Phase, in der ich gerade bin, hatte ich das erste Mal das Gefühl: Ja, jetzt | |
beginnt eine Depression, aber ich komme aus der auch wieder raus. Das ist | |
schon eine Verbesserung. Das Loch ist immer noch genauso schwarz. Zumindest | |
glaube ich daran, dass ich es wieder verlassen werde. | |
In diesem Text werden Suizidgedanken geschildert. Wenn Sie sich selbst | |
betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte die [1][Telefonseelsorge] . Unter | |
der kostenlosen Hotline 0800-111 01 11 erhalten Sie Hilfe. Auch die | |
[2][Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen] bietet Beratung für | |
Betroffene und Angehörige. | |
19 Aug 2018 | |
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[1] http://www.telefonseelsorge.de/ | |
[2] https://dgbs.de/ | |
## AUTOREN | |
Thomas Winkler | |
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