# taz.de -- Versammlung der Wirecard-Gläubiger: Betrogene im Bierkeller | |
> Bei der Gläubigerversammlung des Pleiteunternehmens Wirecard wird klar, | |
> dass kaum Geld zu verteilen ist. Ein Großteil der Jobs soll immerhin | |
> bleiben. | |
Bild: Untersuchungsausschuss zum Wirecard-Skandal | |
MÜNCHEN taz | Daniela Bergdolt steht vor dem Münchner Löwenbräukeller und | |
sagt: „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass solch ein Chaos- und | |
Betrugssystem dahintergesteckt hat.“ Die Aktionärsschützerin redet | |
regelmäßig bei Hauptversammlungen von DAX-Konzernen. Neuerdings vertritt | |
sie tausende Wirecard-Geschädigte. Bergdolt ist Geschäftsführerin der | |
Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz in Bayern. An diesem | |
Mittwoch ist sie für ihre Klientel – private, aber nicht unbedingt kleine | |
Aktienanleger – bei der Gläubigerversammlung des einstigen | |
New-Economy-Stars Wirecard aus Aschheim bei München mit dabei. | |
Der riesige Wirtshauskeller wurde als Ort ausgewählt, um die Coronaregeln | |
einhalten zu können: Normalerweise trinken hier 3.000 Besucher Bier und | |
essen Würstl oder Haxn. Für die Versammlung war die Teilnehmerzahl nun auf | |
maximal 350 begrenzt – und das ohne jede Bewirtung. Gekommen sind | |
schließlich 74, die aber insgesamt 11.500 vertraten. | |
[1][Wirecard – das war jenes „Zahlungsdienstleistungsunternehmen“], das | |
sich wie aus dem Nichts heraus global aufgeblasen hatte mit immer | |
fantastischeren Gewinnversprechen und einem rasant steigenden Aktienkurs. | |
2018 erfolgte der Ritterschlag mit der Aufnahme in den DAX, den Index der | |
30 größten deutschen Aktien-Unternehmen. Wirecard gründete Tochterfirmen | |
wie eine eigene Bank, Betriebe für Serviceleistungen oder technische | |
Weiterentwicklung. Dabei war die eigentliche Geschäftsidee simpel: Es ging | |
darum, elektronische Zahlungssysteme zu entwickeln, die das Kaufen und | |
Verkaufen etwa im Internet erleichtern. | |
Die Blase platzte, als die Wirtschaftsprüfer von Ernst and Young – Jahre zu | |
spät, wie viele meinen – entdeckten, dass es von Wirecard auf den | |
Philippinen ausgewiesene 1,9 Milliarden Euro gar nicht gibt. Das war ein | |
Viertel der gesamten Konzernbilanz. Ende April rauschte der Aktienkurs | |
runter gen null, Anleger verloren 23 Milliarden Euro, Banken und Investoren | |
blieben auf Krediten von knapp 1,8 Milliarden sitzen. | |
## 96 Prozent des Geldes sind futsch | |
Bei der Gläubigerversammlung eines insolventen Betriebs präsentiert der | |
Insolvenzverwalter das, was er an Scherben noch zusammenfegen konnte. Die | |
Gläubiger und Aktienbesitzer stellten in München Forderungen von 12,5 | |
Milliarden Euro. Verwalter Michael Jaffé teilte laut Aktionärsschützerin | |
Bergdolt mit, dass er mit der Zerschlagung und dem Verkauf von | |
Wirecard-Teilbereichen bislang nur 500 Millionen Euro einnehmen konnte. | |
Damit könnten die Forderungen zu nur 4 Prozent erfüllt werden. Das | |
bedeutet: 96 Prozent des Geldes ist nach jetzigem Stand weg. Die Stimmung | |
auf dem nicht öffentlichen Treffen, sagt Daniela Bergdolt der taz, sei | |
„sachlich und trübe“ gewesen. | |
Unterdessen ermittelt die Staatsanwaltschaft München gegen die einstige | |
Wirecard-Führungsriege. Der frühere Vorstandsvorsitzende Markus Braun sitzt | |
in Augsburg in Haft. Seine Vernehmung ist an diesem Donnerstag in Berlin | |
das große Thema des [2][Bundestagsuntersuchungsausschuss, der klären soll, | |
welche Rolle die Bundesregierung und Bundesbehörden in dem Fall gespielt | |
haben]. Ex-Vorstand Jan Marsalek erscheint wie eine Figur aus einem | |
überdrehten Agententhriller: [3][Der Österreicher, der Kontakte zu einem | |
russischen Geheimdienst haben soll, ist auf der Flucht] und wird mit | |
internationalem Haftbefehl gesucht. Er hatte eine Einreise auf die | |
Philippinen simuliert, tatsächlich soll er aber laut dem Recherchenetzwerk | |
Bellingcat nach Belarus und von dort nach Russland gereist sein. In der | |
Nähe von Moskau sei er unter Aufsicht von Geheimdienstleuten untergebracht. | |
## 500 Jobs sollen bleiben | |
Und die Beschäftigten? Einst hatte Wirecard in Deutschland 1.600 | |
Mitarbeiter, jetzt sind es noch knapp 600. Früher sahen sie sich als | |
IT-Avantgarde, als eine Art deutsches Apple, dann brach die Verzweiflung | |
aus. Im September haben sie mit Unterstützung der Gewerkschaft Verdi einen | |
Betriebsrat gewählt. Vor allem der Verdi-Mann Kevin Voß hat das initiiert. | |
Mittlerweile ist klar, dass die Wirecard-Hauptfirma an die spanische Bank | |
Santander verkauft wird. Rund 500 Beschäftigte sollen laut den Planungen | |
ihre Jobs behalten. „Wegen dieses Investors ist die Stimmung jetzt doch | |
wieder recht freudig“, sagt Voß. Allerdings findet sich kein | |
Wirecard-Beschäftigter, der etwas zur Lage sagen möchte – auch kein | |
Betriebsrat, auch nicht anonym. | |
19 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Patrick Guyton | |
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