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# taz.de -- Über das Alter als Privileg: Triumph der Alten
> Die Senioren von heute haben die Zeit ihres Lebens. Zumindest solange sie
> nicht arm sind, denn dann sind sie schon tot.
Bild: Es geht auch um den medizinischen Fortschritt. Heute gibt es Gebisse
Das Kühlschranktheorem besagt, dass in einer Wohnung die Größe des
Kühlschranks mit dem Alter der Bewohner zunimmt – nicht mit deren Anzahl.
Ebenso verhält es sich mit der Wohnfläche: Die Alten haben mehr Platz als
die Jungen, auch wenn die verpartnert sind und Kinder haben.
Schenkt man solchen Details Aufmerksamkeit, so darf man zumindest vermuten,
dass dem Alter heute etwas in der Geschichte der Menschheit Unerhörtes
widerfährt: Durch Jahrtausende wurde es erlitten und herabgewürdigt. Das
Alter war die Lebenszeit, in der die menschlichen Zweibeiner die Zähne
verlieren, die Augen und Ohren in ihrer Funktion nachlassen, in der die
Menschen ihre Beweglichkeit und sexuelle Potenz einbüßen, inkontinent und
dement werden. Eine Zeit des Elends, in der christliche Schwestern noch im
Armenhaus die alte Witwe zwangen, ihre Suppe fern vom Esstisch zu
schlürfen.
Diese Epoche scheint heute vollkommen überwunden. Nicht dass alle Alten auf
einmal ihre Zähne, ihre Sinne und ihr Gedächtnis behielten; aber heute gibt
es Gebisse, Operationen gegen Grauen Star und für den Rest Viagra,
inzwischen auch für die Frau. Es erstaunt dabei, ein wie großer Teil des
medizinischen Fortschritts darauf ausgerichtet ist, die Leiden des Alters
aufzuheben – ein größerer jedenfalls als für die Tragödien, die die Jungen
treffen.
Diese Tatsache ist zugleich Grund und Folge der neuen privilegierten Epoche
des Alters: Die Medizin beschäftigt sich so ausführlich mit den Problemen
der Senioren, weil diese der einflussreichste und mächtigste Teil unserer
Gesellschaft geworden sind. Aber er ist dazu eben auch dank der
Fortschritte der Medizin geworden, die den Status des Altseins in die Länge
gezogen und aus den Rentnern die größte Bevölkerungsgruppe gemacht haben.
## Die Ungleichheit zwischen den Menschen
Früher dauerte das Alter, als Zeit, sich mit dem Tod vertraut zu machen,
wenige Jahre – statistisch gesehen, Ausnahmen gab es natürlich immer. Noch
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der Tod dabei eine ziemlich
demokratische Angelegenheit, in dem Sinne, dass sich niemand privilegiert
fühlen konnte. Die Hoffnung, möglichst lange am Leben zu bleiben, gründete
sich nicht auf Reichtum – im Gegenteil: Menschen aus bescheidenen
Verhältnissen hatten eher die Chance auf eine längere Lebenszeit, weil sie
einen maßvollen Lebensstil pflegten, während die medizinische Situation für
alle gleich schlecht war: Katastrophale Hygiene und Machtlosigkeit der
zeitgenössischen Medizin den ernsten Krankheiten gegenüber.
Man muss nur nachlesen, wie lange die Fürsten von Ferrara oder Mantua
lebten, und dies mit der Spanne vergleichen, welche die von ihnen
beschäftigten Künstler der Renaissance ausfüllten, um zu sehen, wie viel
früher die Adligen ihren Lastern Tribut zollen mussten.
Im Weiteren aber folgte die Medizin dem Rousseau’schen Muster der
Verschlimmbesserung: Peu à peu hat sie die Ungleichheit zwischen den
Menschen verstärkt, mit dem Ergebnis, dass heute die Reichen und Mächtigen
im Durchschnitt sehr viel länger leben als die Notleidenden und
Unterdrückten.
In einem Artikel der Zeitschrift The Atlantic vom April vergangenen Jahres
wird aufgeschlüsselt, was das für die Lebenserwartung von heute 55-jährigen
US-Amerikanern konkret bedeutet. Die reichsten männlichen 10 Prozent dieser
Altersgruppe dürfen statistisch auf weitere 34,9 Jahre hoffen; die ärmsten
10 Prozent nur auf 24,2 Jahre.
## Die Reichen haben 3,3 Jahre mehr
Wenn die Reichsten ihre 89 Jahre und 11 Monate erreicht haben, sind die
Ärmsten also schon 10 Jahre und 8 Monate tot. Bei den Frauen sind die Daten
90 Jahre und 4 Monate für die oberen 10 Prozent gegen 80 Jahre und 10
Monate.
Bedrückender wird es, wenn man die aufgeführten Daten für die 1940
Geborenen mit denen von 1920 Geborenen vergleicht. Für die oberen 10
Prozent (männlich) hat sich das Leben um 5,9 Jahre verlängert, für die
ärmsten 10 Prozent nur um 1,8 Jahre. Bei den Frauen ist die Kluft noch
größer: Die Reichen haben 3,3 Jahre mehr im Vergleich zu den 1920
Geborenen, bei den Ärmsten hingegen hat sich die Lebenserwartung sogar
verringert – der mathematische Beweis für die zunehmende Ungleichheit im
Angesicht des Todes. Für Deutschland hat das Robert-Koch-Institut kürzlich
Zahlen vorgelegt. Demnach leben Frauen aus der untersten sozialen Schicht
8,4 Jahre kürzer als die aus der obersten. Bei Männern beträgt der
Unterschied sogar 10,8 Jahre.
Das Alter wird also nicht nur zur Hauptlebenszeit, sondern auch zu
derjenigen Epoche der menschlichen Existenz, in der die Reichen ein
gewaltiges Übergewicht erreicht haben. Die verlässlichste Gegenprobe für
diese Daten liefern die Vereinigten Staaten, wo der Kapitalismus – oder die
Marktwirtschaft, wenn man es so lieber hat – von Anfang an freiere Hand
hatte und wo die Effekte deswegen deutlicher hervortreten. Die einzige
Gruppe in den USA, die in den Genuss eines qualitativ hochwertigen und
kostenlosen Gesundheitssystems kommt, sind die über 65-Jährigen: Und zwar
dank Präsident Lyndon B. Johnson und seinem 1966 eingeführten Medicare.
2010 profitierten davon 40 Millionen Personen, für die 182,7 Milliarden
Dollar Krankenhauskosten aufgewendet wurden – 47,2 Prozent all solcher
Ausgaben in den USA. Die Tea Party entstand eben aus der Angst der Alten,
durch die Gesundheitsreform Barack Obamas dieser Wohltaten ganz oder
teilweise beraubt zu werden. Obama hatte allerdings nicht den Mut, Medicare
einfach auf alle Amerikaner auszuweiten. Stattdessen brachte er ein
abstruses Gesetz von 1.900 Seiten auf den Weg, dessen Kompliziertheit eben
dem Willen geschuldet ist, die Privilegien der Alten nicht anzutasten.
## Die Alten wählen mehr
Aber das nur nebenbei. Jedenfalls sind wir hier bei den perversen Folgen
des demokratischen Prozesses angekommen. Die je nach Alter unterschiedlich
hohe Wahlbeteiligung setzt eine Dynamik in Gang, die sich fortlaufend
selbst verstärkt. Census, das statistische Bundesamt der Vereinigten
Staaten, liefert dazu in seiner Studie „Young-Adult Voting. An Analysis of
Presidential Elections 1964–2012“ erstaunliche Daten.
Seit 1964 hat die Wahlenthaltung in allen Altersklassen zugenommen. In
diesem Jahr wählten 75 Prozent der 45- bis 64-Jährigen, gefolgt von 69
Prozent der 24- bis 44-Jährigen. Die über 65-Jährigen mussten sich mit dem
dritten Platz zufrieden geben (66,2 Prozent), während die Jungen, die 18-
bis 24-Jährigen am schlechtesten abschnitten (50,9 Prozent).
48 Jahre später hat sich das Bild gewandelt. Die Jungen wählen mit nur noch
38 Prozent immer noch am wenigsten, die Spitze aber haben die über
65-Jährigen ergattert mit einer Wahlbeteiligung von 69,7 Prozent. Dabei
gilt es zu beachten, dass die über 65-Jährigen 1964 nur knapp ein Zehntel
der Bevölkerung ausmachten, heute dagegen 13,4 Prozent; dies trotz der sehr
starken Migration in die USA – für Europa und hier vor allem für Italien
sind die Daten für die alternde Bevölkerung deutlich dramatischer.
Die Alten also entscheiden heute die Wahlen, ihnen kann nichts verweigert
werden: Klar, dass nicht mal die härtesten Neoliberalen und
Reaganomics-Anhänger es gewagt haben, Medicare anzutasten. Je mehr die
Alten zählen, desto inniger werden sie von der Politik gehätschelt; und je
mehr man sich ihnen zuwendet, desto größer wird ihr demografisches Gewicht
und das bei Wahlen.
## Die Jungen werden verlieren
In Europa ist die Tendenz die gleiche. Eine Erhebung im Auftrag des
Europäischen Parlaments von 2009 kommt zu dem Ergebnis, dass auch auf dem
alten Kontinent die Wahlbeteiligung mit zunehmendem Alter ansteigt: von
29,1 Prozent für die Jüngsten auf 50 Prozent für die über 50-Jährigen.
Und deswegen ist es auch kein Zufall, dass der soziale Status und die
wirtschaftliche Lage sich für die Jungen sehr viel dramatischer darstellt,
mit Arbeitslosenquoten zwischen 40 und 60 Prozent, insbesondere im Süden
Europas. Das ist die sogenannte NEET-Jugend (not in employment, education
or training): Sie tun nichts, sie verdienen nichts, sie zählen nichts.
An diesem Verhältnis zwischen den Generationen etwas zu ändern, wird sehr
schwierig werden, solange die Jungen nicht zur Wahl gehen. Der italienische
Schriftsteller Michele Serra hat in seinem Roman „Gli sdraiati“ (“Die
Liegenden“) schon den kommenden Krieg zwischen Alten und Jungen
vorweggenommen. Verlieren werden ihn Letztere – wenn sie sich nicht doch
noch einen Ruck geben.
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
25 Dec 2015
## AUTOREN
Marco d'Eramo
## TAGS
Fortschritt
Medizin
Altern
Gesundheit
Lebenserwartung
Schwerpunkt Armut
Deutschland
Schönheitsnormen
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