# taz.de -- Die Vorteile des Alterns: Plötzlich sind die Falten wurscht | |
> Wenn man die eigene Endlichkeit spürt, lassen einen viele äußere Zwänge | |
> kalt. Einfach nur leben ist auch genug und kann ganz schön sein. | |
Bild: Gemütlicher Lebensabend mit Hund | |
Es gab mal eine Friseurwerbung, auf der eine junge, sorgfältig coiffierte | |
Frau das Publikum anlächelte und den Satz sagte: „Für die inneren Werte ist | |
später noch Zeit.“ | |
Interessanter Satz. Er suggeriert: Wer jung ist, sollte sich erst mal auf | |
die äußeren Werte konzentrieren. Sie bringen mehr Aufmerksamkeit, mehr | |
Zuwendung, mehr Liebe. Es lohnt sich, in die äußeren Werte zu investieren | |
und regelmäßig zum Friseur zu gehen, statt die Haare einfach nur vor sich | |
hin wachsen oder gar von einer Freundin zu Hause schneiden zu lassen. | |
Der Satz suggeriert auch: Die inneren Werte entwickle ich dann, wenn mir eh | |
nichts anderes übrig bleibt. Wenn ich nicht mehr viel machen kann gegen | |
Falten, dünne Haare und die Fettrolle auf den Hüften. Dann entdecke ich die | |
inneren Werte: Freundschaft, Güte, Naturliebe, solche Dinge. Die inneren | |
Werte wären dann eine Art Notwehr, weil wir als ältere Frauen nicht mehr | |
mithalten können im Rennen um die äußeren Werte, um glatte Haut, schlanke | |
Taille und volles Haar, um Schönheit. | |
So könnte es sein. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist es anders. | |
Wir lösen uns im Alter von den äußeren Werten, von den Zwängen der | |
Schönheitsnormen, nicht indem wir eine moralische Entwicklung vorgaukeln, | |
aber auch nicht weil wir eine tolle weibliche Selbstfindung erleben oder | |
gar eine stärkere Persönlichkeit kriegen. Das ist Quatsch. Man spürt im | |
Alter eine viel stärkere Verletzlichkeit. | |
Nein, die äußeren Zwänge verblassen ganz automatisch, weil wir in eine | |
andere Zeitlichkeit katapultiert werden. Der ungarische Autor Sándor Márai | |
beschrieb, welche Wende es bedeutet, wenn man plötzlich die eigene | |
Sterblichkeit, die Endlichkeit spürt. Das kann ausgelöst sein durch die | |
schwere Erkrankung oder den Tod eines nahen Menschen der gleichen | |
Generation, mit dem wir uns identifizieren. Durch den Tod der Eltern, durch | |
eine unangenehme Diagnose. Ab dann läuft die Uhr. Das ist kein besonderes | |
Verdienst. | |
## Einfach nur sein | |
Plötzlich erscheinen sie exotisch, die Frauen in der „Zwischenzeit“, die | |
hungern gegen die Verdickung in der Körpermitte, die auf überteuerte Cremes | |
schwören, sich Falten aufplustern, vielleicht sogar liften lassen, | |
stundenlang Gerätefitness machen, das ganze Programm. Das Leben ändert sich | |
nicht durch eine Diät. Und mehr Liebe gibt es damit auch nicht. Ist das | |
begriffen, schleichen sich die Sorgen um Figurbreite und Faltentiefe | |
langsam aus dem Kopf. Nicht als Akt bewusster Emanzipation, sondern weil | |
das Gemüt mit anderen Dingen beschäftigt ist. Dann, an einem sonnigen | |
Morgen, wenn der Wind durch die Bäume fährt, das Blau vom Himmel knallt und | |
die Vögel tratschen, fällt einem auf, wie befreiend das ist, einfach da zu | |
sein und nicht mehr ängstlich in den Spiegel gucken zu müssen, ja überhaupt | |
weniger in den Spiegel zu schauen. Warum auch? Eben. | |
Man kann so viel tun, am Wasser entlangspazieren, Akkordeon spielen, ein | |
paar Brocken Arabisch lernen. Der Tag entfaltet sich wie ein frisch | |
gewaschenes Tischtuch. Genauso war es in der Kindheit, als jeder heimliche | |
Ausflug auf dem Kinderfahrrad in ein fremdes Stadtviertel ein Abenteuer | |
war. | |
Vielleicht ist das der Grund, warum die Psychologie allerlei erfreuliche | |
U-Kurven entdeckt: Es gibt eine U-Kurve beim Glück, das Glück nimmt nach | |
der Jugendzeit etwas ab und steigt dann jenseits der 50 oder 60 wieder an, | |
wie eine Studie der Universität Michigan ergab. Eine U-Kurve lässt sich | |
auch in Langzeitpartnerschaften feststellen: Zuerst sackt die Zufriedenheit | |
mit den Jahren ab, dann legt sie wieder zu, weil man froh ist, dass der | |
andere noch da ist, nicht hinweggerafft von Krebs oder Herzinfarkt. | |
Viele äußere Zwänge weichen zudem praktischer Erkenntnis. So soll es besser | |
sein, jenseits der 65 nicht mehr abnehmen zu wollen, da geht zu viel | |
Muskelmasse verloren. Und wer keine Freundinnen hat, die geliftet sind, | |
steht auch selbst weniger unter Renovierungsstress, das ist bewiesen. Die | |
Zusammensetzung des Freundeskreises lässt sich steuern. Man kann selbst | |
Entscheidungen treffen, auch über das eigene Glück. Das Gefühl der | |
Selbstbestimmtheit ist enorm wichtig für die Zufriedenheit im Alter, | |
stellte der Psychogerontologe Frieder Lang fest. | |
## „Ich würde mehr riskieren“ | |
Sich anderen Menschen zuzuwenden, großzügig zu sein, vielleicht sogar mehr | |
zu geben als zu nehmen, das macht zufrieden, schreibt der Bestsellerautor | |
John Izzo in seinem Buch über „die fünf Geheimnisse, die Sie entdecken | |
sollten, bevor Sie sterben“. | |
Dem argentinischen Dichter Jorge Luís Borges wird das Gedicht | |
zugeschrieben: „Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte (…) würde ich | |
versuchen, mehr Fehler zu machen. (…) Ich wäre ein bisschen verrückter, als | |
ich es gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. (…) Ich | |
würde mehr riskieren. Ich würde mehr reisen, mehr Sonnenuntergänge | |
betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen. Ich würde an mehr | |
Orte gehen, wo ich vorher noch nie war. (…) Wenn ich noch einmal leben | |
könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein | |
barfuß gehen. (…) Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt und weiß, dass ich | |
bald sterben werde.“ | |
Wir haben glücklicherweise noch etwas Zeit. Aber auch nicht ewig. In | |
Abwandlung des Friseurspruchs könnte man sagen: „Für die inneren Werte ist | |
später noch Zeit. Aber für die äußeren Werte ist die spätere Zeit zu | |
knapp.“ Was nicht bedeutet, dass wir mit über 50 nicht mehr zum Friseur | |
gehen. Honigblond. Belebende Strähnchen. Vielleicht sogar Ansatzdauerwelle. | |
Aber dann ist auch gut. | |
8 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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