# taz.de -- Tabuthema Fehlgeburt: Leiser Verlust | |
> Fast jede dritte Frau in Deutschland hat eine Fehlgeburt erlebt. Trotzdem | |
> wird das Thema nach wie vor tabuisiert. | |
Bild: Friedhof für sogenannte Sternenkinder am Klinikum Niederberg in Velbert,… | |
Naomi Aguilar-Walawski ist in der 14. Schwangerschaftswoche, als sie starke | |
Unterleibsschmerzen bekommt. Eigentlich ist sie zu einer Hochzeit | |
eingeladen, aber wegen der Schmerzen schickt sie ihre Schwester und Mutter | |
alleine dorthin und bleibt im Hotel. Die Krämpfe werden immer stärker, | |
irgendwann drückt sich ein orangengroßer Klumpen aus ihrer Vagina, unter | |
starken Schmerzen und mit extremen Blutungen. Im Bett bleibt eine Blutlache | |
zurück, so groß wie sie selbst. | |
Es war Aguilar-Walawskis erste Schwangerschaft, sie hatte nicht damit | |
gerechnet, dass sie eine Fehlgeburt haben würde. Und auch nicht damit, dass | |
es nicht ihre einzige Fehlgeburt bleiben würde. Damals im Hotel ruft sie | |
ihre Mutter an, die sofort zu ihr kommt. Den Notarzt holen sie beide nicht. | |
Zu überfordert, zu viel Angst, so erklärt sie das heute. Knapp neun Jahre | |
später schwingt noch immer Aufgewühltheit in ihrer Stimme mit, wenn sie | |
diese Geschichte erzählt. | |
Laut Schätzungen des Berufsverbands der Frauenärzte erleidet rund jede | |
dritte Frau in ihrem Leben mindestens eine Fehlgeburt. Etwa [1][10 bis 20 | |
Prozent der bestätigten Schwangerschaften] enden mit einem Abort – so der | |
medizinisch korrekte Ausdruck. Viele Schwangerschaften werden auch gar | |
nicht erst bemerkt: Von allen befruchteten Eizellen wächst schätzungsweise | |
etwa die Hälfte nicht zu einem Baby heran. | |
## Zumeist im ersten Drittel der Schwangerschaft | |
Obwohl sie so häufig sind, wird über Fehlgeburten selten gesprochen. Bis | |
heute fragt sich Aguilera-Walawski, warum sie über die Möglichkeit einer | |
Fehlgeburt so wenig wusste. So wenig, dass ihr nicht klar war, was sie in | |
einer derartigen Situation tun müsse. | |
Drei Viertel der Fehlgeburten passieren im ersten Schwangerschaftsdrittel. | |
Eine Unterscheidung machen Medizin und Gesetz bei Föten, die mehr als 500 | |
Gramm wiegen – meist ab der 22. oder 24. Schwangerschaftswoche – und tot | |
geboren werden. In diesem Fall spricht man von einer Totgeburt oder stillen | |
Geburt. Die still geborenen Kinder werden oft Sternenkinder genannt. | |
Auch Lisa Brahn hat eine Fehlgeburt erlebt. Die 37-Jährige, die eigentlich | |
anders heißt, ist in der siebten Woche schwanger, als ihre Ärztin ihr sagt, | |
der Embryo in ihrem Bauch entwickle sich nicht zeitgerecht. Eine Woche | |
später wird eine missed abortion diagnostiziert, also eine Fehlgeburt, bei | |
der der Embryo oder Fötus bis zum Ende des ersten Trimesters nicht | |
weiterwächst. Lisa Brahns Embryo ist nicht mehr am Leben. Die Ärztin | |
überweist sie für eine Ausschabung ins Krankenhaus. „Es war die einzige | |
Möglichkeit, die sie mir gegeben hat“, sagt Brahn. „Nach dem Motto: Dann | |
ist das schnell erledigt.“ | |
In Deutschland empfehlen Ärzt*innen oft diese Methode für einen Abort: | |
eine Ausschabung des Uterus, bei der die Gebärmutter ausgekratzt wird. Dass | |
so häufig zu einem raschen operativen Vorgehen geraten wird, liegt auch | |
daran, dass Operationen besser vergütet werden als ambulante Behandlungen. | |
Studienerkenntnisse, die andere Methoden empfehlen, würden zudem nicht | |
konsequent umgesetzt, sagen Fachleute. | |
## In der Situation ausgeliefert | |
Morgens in der Klinik erfährt Brahn, dass sie zuerst eine Voruntersuchung | |
braucht, die Operation könne an dem Tag nicht stattfinden. Während sie | |
untenrum entkleidet auf dem Untersuchungsstuhl liegt, laufen Ärzt*innen | |
und Pfleger*innen vorbei, darunter ihre ehemalige Nachbarin, die im | |
Krankenhaus arbeitet. Türen und Vorhänge gibt es nicht. Sie fühlt sich der | |
Situation ausgeliefert. | |
„Die Instrumente waren kalt und groß, ganz anders, als ich es von der | |
Gynäkologin kenne“, erinnert sich Brahn. Nach der Untersuchung wird sie | |
allein in ein anderes Gebäude geschickt. Dort angekommen, bricht sie in | |
Tränen aus. Zwei Kinder hat Brahn zu diesem Zeitpunkt schon. „Was wäre, | |
wenn ich mir unbedingt ein weiteres Kind gewünscht hätte?“, fragt sie. | |
„Dieser Umgang hätte ein Weltzusammenbruch sein können.“ | |
Brahn ist verheiratet, berufstätig, steht auf eigenen Beinen. Doch die | |
Fehlgeburt wirft sie aus der Bahn. Nicht nur wegen des Verlustes an sich, | |
auch wegen dem, was ihr in der medizinischen Behandlung widerfährt. Als | |
grob und empathielos beschreibt Brahn den Umgang im Krankenhaus. Man habe | |
ihr das Gefühl gegeben, überempfindlich zu sein, sagt sie. | |
Zurück aus der Klinik, noch immer mit dem toten Embryo im Bauch, ruft Brahn | |
ihre Hebamme an. Die ist die Erste, die sie einfühlsam berät und ihr sagt, | |
dass es andere Möglichkeiten als eine Ausschabung gibt. Brahn entscheidet | |
sich dafür, ihrem Körper Zeit zu geben. Zwei Wochen später geht die | |
Schwangerschaft unter Schmerzen von alleine ab. | |
So eine „selbstbestimmte Fehlgeburt“ bis zur 12. Schwangerschaftswoche, | |
die auch durch Medikamente eingeleitet werden kann, ist international | |
anerkannt und empfohlen. Denn eine Ausschabung ist wegen der Vollnarkose | |
nicht nur eine Belastung für den Körper, sondern kann auch den Uterus | |
dauerhaft verletzen und einen weiteren Kinderwunsch erschweren. Nicht | |
zuletzt gehen ein solcher Eingriff und insbesondere die mangelnde | |
Aufklärung darüber häufig mit einer psychischen Belastung einher. | |
## Blutungen nach Ausschabung | |
Natascha Sagorski kennt das nur zu gut. „Du bekommst das Gefühl, du bist | |
die eine, die sich anstellt, alle anderen stecken das weg“, beschreibt sie | |
ihre eigenen Erfahrungen nach einer Fehlgeburt in der 10. Woche. Auch an | |
ihr wurde unter Narkose eine Ausschabung vorgenommen. Sie habe enorme | |
Schmerzen und lange Blutungen gehabt. Die Fehlgeburt sei „ein großer | |
Verlust“ gewesen, auf das Baby hatte sie sich sehr gefreut. Nach der | |
Ausschabung wollte ihre Ärztin ihr keine Krankschreibung ausstellen. Sie | |
sollte am nächsten Tag wieder arbeiten gehen. Das ist keine Einzelerfahrung | |
bei frühen Fehlgeburten. | |
Sagorski wollte das nicht hinnehmen. 2022 rief sie eine Kampagne für einen | |
gestaffelten Mutterschutz ins Leben. Drei Jahre kämpfte sie für die | |
Anerkennung einer Fehlgeburt als Grund für einen Mutterschutz, um | |
betroffenen Frauen Zeit zum Heilen zu ermöglichen. | |
Als der Bundestag am 30. Januar 2025 spätabends einstimmig für die | |
Gesetzesänderung stimmt, sitzt Sagorski auf den grauen Zuschauerrängen und | |
weint. Die Bundestagspräsidentin Aydan Özoğuz (SPD) dankt ihr während der | |
Sitzung persönlich. „Es werden viele Frauen davon profitieren, dass Sie den | |
Mut hatten, diese Initiative anzustoßen“, so Özoğuz. Viele danken Sagorski | |
– vor Ort und online, sie ist in Talkshows zu Gast, Zeitungen drucken | |
Interviews. „Ohne sie gäbe es das Gesetz nicht“, schreibt die Süddeutsche | |
Zeitung. | |
## Mutterschutz ab 13. Woche | |
Eigentlich hatte Sagorski die Möglichkeit für Mutterschutz ab der 6. | |
Schwangerschaftswoche gefordert. Dahinter bleibt das Gesetz zurück. Aber | |
immerhin: Ab Juni dieses Jahres wird allen, die ab der 13. | |
Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt erleiden, ein gestaffelter | |
Mutterschutz zugestanden. Sagorskis Kampf zeigt, wie sehr der Schutz von | |
Betroffenen bisher unter dem Radar der Politik lief. Und wie | |
individualisiert das Leid ist. | |
Viele Fehlgeburten bleiben auch deshalb unsichtbar, weil Schwangeren meist | |
geraten wird, erst nach dem ersten Trimester über ihre Schwangerschaft zu | |
sprechen. Also nach den 12 Wochen, in denen die meisten Fehlgeburten | |
passieren. Betroffene berichten häufig, dass sie sich mit ihren Erfahrungen | |
alleine fühlen. Natascha Sagorski machte es anders: Sie ging offen mit | |
ihrem Verlust um und schrieb mit anderen Betroffenen ein Buch über | |
Fehlgeburten. | |
Auch Naomi Aguilar-Walawski teilt die Erfahrung, dass das Sprechen über | |
ihre Fehlgeburten zunächst schwer war. Viele Freund*innen wussten erst | |
nicht, wie sie mit ihr umgehen sollten, erzählt sie. Als sie selbst begann, | |
über ihren Verlust zu sprechen, öffneten sich auch andere: „Es war | |
erschreckend, wie viele darüber nicht geredet haben, weil das Thema so | |
tabuisiert ist.“ | |
Vor einem halben Jahr ist Aguilar-Walawski schließlich Mutter geworden. | |
Heute lebt die 32-Jährige mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Nürnberg. | |
Doch der Weg dahin war schwer. Insgesamt sechs Fehlgeburten hat sie | |
erlitten, drei davon innerhalb eines Jahres. So häufige Fehlgeburten sind | |
zwar eher selten, aber für Betroffene besonders belastend. Sie versuchte, | |
in einer Kinderwunschklinik schwanger zu werden. Bis sie merkte, dass ihr | |
Körper nicht mehr konnte. Der Rat in der Klinik: weiter versuchen. | |
Aguilar-Walawski dachte, sie sei einfach nur zu schwach. „Im Nachhinein | |
habe ich mich gefragt, warum niemand mir gesagt hat, dass mein Körper nach | |
vier Fehlgeburten in zwei Jahren mal eine Pause vom Schwangerwerden | |
braucht.“ | |
## „Garten der Sternenkinder“ | |
Einen Ort zum Trauern gibt es für Betroffene oft nicht. Häufig werden | |
Embryos in Krankenhäusern gesammelt bestattet. Erst ab einem Körpergewicht | |
von 500 Gramm werden stille Geburten in Deutschland regulär bestattet. | |
Dafür gibt es Friedhöfe wie etwa den „Garten der Sternenkinder“, einen bu… | |
geschmückten Platz auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in | |
Berlin-Schöneberg. | |
Für diejenigen, die wie Lisa Brahn eine frühe Fehlgeburt erleiden, gibt es | |
nur wenig Angebote. Immerhin begleiten einige Hebammen betroffene Frauen | |
auch nach einer Fehlgeburt und helfen ihnen durch den Trauerprozess. | |
Aguilar-Walawski hat einen eigenen Weg gefunden: Sie hat jedes ihrer | |
Sternenkinder im Wald beerdigt. Sechs Föten, die nicht zu einem Baby | |
heranwachsen konnten. Jede Fehlgeburt hat so ihren Platz zum Trauern | |
bekommen. | |
8 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sarah Ulrich | |
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