# taz.de -- Sprechen über Israel: Sorry, das sind die falschen Toten | |
> Warum spricht Jürgen Habermas nicht? Am Potsdamer Einstein Forum wurde | |
> das Fehlen deutscher Kritik an Israels Politik beklagt. | |
Bild: Reden oder nicht: Israels Premierminister Netanjahu mit der Kanzlerin. | |
Bevor am Dienstag die sechsten deutsch-israelischen | |
Regierungskonsultationen stattfanden, hatte die Bundeskanzlerin auf einige | |
kontroverse Themen hingewiesen, die sie ansprechen werde: „Warum geht es | |
nicht voran im Friedensprozess? Der Bau von Siedlungen. Die Frage: Steht | |
man noch zur Zweistaatenlösung?“ | |
Man wäre gern dabei gewesen, als Angela Merkel ihre Fragen stellte. | |
Spannend war sicher auch der Moment, als sie erklärte, dass der Iran zwar | |
eine inakzeptable Position in der Frage des Existenzrechts Israels | |
einnehme, was diplomatisch ausgedrückt ist, aber die Bundesregierung | |
dennoch der Ansicht sei, das Atomabkommen mit dem Iran verhelfe zu mehr | |
„Überblick, Einfluss und Transparenz“. | |
Während in Berlin die Kabinette tagten, traf man sich im Potsdamer Einstein | |
Forum, um die Frage zu klären, ob man „angesichts von fortdauernden | |
Menschenrechtsverletzungen die deutsch-israelische Diplomatie überdenken“ | |
müsse: „Kann Europa beides: Israel vor antisemitischen Angriffen schützen | |
und von Fehlentwicklungen abhalten?“ | |
## Mehr Kritik! | |
Statt diese Fragen auch nur versuchsweise zu beantworten, ging es aber | |
munter drüber und drunter in einer meist innerjüdischen Debatte über das | |
Verhältnis von Diaspora und jüdischem Staat, dessen mögliche liberale | |
Zukunft, das Ende des Zionismus, amerikanische Juden, die jüdische Riten | |
gegen das Gedenken des Mordes an den europäischen Juden eingetauscht haben, | |
und andere spannende Fragen, die allerdings wenig mit dem deutschen | |
Verhältnis zu Israel zu tun haben. | |
Immerhin referierte Omri Boehm, ein junger israelischer Philosoph, noch | |
einmal den Text, den er im vergangenen Jahr in der New York Times | |
veröffentlicht und den die Zeit in einer erweiterten Fassung nachgedruckt | |
hatte, weil, wie Boehm sagt, deutsche Redaktionen gern jüdische | |
Intellektuelle anheuern, wenn sie etwas gegen Israel vorbringen wollen, es | |
sich aber nicht zu sagen trauen. | |
Das ist in diesem Fall insofern lustig, als Boehm in seinem Text die | |
deutschen Intellektuellen auffordert, sich zu Israel äußern. „Macht den | |
Mund auf!“, betitelte die Redaktion Boehms Plädoyer für mehr deutsche | |
Kritik an Israel, das man nur formulieren kann, wenn man in den vergangenen | |
Jahrzehnten nie den Spiegel gelesen hat. | |
## Der Auftrag zum Selbstdenken | |
Boehms Ausgangspunkt ist ein Interview, das Jürgen Habermas der | |
israelischen Tageszeitung Ha’aretz gab, die 1937 von Salman Schocken | |
gekauft worden war, einem deutschen Zionisten, der 1934 aber nicht aus | |
Zionismus, sondern wegen der nationalsozialistischen Machtübernahme nach | |
Palästina ausgewandert war. Die Kollegen fragten den Denker der | |
Diskursethik nach seiner Meinung zur Politik Israels. Er antwortete, zwar | |
erfordere das Vorgehen der israelischen Regierung eine politische | |
Bewertung, allein sei es nicht die Aufgabe eines privaten deutschen Bürgers | |
seiner Generation, diese abzugeben. | |
Nach einem Exkurs über Kants Verständnis von Aufklärung als Auftrag zum | |
Selbstdenken, das öffentlich stattfinden sollte, kommt Boehm zu dem | |
Schluss: „Ein Deutscher, der sich weigert, das israelische Verhalten zu | |
kommentieren, weigert sich, den Standpunkt der Aufklärung einzunehmen, | |
sobald er sich mit jüdischen Angelegenheiten befasst.“ | |
Habermas benutzte die Formel im Gespräch mit Ha‘aretz ein zweites Mal, als | |
er über Günter Grass‘ Gedicht „Was gesagt werden muss“ sprach: „Ich h… | |
nichts Besonderes zu Grass‘ uninformierter, unausgewogener und provokativer | |
Aussage zu sagen. Ich kann keinen vernünftigen Grund für die | |
Veröffentlichung eines solchen Gedichts erkennen. Der mich am meisten | |
beunruhigende Aspekt dieser Angelegenheit ist die Tatsache, dass der trüben | |
Flut der üblichen Vorurteile zum ersten Mal von jemandem die Tore geöffnet | |
wurden, der solches Prestige und politisches Gewicht besitzt. Es besteht | |
nicht der geringste Zweifel daran, dass Günter Grass kein Antisemit ist, | |
aber es gibt Dinge, die Deutsche unserer Generation nicht sagen sollten.“ | |
## Professionelles Wissen | |
Man könnte, anders als Boehm, Habermas zugute halten, zu Fragen zu | |
schweigen, für deren Beantwortung er sich nicht zuständig oder informiert | |
genug hält. An anderer Stelle hatte Habermas einmal gesagt: „Der | |
Intellektuelle soll ungefragt, also ohne Auftrag von irgendeiner Seite, von | |
dem professionellen Wissen, über das er beispielsweise als Philosoph oder | |
Schriftsteller, als Sozialwissenschafter oder als Physiker verfügt, einen | |
öffentlichen Gebrauch machen.“ Meinung, die im Zeitalter der sozialen | |
Medien so billig wie nie zu haben ist, kommt bekanntlich ganz gut ohne | |
professionelles Wissen aus. | |
Man kann Habermas’ Weigerung, sich als Angehöriger einer Generation, die | |
während der Zeit des Nationalsozialismus aufwuchs, zu Israels Politik zu | |
äußern, dennoch für ein nicht hinreichendes philosophisches Argument | |
halten, wie Boehm das tut. Damit endet Boehms Argumentation aber noch | |
nicht. Er erzählt die Geschichte, wie die Studentenvertretung einer | |
Londoner Universität den Vorschlag einer Gedenkzeremonie zum Holocaust mit | |
dem Argument abwies, ein solches Gedenken sei zu „eurozentrisch“ und | |
„kolonialistisch“. | |
Wer als Intellektueller Israel nicht kritisieren wolle, um seiner deutschen | |
Vergangenheit gerecht zu werden, könne auch das falsche Denken der | |
Studenten nicht kritisieren, die sich dem Holocaustgedenken verweigern, | |
weil sie ihrer Verpflichtung auf universale Menschenrechte gerecht werden | |
wollen, schließt Boehm. | |
Er erkennt zwar an, dass es dämlich und gefährlich sei, wie die Studenten | |
zu argumentieren, aber – und da hört sein Argument allerdings auf, | |
philosophisch zu sein – sie seien nicht bloß irrational oder antisemitisch, | |
weil „die Verträge von Oslo unter der Siedlungspolitik begraben werden, | |
aber Elie Wiesel den Vorsitz der mächtigsten Siedlerorganisation in | |
Jerusalem führen kann“. | |
Eva Illouz merkte gegen Ende des langen Nachmittags in Potsdam an, dass | |
auch jüdische Intellektuelle nicht immer ungehemmt sprechen, weil es zwar | |
einen mächtigen Staat Israel, aber auch realen Antisemitismus gebe. | |
19 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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