| # taz.de -- Soziologe über Männlichkeitsforschung: „Es geht um unbewusste A… | |
| > Der Soziologe Rolf Pohl hat sich mit Gewalt auseinandergesetzt. Über | |
| > Vergewaltigungen im Krieg kam er zur Männlichkeitsforschung. | |
| Bild: Hält das Patriarchat nicht für überwunden: Rolf Pohl in einer Gaststä… | |
| taz: Herr Pohl, in einem Interview mit der taz haben Sie gesagt, dass | |
| Männer Angst vor Frauen haben. Spüren auch Sie diese Angst? | |
| Rolf Pohl: Das kann ich schwer beantworten, denn es geht ja weitgehend um | |
| unbewusste Affekte. Aber wohl eher nicht, zumindest nicht in dieser | |
| apodiktischen Form. Die These war damals sehr zugespitzt. Es geht nicht | |
| darum, dass jeder einzelne Mann persönlich Angst vor Frauen hat. Vielmehr | |
| steht dahinter ein grundlegendes strukturelles Problem, nämlich dass Männer | |
| nach einem bestimmten Männlichkeitsideal streben und in diesem Ideal von | |
| Frauen, Weiblichkeit und vor allem der weiblichen Sexualität eine Bedrohung | |
| ausgeht. Das habe ich persönlich in diesem starken Ausmaß entweder nicht | |
| gehabt oder zumindest ansatzweise überwunden. | |
| Die weibliche Sexualität als Bedrohung der Männlichkeit? | |
| Wir leben nach wie vor in einer Gesellschaft der männlichen Vorherrschaft | |
| und Dominanz. Die Folge ist, dass auf jedem einzelnen Mann der Druck | |
| lastet, dieser Rolle des überlegenen Geschlechts gerecht zu werden und sich | |
| als autonomes Subjekt zu etablieren. Aber diese Autonomie ist auf keinem | |
| Gebiet stärker infrage gestellt als in der Sexualität. Denn zum Ideal der | |
| Männlichkeit gehört auch die normative Heterosexualität und in dieser ist | |
| der Mann von der Frau und ihrer Sexualität abhängig. | |
| Aber ist die Dominanz der Männlichkeit heute wirklich noch so ausgeprägt? | |
| Im öffentlichen Diskurs wird meistens suggeriert, | |
| Geschlechtergleichberechtigung sei weitestgehend erreicht und es gehe | |
| lediglich noch um ein paar Eckpunkte, wie mehr Frauen in Vorständen von | |
| DAX-Unternehmen oder ein Angleichen des Gender-Pay-Gaps. Aber eigentlich | |
| ist das Männliche immer noch die Norm – trotz aller Fortschritte, die wir | |
| in gleichstellungspolitischen Fragen haben. Es ist dabei keine | |
| Vorherrschaft im Sinne des klassischen Patriarchats, also einer offenen | |
| Herrschaft aller Männer über alle Frauen, sondern eher eine Kultur der | |
| männlichen Überlegenheit. | |
| Was bedeuten die männliche Vorherrschaft und das traditionelle | |
| Männlichkeitsideal für Frauen? | |
| Die nach wie vor hohe Zahl von männlichen Gewalttaten gegen Frauen | |
| verdeutlicht den Versuch, die angesprochene Bedrohung und Angst wieder | |
| unter Kontrolle zu bringen. Alle Gewalthandlungen gegenüber Frauen dienen | |
| unbewusst also immer auch dem Zweck, die Frau auf einen Objekt-Status zu | |
| reduzieren und zu signalisieren, dass sie kein eigenständiges Subjekt sein | |
| darf. Die Frauen sind grundsätzlich nach wie vor Beute des männliche | |
| Zugriffs. | |
| Gab es auch bei Ihnen den Druck dieses Männlichkeitsideals? | |
| Natürlich, bereits in der Kindheit. Ich bin in den 50er-Jahren mit einer | |
| Generation von Eltern aufgewachsen, die mit der Nazi-Pädagogik infiziert | |
| waren: Jungen weinen nicht. Jungen dürfen sich nicht schwach zeigen. Diese | |
| Vorstellungen waren mit 45 nicht einfach plötzlich vorbei. Mir wurde von | |
| Anfang an injiziert, wie ein richtiger Mann nach dieser traditionellen | |
| Vorstellung zu sein hat. | |
| Wie konnten Sie sich von diesen traditionellen Vorstellungen lösen? | |
| Lebensgeschichtlich ist bei mir der Umbruch mit der sogenannten | |
| Politisierung im Rahmen der 68er-Jahre und danach in den 70ern passiert. | |
| Nach dem Zerfall der Protestbewegung hat mich von Anfang an die | |
| nachfolgende Frauenbewegung und der Feminismus fasziniert. Ich habe mich | |
| politischen Gruppierungen angeschlossen, die großen Wert auf die | |
| persönliche Emanzipation gelegt haben. Diese Erfahrungen haben viel dazu | |
| beigetragen, sich vom traditionellen Männlichkeitsbild zu lösen, auch wenn | |
| ich nicht glaube, dass sie das Potential dafür restlos beseitigt haben. | |
| Würden Sie sich selbst als „Feministen“ bezeichnen? | |
| Darüber habe ich auch nachgedacht. Ich glaube, es ist vermessen, als Mann | |
| zu sagen, ich bin Feminist. Im Sinne des Wortes und der Begriffsgeschichte | |
| sind es Frauen, denen ich das exklusive Vorrecht überlassen würde, sich | |
| Feministinnen zu nennen. Wenn Männer das sagen, sehe ich wieder eine | |
| typisch männliche Strategie, den Frauen auch das noch zu nehmen. Deswegen | |
| bezeichne ich mich eher als Sympathisant. | |
| Wie sind Sie Männlichkeitsforscher geworden? | |
| Zunächst habe ich mich grundsätzlich für Fragen nach dem Verhältnis von | |
| Sexualität und Gewalt interessiert, unabhängig vom Geschlecht. Dass ich | |
| mich mehr mit Männlichkeit auseinandergesetzt habe, wurde durch das Thema | |
| der [1][Kriegsvergewaltigungen in Ex-Jugoslawien] Anfang bis Mitte der | |
| 90er-Jahre ausgelöst. Ich bin also von einer der extremsten Gewaltformen | |
| gegenüber Frauen zur Männlichkeitsforschung gekommen. | |
| Wie genau kam es dazu? | |
| Das war wirklich ein einschneidendes Erlebnis. Ein Frauen-Magazin im ZDF | |
| berichtete in einer Sendung erstmals über die Massenvergewaltigungen. Das | |
| waren Vergewaltigungen als kriegsstrategisches Ziel, für die systematisch | |
| Vergewaltigungslager errichtet wurden. Die Berichte haben mich extrem | |
| erschüttert. Gleichzeitig habe ich ein Interesse für die aufkommende | |
| wissenschaftliche Auseinandersetzung und gerade auch für ihre Defizite | |
| entwickelt. | |
| Was für Defizite? | |
| Es wurde systematisch ausgeblendet, dass diese Grausamkeit etwas mit der | |
| männlichen Sexualität zu tun hat. Stattdessen wurde die Brutalität auf | |
| Machtfragen reduziert und als rein strategisches Mittel erklärt. So als | |
| könnten Männer jederzeit ihren Körper einsetzen und auf Befehl Frauen | |
| vergewaltigen. Deshalb habe ich angefangen, mich mit der männlichen | |
| Sexualität zu beschäftigen und inwiefern in ihr auch ein Stück weit eine | |
| Feindseligkeit gegenüber Frauen installiert ist – nicht biologisch, sondern | |
| durch die Sozialisation, die Erziehung, die Kultur und so weiter. Darüber | |
| bin ich auf weitere Fälle gestoßen, die bis dahin tabuisiert waren. | |
| Erzählen Sie. | |
| Vergewaltigungen von Koreanerinnen, Philippininnen und Chinesinnen durch | |
| die japanische Armee im Zweiten Weltkrieg oder auch die Vergewaltigungen | |
| von deutschen Frauen in Berlin und Umgebung durch Angehörige der Roten | |
| Armee gegen Ende des Krieges. Ich wollte wissen, was Männer dazu bewegt, so | |
| etwas zu machen. Aber immer wurde gesagt, das habe nichts mit der | |
| Sexualität zu tun. | |
| Hat sich das mittlerweile geändert? | |
| Die Gewaltproblematik wird auch heute immer noch getrennt von der | |
| Sexualität betrachtet. Man tut so, als wäre das Problem lösbar, in dem | |
| lediglich die Gewalt behandelt wird. Ein Beispiel ist die Idee, das Problem | |
| der sexuellen Gewalt durch Anti-Agressivitätstrainings zu bekämpfen. Aber | |
| diesen Ansatz halte ich für eine Illusion. Deswegen spreche ich auch von | |
| sexueller und nicht von sexualisierter Gewalt. | |
| Was unterscheidet die beiden Begriffe? | |
| Bei sexualisierter Gewalt geht es im Kern um Macht. Die Sexualität wird als | |
| Handwerkszeug benutzt, um die Gewalt- und Machtverhältnisse abzusichern. | |
| Der Penis ist quasi die Waffe. Wenn aber die Sexualität und eine Lust im | |
| Mittelpunkt stehen, dann ist das nicht sexualisierte Gewalt, sondern | |
| sexuelle Gewalt, also eine mit Gewalt aufgeladene Sexualität. | |
| Wie hat sich Ihre Arbeit zu Männlichkeitsforschung auf Sie als Mann | |
| ausgewirkt? | |
| Das ist schwer einzuschätzen, aber beeinflusst hat mich das sicherlich. Vor | |
| allem habe ich gemerkt, dass ich diese Gewaltzustände kaum ertragen kann. | |
| Sich mit den ganzen Materialien zu Gewalt an Frauen, den Fällen, | |
| Schilderungen und Erfahrungsberichten auseinanderzusetzen, in denen offen | |
| Vergewaltigungen propagiert wurden, das halte ich kaum aus. Dann noch eine | |
| wissenschaftliche Distanz zu entwickeln, um doch irgendwie eine Erkenntnis | |
| daraus zu ziehen, ohne dass einen jedes Mal die Betroffenheit und die Wut | |
| lähmt, war eine der härtesten Erfahrungen. | |
| Wie gelingt es als Wissenschaftler, trotzdem eine Distanz zu wahren? | |
| Zunächst muss man akzeptieren, dass es nicht nur irgendein neutraler | |
| wissenschaftlicher Gegenstand ist, sondern dass auch die eigene | |
| Subjektivität eine Rolle spielt. Es hat etwas mit meiner eigenen Biografie | |
| und meiner Person zu tun. Darin liegt jedoch auch die Gefahr, die | |
| Psychologie nicht zu benutzen, um die Welt, sondern sich selbst zu | |
| verstehen. Um letztendlich etwas darüber rauszufinden, wie das | |
| gesellschaftliche Problem funktioniert und was man dagegen machen kann, | |
| muss man die Wissenschaft deshalb vom Persönlichen trennen. Trotzdem hat | |
| das Forschen natürlich Auswirkungen auf das eigene Selbstverständnis und | |
| Männlichkeitsbild. Ich bin in vielen Dingen vorsichtiger und mir selbst | |
| auch misstrauischer gegenüber. | |
| Inwiefern misstrauischer? | |
| Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Einstellungsmuster, die | |
| kulturell sehr stark verankert sind, auch in den einzelnen Persönlichkeiten | |
| unbewusst tief verankert sind: Vorurteilsbereitschaften, Bereitschaft zur | |
| Feindseligkeit, möglicherweise auch Weiblichkeitsabwehr. Daher darf man | |
| nicht das Gefühl bekommen, dass all das überwunden ist. | |
| Wo haben Sie dieses Misstrauen konkret bemerkt? | |
| Ich will hier nicht zu persönlich werden, aber zum Beispiel bei bestimmten | |
| Reaktionsmustern, die in Beziehungen auftreten. Nehmen wir den Umgang mit | |
| Konflikten. Geht es mir darum, die Kontrolle wiederzugewinnen, die ich | |
| glaube, verloren zu haben? Geht es mir darum, Recht zu haben und Herr der | |
| Situation zu sein? Dahinter steht die Frage, ob hinter der | |
| Konfliktbewältigung eigentlich der Resouveränisierungswunsch von | |
| Männlichkeit steht und es letztendlich ein geschlechtlich-konnotiertes | |
| Verhalten ist. In solchen Situationen bin ich mir selbst misstrauisch | |
| gegenüber und habe seit Langem angefangen, mich zu hinterfragen. | |
| Sie haben auch zu Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit geforscht. Wie | |
| hängen diese Gebiete mit der Männlichkeitsforschung zusammen? | |
| Sowohl in der Männlichkeitsforschung als auch in der Fremdenfeindlichkeit | |
| und im Antisemitismus gibt es den Aspekt der Gewalt. In diesen | |
| Gewaltverhältnissen findet sich psychoanalytisch der Mechanismus der | |
| Projektion wieder, dass also eigene Anteile abgespalten, nach außen | |
| verlagert, auf jemanden anderen projiziert und dann stellvertretend an | |
| dieser Person verfolgt werden. | |
| Das müssen Sie genauer erklären. | |
| In der Frauenfeindlichkeit sind das Anteile, die nach gesellschaftlichen | |
| Konventionen nicht als männlich gelten, zum Beispiel das, was als Schwäche | |
| empfunden wird. Das wird dann abgespalten und kann stellvertretend im | |
| Außen, nämlich an Frauen, verfolgt werden. Der ähnliche Mechanismus | |
| existiert auch in der Fremdenfeindlichkeit. All das, was in unserer eigenen | |
| Persönlichkeit fremd geworden ist, wird abgespalten und einer als fremd | |
| erscheinenden Gruppe angeheftet. Deswegen geht es bei Fremdenfeindlichkeit | |
| auch überhaupt nicht um den Kontakt mit dem Fremden. Stattdessen verfolgt | |
| man ein Stück weit sein eigenes, entfremdetes Unbewusstes. | |
| 16 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tjade Brinkmann | |
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