# taz.de -- Sehnsucht nach Reisen: Wenn der Radius kleiner wird | |
> Wer auf weite Horizonte blickt, erweitert den Horizont auch in Gedanken. | |
> Wer mehr sieht, erkennt mehr an. Von einer, die früher nie stehen blieb. | |
Bild: Einst Flughafen, heute der beste Ort zum Himmelgucken: das Tempelhofer Fe… | |
Auf dem Tempelhofer Feld in Berlin ist der Horizont sehr weit. In echt, | |
nicht im übertragenen Sinn. Wer liegend in den Himmel schaut, sieht oft | |
Wolken, ab und zu Drachen und an guten Tagen viel Blauraum. Stehend glaubt | |
man sogar, die Krümmung des Erdballs zu erkennen. Großstädter:innen | |
sagen dann oft, wie gut es tut, mal wieder zu spüren, dass der Himmel weit | |
ist und die Welt groß. | |
Ich bemerke eher, wie klein ich eigentlich bin. Aber in beiden Fällen atmen | |
wir tiefer als sonst, und bald darauf denkt jemand laut nach über den | |
Zusammenhang zwischen dieser Aussicht auf die weite, geöffnete Welt und | |
dieser Ansicht namens Weltoffenheit. Thesen: Wer auf weite Horizonte | |
blickt, erweitert den Horizont auch in Gedanken. Wer mehr sieht, erkennt | |
mehr an. Dann streitet man über Kausalitäten, wirft die Thesen über den | |
Haufen und einigt sich schließlich, dass Reisen gerade sehr fehlt. | |
Vor der Pandemie war ich ständig unterwegs. Als Kind war ich in | |
Ostfriesland und in Shanghai, einmal auf Mallorca. Später: Paris, | |
Marseille, Prag, Lissabon, Tel Aviv, Nairobi, New York und so weiter. Ich | |
war in der Sächsischen Schweiz und in Ruanda. Mit dieser | |
Selbstverständlichkeit des Reisens war ich nicht allein, andere flogen nach | |
Bali und Kambodscha, lebten eine Weile in Australien, zogen dann nach | |
Stuttgart. Wir fanden die Welt groß und zugleich sehr erreichbar. Wir waren | |
vielleicht mehr im ständigen Übergang zu Hause, mehr auf einem Fensterplatz | |
als dort, wo wir mal geboren sind. | |
## Danach wird's eng | |
Die chinesische Familie ist sich einig, dass das Universum für meine | |
ständige Bewegung verantwortlich ist, weil ich im Zeichen des Pferdes auf | |
die Welt kam. Pferde galoppieren viel. „Fliegendes Pferd“, sagt Ayi und | |
streckt dabei die Arme vom Körper weg, als wären sie die Flügel eines | |
Flugzeugs. Die Wissenschaften bieten Erklärungen zwischen Globalisierung, | |
Mobilität, Multilokalität, Kosmopolitanismus. Und hätte ich als 17-Jährige | |
gewusst, dass ich auf die Frage „Wer bist du?“ auch mit etwas antworten | |
kann, das ich tue, dann hätte ich wohl gesagt: „Ich bin eine, die selten | |
stehen bleibt.“ | |
Jetzt ist das anders und ich frage mich, ob das mehr bedeutet als | |
Luxusfreizeitverlust. Ob es mit dem Alter unausweichlicher wird, den Radius | |
zu verkleinern. Früher habe ich über die größere Welt nachgedacht, jetzt | |
denke ich häufiger an das, was mir vor die Füße fällt oder darauf. These: | |
Früher war nichts genug und jetzt ist alles zu viel. | |
Ich habe Kapazität für unmittelbaren Schmerz, danach wird’s eng. Ich will | |
über meine Probleme hinausdenken, aber zwischen Arbeit und Arbeit scheint | |
keine Zeit vorgesehen für das Klettern über den Tellerrand. Das ist | |
solidaritätsfeindlich, das sollte doch anders sein, finde ich. Weil man | |
sich selbst sonst immer wichtiger nimmt und den Rest der Welt immer | |
unwichtiger. Weil man dann anfängt zu glauben, dass es eben ist, wie es ist | |
– bis man auf einem alten Flughafengelände liegt, müde, und dem Horizont | |
beim Schrumpfen zusieht. | |
12 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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