| # taz.de -- Roman „Benito“ von Hendrik Otremba: Wir glauben an die Verborge… | |
| > Ein blinder Seher simuliert einen Terroranschlag – warum? „Benito“ hei�… | |
| > der neue Roman von Hendrik Otremba über anarchistisches Denken. | |
| Bild: Hendrik Otremba ist bildender Künstler, schreibt Romane und ist Sänger … | |
| Die Figur des blinden Sehers ist alt, vielleicht so alt wie die Menschheit. | |
| Menschen, die nichts oder nur wenig sehen, schärfen die übrigen Sinne, um | |
| den Mangel an visueller Erfassung der Welt auszugleichen. Wir nehmen die | |
| Welt in einem synästhetischen Prozess wahr, in dem sich die Sinne ergänzen, | |
| auch wenn die abendländische Kultur dem Sehen im wörtlichen Sinn Priorität | |
| verliehen hat. | |
| Benito, der [1][Hendrik Otrembas neuem, drittem Roman] den Titel gegeben | |
| hat, ist solch ein blinder Seher. Er besitzt die Fähigkeit, die Welt zu | |
| erkennen, wie sie ist, weil er sich von deren Schein nicht blenden lässt. | |
| Er blickt, wie sein Erfinder schreibt, hinter die Oberflächen. Wie die | |
| biblischen Propheten mahnt er die Menschen zur Umkehr, damit nicht | |
| eintreten möge, was er in der Zukunft sieht. | |
| Hendrik Otremba schickt uns in seinem Roman auf eine Reise in die | |
| Vergangenheit. Wir schreiben das Jahr 2026. Der Erzähler, ein Essayist und | |
| Kulturwissenschaftler, kehrt von einer drei Jahre dauernden Auszeit im | |
| Apennin nach Deutschland zurück. Dorthin hat er sich geflüchtet, weil ihm | |
| die Fähigkeit zu schreiben abhandengekommen ist. | |
| Noch bevor er seine erste Vorlesung hält, nimmt er die Einladung zu einer | |
| Veranstaltung an, die im Bonner Hotel Paradies stattfinden soll. Dort | |
| versammelt sich Prominenz aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Auch der | |
| neugierige Erzähler fährt hin, obwohl – oder weil – er nicht weiß, wer i… | |
| eingeladen hat. | |
| Kaum hat das Stelldichein der Wichtigen und sich für wichtig Nehmenden | |
| begonnen, bricht Panik aus. Ein schwarz gekleideter Attentäter schießt wild | |
| um sich, dann begibt er sich Richtung Ausgang, zündet sich selbst an, tritt | |
| vor die Tür, feuert auf die inzwischen angerückte Polizei und wird selbst | |
| erschossen. | |
| Der Erzähler hat den Mann schnell erkannt, es ist sein alter Freund Benito, | |
| und er hat längst verstanden, dass Benito im Hotel Paradies niemanden | |
| erschossen hat. Zwar waren Schüsse zu hören und Mündungsfeuer zu sehen, | |
| doch keine Kugel hat seine Waffe verlassen. Sie ist eine Attrappe, der | |
| vermeintliche Terroranschlag eine Simulation. Benito wollte etwas sagen, | |
| aber was? | |
| ## Reise in die Vergangenheit | |
| Hendrik Otremba erzählt die Geschichte der Reise in die Vergangenheit in | |
| zwei Strängen, die parallel laufen und sich ergänzen. Der erste Strang ist | |
| aus der Perspektive des Erzählers geschrieben, der sich auf die Suche nach | |
| den Motiven Benitos macht, mit dem er einst eng befreundet war, als die | |
| beiden Jungen in dieselbe Pfadfindergruppe gingen. | |
| Der zweite Erzählstrang berichtet von einer Flussfahrt dieser Gruppe, die | |
| sich Schwarze Steine nennt. An ihrem Ende ereignet sich etwas, das der | |
| Erzähler verdrängt und das den blinden Benito endgültig zum Seher und | |
| zornigen Propheten gemacht hat: „Es muss etwas geschehen, etwas, das die | |
| Menschen aufweckt. Die Menschen müssen die Liebe wiederfinden, die Liebe zu | |
| sich und zu allem, das existiert. Der Schaden, der entstanden ist, wird | |
| morgen schon nicht mehr zu beheben sein. Die Welt wird untergehen, wenn die | |
| Menschen nicht reagieren, wenn sie sich nicht abwenden von Krieg und | |
| Vernichtung, von Verschmutzung und Zerstörung, von Hass und Ausbeutung.“ | |
| Der heilige, alttestamentlich anmutende Zorn, der sich in diesen Worten | |
| Benitos Bahn bricht, könnte befremdlich erscheinen, da er aus dem Mund | |
| eines Kindes kommt, aber das tut er nicht. Ist der Leser vom Autor mit | |
| gekonnter Leichtigkeit doch längst in eine Welt hineingezogen worden, in | |
| der kein Erwachsenenrealismus herrscht, sondern das magische Denken, der | |
| magische Realismus der Kindheit. | |
| Sie sind ja unter sich, die Schwarzen Steine Benito, Kippe, Mücke, Uğur, | |
| Fliegentöter und Cherubim, der sich bald als das kindliche Alter Ego des | |
| Ich-Erzählers herausstellt. Ihr Pfadfinderhäuptling ist zwar schon 19 Jahre | |
| alt, aber noch nicht ganz getrennt von der Sphäre der Kindheit. | |
| ## Alle auf ihre Weise Außenseiter | |
| Benito und Uğur sind Waisen. Cherubim leidet darunter, dass sein | |
| alkoholkranker Vater getrennt von der Familie lebt. Die Eltern | |
| Fliegentöters sind zu erfolgreich und mit sich selbst beschäftigt, um sich | |
| um ihr einziges Kind zu kümmern. Auch die anderen jungen Pfadfinder sind | |
| auf je eigene Weise Außenseiter. Sie stehen für uns alle, trennt doch jede | |
| und jede eine unsichtbare Barriere von dem, was man Gesellschaft nennt. | |
| Denn was für Cherubims Pfadfinderfreund Kippe gilt, lässt sich über alle | |
| sagen: All dessen Eigenschaften, so heißt es in der Flusserzählung, | |
| „tanzten auf einer Eisfläche, die zwar trug, sicheres, dickes Eis, aber | |
| deren darunter liegendes Wasser das Fragile bedeutete, abgegrenzt und | |
| versteckt, für eine andere Zeit, aus einer anderen Zeit“. In seinem Volumen | |
| sei dieses Wasser „größer als alles darauf“. | |
| Angesichts dieser unkommunizierbaren Volumina im Inneren der Einzelnen, | |
| deren diese sich nicht einmal selbst bewusst sind, erscheint verständlich, | |
| aber auch paradox, dass Benito die Einheit der Menschen und ihre Liebe | |
| zueinander beschwört. Dieser Wunsch nach Einheit ist es auch, der ihn | |
| schließlich, als erwachsenen Mann, zur radikalen Tat eines pazifistischen | |
| Attentats schreiten lässt, dem physisch nur sein Urheber, er selbst, zum | |
| Opfer fällt. Es liegt nahe, dass Otremba den Fahrtennamen seines blinden | |
| Sehers nicht zufällig gewählt hat. | |
| „Benito“ ist nicht nur ein hervorragend erzählter Roman, sondern auch eine | |
| Auseinandersetzung mit der Geschichte des wilden und manchmal gefährlichen | |
| Denkens, in der individualanarchistische Impulse dazu neigen, die | |
| Propaganda der Tat als reinen Ausdruck des als notwendig Erkannten | |
| erscheinen zu lassen. Benitos Fanal zeigt sich seinem Interpreten Cherubim | |
| so bald als eine Handlung, die ästhetische Überlegungen der Surrealisten | |
| und anderer antibürgerlicher Avantgardebewegungen aus dem Reich der Kunst | |
| in den Raum des Politischen transponiert. | |
| ## Gefahren der Souveränität des Einzelnen | |
| Cherubim sieht sich auf seiner zweiten Reise zusehends mit dem eigenen | |
| Trauma konfrontiert. Zudem muss er sich der Frage stellen, worin sich seine | |
| Haltung gegenüber der Welt, die er sich schreibend erschließt, von Benitos | |
| Willen zur Tat unterscheidet: „Ich hatte mit dem Schreiben immer jene Lücke | |
| zu schließen versucht zwischen dem, wie ich mir die Welt wünschte, und dem, | |
| wie ich sie vorfand. Doch es wollte mir nicht mehr gelingen.“ | |
| Benito versucht, diese Lücke auf seine Weise zu schließen, indem er nicht | |
| schreibt, sondern liest: Cherubim entdeckt, dass Benitos Simulation eines | |
| Terroranschlags Überlegungen des radikalen Theatermachers Antonin Artaud | |
| folgte. Otremba hat Benito eine Bibliothek eingerichtet, in dem die Bücher | |
| von Burroughs, von Kafka, Boyle, Houellebecq, Pahlaniuk, Jünger und des | |
| Una-Bombers stehen. | |
| Cherubim hat nach der Flussfahrt den Kontakt zu den anderen verloren. Die | |
| restlichen Schwarzen Steine aber haben einen Schwur geleistet: „Wir | |
| versprechen, dass wir niemals jemand sein wollen. Wir wollen auch | |
| vergessen, wer wir sind. Wir glauben an die Verborgenheit und die | |
| Verkleidung.“ | |
| „Benito“ ist ein anarchistischer Roman, der um die Gefahren eines Denkens | |
| weiß, das sich auf die Souveränität des Einzelnen beruft. [2][Im | |
| Anarchismus] ist für Otremba aber der ursprüngliche magische Impuls | |
| aufbewahrt, den die Menschen der Moderne vergessen haben: Die Welt | |
| erschließt sich nur im Hier und Jetzt. Benito gibt seinem Freund also ein | |
| Mantra auf den Weg: „Ich bin hier, jetzt gerade, in diesem Augenblick.“ | |
| 23 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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