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# taz.de -- Richtungswechsel bei der Labour-Partei: Die Tories höflich im Visi…
> Nach seiner Wahl zum Chef der britischen Labour-Opposition bietet
> Zentrist Keir Starmer der Regierung von Boris Johnson Zusammenarbeit an
Bild: Der neue Labour-Chef Keir Starmer, hier auf dem Labour-Parteitag 2019
London taz | „Wir werden eine neue Rolle spielen. Wir werden Keir zur
Verantwortung ziehen und sicherstellen, dass er seine Versprechen hält“,
hieß es am Samstag in einer etwas seltsamen Glückwunscherklärung an den
neuen Chef der britischen Labour-Partei. Die Worte kommen von der
Basis-Bewegung Momentum, die der Unterstützung des bisherigen Labourchefs
Jeremy Corbyn diente. Sie symbolisieren den Frust jener, die in den letzten
fünf Jahren das Ruder der linken britischen Oppositionskraft führten und
denen dieses jetzt aus der Hand gerutscht ist.
Sir Keir Starmer, 57jähriger ehemaliger Generalstaatsanwalt mit markantem
Linksscheitel und stets roten Bäckchen, zuletzt Schattenminister für den
Brexit, wurde am Samstagvormittag mit 56,2 Prozent der Stimmen zum Sieger
der [1][Urwahl unter den Labour-Mitgliedern] um die Nachfolge Corbyns
erklärt und übernahm sogleich das Amt. Seine von Momentum unterstützte
Hauptrivalin Rebecca Long-Bailey landete bei nur 27,6 Prozent.
Trotz der gleichzeitigen Wahl der corbyn-nahen bisherigen
Schattenministerin für Bildung, Angela Rayner, zu Starmers
Stellvertreteterin – die 40-Jährige hat einen bemerkenswerten Lebenslauf
hinter sich, so wurde sie im Alter von 16 Jahren Mutter und schied aus der
Schule aus – gilt Starmers Krönung als Umbruch. Viele, wie der populäre
karibischstämmige Tottenham-Abgeordnete David Lammy, hoffen, dass Labour
nun endlich wieder regierungsfähig wird.
[2][Corbyn, seit 2015 Parteichef], hatte bei vorgezogenen Parlamentswahlen
2017 überraschend stark zugelegt, doch Labour bei den Wahlen vom Dezember
2019 zum schlechtesten Ergebnis seit 1935 geführt. Er schaffte es weder,
die teils katastrophale zehnjährige konservative Austeritätspolitik und die
chaotischen Regierungsverhältnisse unter Theresa May und dann Boris Johnson
auszunutzen, noch eine effektive Oppositionskraft inmitten des
Brexitprozesses aufzubauen. Das verstand am Ende auch Corbyn selber, indem
er direkt nach der Wahlniederlage vom Dezember seinen Rücktritt ankündigte.
## Manche Linke sehen Keir Starmer als Bedrohung
Die letzte Labour-Regierung ist inzwischen so lange her, dass der Versuch
mancher Tories, mitunter auch Johnson, die Schuld für manche Probleme auf
die frühere Labour-Regierung zu schieben, keine Wirkung mehr haben, und das
nicht nur weil der konservative Finanzminister Rishi Sunak ohnehin gerade
aus der Staatskasse verteilt, was das Zeug hält.
Wie es Großbritannien heute geht, hat inzwischen nur noch die Konservative
Partei zu verantworten. Johnsons Umfragewerte, welche nach seinem Wahlsieg
und vor allem zu Beginn der Coronakrise in Höhe schossen, leiden nun selbst
unter dem Virus, und zwar nicht nur, weil sich der Premier selber infiziert
und mittlerweile erkrankt ist, sondern auch weil lang bekannte Schwächen
des Gesundheitssystems nun in seiner Verantwortung liegen.
Manche Corbynunterstützer*innen, etwa Yvonne Williams von der Kampagne
Justice4Grenfell, lamentieren nun, dass alles, auch die Coronaviruskrise,
unter Corbyn anders und besser gelaufen wäre. Am Freitagabend, als das
Wahldebakel der Labour-Linken schon klar war, dominierten Corbyn-treue
Tweets mit dem Hashtag #ThankYouCorbyn die britischen sozialen Medien.
Manche Linken sehen den neuen Parteiführer offen als Bedrohung. So schreibt
die linke Kabarettistin Francesca Martinez, Starmer werde in den Medien
willkommen geheißen, „weil er die Interessen der mächtigen Ein Prozent
nicht bedroht.“
Doch Tatsache ist, dass sich bei der parteiinternen Wahl sogar die Mehrheit
der Labour-affiliierten Gewerkschaften gegen den Corbyn-Flügel wandten. Nur
zwei Stunden nach Starmers Sieg verloren die Corbynistas auch noch
unerwartet ihre Mehrheit im Parteivorstand, als bei Nachwahlen ultralinke
Kandidat*innen ihre Posten verloren.
Mit Starmer hat Labour nun einen gründlich und forensisch arbeitenden
Parteiführer, der bisher jeglichen Versuch der Verleumdung überstanden hat.
Das Schlimmste, das Starmer nachgesagt werden kann, ist, dass er etwas
langweilig wirkt, sagen Labour-Aktivisten. Aufgrund seiner Karriere in der
Justiz, für die er den Ritterschlag der Queen erhielt, ist er zudem
parteiübergreifend glaubwürdig.
Das war auch der Grund, weshalb ihn Labour 2015 für den absolut sicheren
Wahlkreis St. Pancras und Holborn im Nordlondoner Innenstadtbezirk Camden
aufstellte und ins Parlament wählen ließ – zur Enttäuschung einer anderen
damaligen Hoffnungsträgerin, die anders als Starmer lokal in Camden
verankert war.
## Ein anderer Stil als Corbyn
In seinem Programm zur Führungswahl blieb Starmer linken Grundsätzen treu:
wirtschaftliche, soziale, gesundheitliche und klimatische Gerechtigkeit,
Förderung von Frieden und Menschenrechten, „gegen Militärinterventionen und
illegale Kriege“. Starmer bleibt bei Corbyns Forderung nach
Wiederverstaatlichung privatisierter Dienste wie Bahn, Post, Energie und
Wasser. Schutz für Migrant*innen führt er genauso auf wie Stärkung der
Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsrechte, eine Föderalisierung des
Vereinigten Königreichs und eine Demokratisierung des House of Lords
zugunsten eines gewählten Oberhauses.
Der Unterschied zu Corbyn liegt im Stil: noch am Samstag rief Starmer in
einem Brief an die Labour-Parlamentsfraktion zu „Professionalität und
Höflichkeit“ in der Politik auf und lobte die Labour-Abgeordneten, von
denen viele ständig mit Momentum-Basisaktivisten in ihren Ortsverbänden
über Kreuz lagen, als „Führer der Partei auf lokaler Ebene“, die jetzt
beweisen könnten, „dass die Partei sich einigen kann, um zu siegen“.
Labour, sagte Starmer in seiner auf Video veröffentlichten Antrittsrede,
solle nun das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen. „Niemals wieder
darf Labour eine Partei sein, die Millionen für regierungsunfähig halten
oder für unfähig, für die Wirtschaft und Sicherheit des Landes zu sorgen.“
Er wandte sich sogar direkt an Großbritanniens jüdische Bürger*innen und
stellte klar, Antisemiten hätten bei Labour nichts zu suchen. „Es tut mir
leid, und ich werde das antisemitische Gift in der Partei ausmerzen“,
versprach er. Erfolg, hat er oft wiederholt, bedeute, wenn die Anzahl
jüdischer Parteimitglieder wieder steige.
[3][Die „Jüdische Arbeiterbewegung“(JLM)] begrüßte Starmers Wahl, obwohl
die Mehrheit der Bewegung selber die auf dem dritten Platz gelandete Lisa
Nandy bevorzugt hatten. JLM spricht nun von einem langen Heilprozess. Die
Ergebnisse der Untersuchung der unabhängigen britischen
Menschenrechtskommision zu Vorwürfen des institutionellen Antisemitismus
bei Labour unter Corbyn stehen noch aus. Starmer und Rayner haben
versprochen, deren Empfehlungen umzusetzen.
Das nehmen mache Corbynistas, die die [4][Antisemitismusvorwürfe gegen
Labour] für ein Komplott halten, ihnen übel. Der 29jährige Rob Abrams, ein
jüdisches Parteimitglied in Nordlondon, ist denn auch skeptisch: „Den
Glauben, dass Antisemitismus in der Partei urplötzlich mit Corbyn
verschwindet, halte ich für extrem naiv“, sagt er. „Der größte derzeitige
Unterstützer Starmers in meinem Ortsverein hat dort einst selber
antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet, und als mich ein Mitglied
der Labour-Student*innenvereinigung als ‚Zio‘ beschimpfte, entpuppte er
sich als ein Blair-unterstützender Stadtrat und Freund Gordon Browns. Ich
hoffe dass die Erinnerung tiefer geht.“
## Konstruktive Zusammenarbeit in der Corona-Krise
Keine Worte hat Starmer seit seiner Wahl für den Brexit gefunden. Für den
bisherigen Schatten-Brexitminister ist das Thema abgehakt. In seiner
Antrittsrede sprach Starmer stattdessen von Zusammenarbeit mit der
Regierung Boris Johnson in der Coronakrise – auf konstruktive Art, „nicht
einfach nur um als Opposition etwas Konträres zu sagen.“ Einer Einladung
Johnsons zu einem Corona-Sondertreffen aller Parteienführer hat Starmer
bereits zugesagt.
Starmer mag Starjurist mit Adelstitel von der Queen sein, aber er stammt
aus bescheidenen Verhältnissen im Süden Englands. Seine Mutter war
Krankenschwester, die lange an einer chronischen Krankheit litt, sein Vater
war Werkzeugmacher. Die Kandidatur zur Labourspitze entwickelte sich für
Starmer sogar zu einer unerwarteten persönlichen Herausforderung, als vor
wenigen Wochen seine Schwiegermutter an den Folgen eines Autounfalls starb.
Seine Frau Victoria, mit der er zwei Kinder hat, entstammt einer jüdischen
Familie; es gibt Angehörige in Tel Aviv.
Corbyn selber verabschiedete sich öffentlich bereits am vergangenen
Mittwoch im Unterhaus. „Ich werde mich weiterhin für Sozialismus, Frieden
und Gerechtigkeit einsetzen“, versicherte er. Sein Kommunikationschef
Seumas Milne trat zurück, mit anderen Rücktritten von Corbyn-Getreuen wird
gerechnet.
Innerhalb der nächsten Tage wird Starmer auch ein neues Schattenkabinett
berufen. Dann hat Boris Johnsons Regierung eine neue Opposition.
5 Apr 2020
## LINKS
[1] /Antisemitismus-in-der-Labour-Partei/!5654794/
[2] /Portraet-Jeremy-Corbyn/!5231897/
[3] /Antisemitismus-in-der-Labour-Partei/!5578949/
[4] /Linker-Judenhass-in-Grossbritannien/!5494458/
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
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