| # taz.de -- Nach der Niederlage der Labour-Partei: Vorwärts ist keine Richtung | |
| > Nach der krachenden Wahlniederlage von Großbritanniens Labour-Partei | |
| > lautet die Devise der Führung um Jeremy Corbyn: Weiter so. | |
| Bild: Die Luft ist raus: Nach dem Wahldebakel fehlt es Labour an Ideen | |
| London taz | Es war mitten in einer TV-Debatte im britischen Wahlkampf, die | |
| Diskussion hatte sich gerade dem Pflegenotstand zugewandt. Schottlands | |
| Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon betonte, dass in Schottland die | |
| häusliche Pflege ins staatliche Gesundheitssystem NHS integriert und damit | |
| kostenlos sei. Andere Briten müssten dafür ihre Ersparnisse und Immobilien | |
| aufwenden. Also fragte Adam Price, Chef der walisischen Nationalpartei | |
| Plaid Cymru: Warum ist Pflege nicht auch in Wales kostenlos, wo Labour die | |
| Regionalregierung stellt? | |
| Labour-Vertreter Richard Burgon antwortete, er sei über diese Frage | |
| „enttäuscht“. Price ließ nicht locker: „Wenn es in Schottland geht, war… | |
| nicht in Wales, wo Ihre Partei regiert?“ Burgon grinste gequält und | |
| schwieg. Das Publikum brach in schallendes Gelächter aus. | |
| Wenn einmal die Geschichte des Labour-Wahldebakels am 12. Dezember 2019 | |
| geschrieben wird, dürfte diese Episode höchstens eine Randnotiz wert sein. | |
| Aber aus vielen Randnotizen ergibt sich ein ganzer Katalog von Fehltritten, | |
| die Labour von 40 auf 32 Prozent der Stimmen abrutschen ließen und von 262 | |
| auf 203 der 650 Sitze im Unterhaus, das schlechteste Ergebnis seit 1935. | |
| Viel ist seitdem über Gründe gesprochen worden: die fehlende Haltung zum | |
| Brexit, die Unbeliebtheit des Parteiführers Jeremy Corbyn. Wenig | |
| thematisiert wird hingegen, dass Labour in Großbritannien Teil des | |
| Establishments ist und nicht nur an seinen Versprechen, sondern auch an | |
| seiner Bilanz gemessen wird. Und die ist schlecht. | |
| ## Die Labour-Bastionen fallen | |
| Die Linke regiert Wales seit Einführung der regionalen Autonomie 1999. | |
| Labour stellt in zwei der drei größten städtischen Ballungsräume Englands, | |
| London und Manchester, den Bürgermeister. In weiten Teilen Nord- und | |
| Mittelenglands regiert Labour Kommunen und Distrikte. Aber im Wahlkampf kam | |
| diese Ebene nicht vor. | |
| Nun fällt eine Bastion nach der nächsten. Bereits 2015 verlor Labour die | |
| traditionelle Hochburg Schottland. Diesmal verlor Labour reihenweise alte | |
| Wahlkreise in den Industrierevieren von Nord- und Mittelengland. Die | |
| Menschen wenden sich am stärksten [1][dort von Labour ab], wo die Partei | |
| historisch am meisten zu sagen hat. Nur London hält noch – aber wie lange? | |
| Im Südlondoner Innenstadtwahlkreis Vauxhall ging es im Wahlkampf um | |
| Gentrifzierung, Verdrängung und bezahlbaren Wohnraum. Labour hatte mit der | |
| nigerianischstämmigen Florence Eshalomi eine kämpferische junge | |
| Corbyn-Anhängerin ins Rennen geschickt, die auf einer Veranstaltung | |
| wortgewandt die Enteignung von Immobilienspekulanten forderte und | |
| verlangte, dass Milliardäre und Großkonzerne endlich ihre Steuern zahlen. | |
| Aber sie reagierte mit defensiven Plattitüden, als sie aus dem Publikum | |
| gefragt wurde, warum der lokale Labour-Bezirksrat mit ihrer Zustimmung | |
| billigen Wohnraum vernichte und wieso die Labour-Stadtregierung einen | |
| Luxusimmobilienentwickler fördere, um NHS-Grundstücke in Vauxhall zu | |
| erwerben. Eshalomi konnte den Wahlkreis zwar halten, doch die stärksten | |
| Zugewinne in Vauxhall verzeichneten die Grünen, die in Großbritannien für | |
| Widerstand von unten gegen Technokraten stehen. | |
| Labour bleibt trotz aller Erneuerungsversuche der vergangenen Jahrzehnte | |
| eine Partei der Staatsgläubigkeit und des Alleinvertretungsanspruchs. | |
| Früher gaben die Gewerkschaften den Ton an, meist aus dem öffentlichen | |
| Dienst, heute sind es die linken Aktivisten, ebenfalls häufig aus dem | |
| öffentlichen Dienst. Beide reagieren auf Kritik mit reflexhafter Schmähung: | |
| innerparteiliche Gegner werden niedergemacht, andere linke Kräfte wie Luft | |
| behandelt. [2][Populistische Breitseiten] gegen „die Milliardäre“ ersetzten | |
| im Wahlkampf die Auseinandersetzung über eine überzeugende Alternative zu | |
| den Tories. | |
| ## Schuld sind die anderen | |
| Das hat sich seit der Niederlage kaum verändert. Diesen Freitagmorgen | |
| twitterte Jeremy Corbyn: „Was war es an unseren Plänen, die Superreichen | |
| zum Zahlen ihres fairen Anteils zu zwingen, das die milliardenschweren | |
| Pressebarone nicht mochten?“ | |
| Aus Corbyns Sicht hat Labour alles richtig gemacht – schuld sind die | |
| anderen. Umfragen seit der Wahl zeigen, dass Labours Wahlprogramm – | |
| Verstaatlichung großer Dienstleister, staatlich verwaltete | |
| Arbeitnehmeranteile in Großunternehmen, massive Ausweitung der | |
| Sozialausgaben – durchaus auf Sympathien stieß. Doch die Wähler trauten | |
| Labour nicht zu, abzuliefern, ganz abgesehen vom Unbehagen über Corbyn. Mit | |
| diesem Misstrauen konnte die Partei nicht umgehen, nachjustieren konnte sie | |
| nur in eine Richtung: noch mehr Wahlversprechen. | |
| „Jeder Tag begann mit dem Versuch, das Chaos zu beseitigen, das die | |
| Konfrontation mit den Sorgen der Wähler über Nacht hinterlassen hatte“, | |
| schimpfte der ehemalige Abgeordnete James Frith, nachdem er seinen einst | |
| sicheren Wahlkreis Bury North im Großraum Manchester ganz knapp an die | |
| Konservativen verlor. „Es sollte nicht überraschen, dass städtische Wähler, | |
| die kaum über die Runden kommen, von Versprechen üppiger Wohltaten und | |
| Gratis-Zeug wenig beeindruckt sind. Wenn man zu wenig hat, weiß man genau, | |
| was die Dinge kosten, die man sich nicht leisten kann. Und man wird | |
| misstrauisch bei dem Wort ‚gratis‘.“ | |
| Tony Blair, der einzige Labour-Politiker seit 1974, der je britische Wahlen | |
| gewonnen hat, verglich die Partei mit einem Fußballteam, „wo der Stürmer | |
| nicht weiß, in welche Richtung er spielen soll, das Mittelfeld im Koma | |
| liegt, die Verteidiger zur Tribüne gegangen sind und mit Fans plaudern, und | |
| der Torwart hinterm Netz steht und ein Video von seinem einzigen gehaltenen | |
| Ball bei einer 9:0-Niederlage twittert.“ | |
| ## Was fehlt sind konstruktive Ideen | |
| Labour, so Blair diese Woche in einer Rede, brauche eine neue politische | |
| Agenda: „Selbstdisziplin statt Selbstbefriedigung; hören, was die Menschen | |
| sagen und nicht nur, was wir hören wollen“ und „ein Regierungsprogramm, | |
| keinen Wutausbruch“. Progressive Politik im 21. Jahrhundert bedeute „eine | |
| komplette Neuordnung von Staat und Regierung; ein Fokus auf Bildung und | |
| Infrastruktur; neue Umgangsformen mit vererbter Armut; eine Neukonzeption | |
| von Unternehmensverantwortung; ein nationaler und internationaler Anschub | |
| von Wissenschaft und Technologie für den ökologischen Wandel und | |
| spezifische Maßnahmen, um Menschen und Gemeinschaften wieder einzubinden, | |
| die der Wandel der Globalisierung zurückgelassen hat.“ | |
| Doch Blairs Kritik ist nicht viel mehr als der Weckruf eines Besserwissers, | |
| der selbst zehn Jahre Zeit hatte und damals lieber gemeinsam mit George W. | |
| Bush Krieg führte. Blair ist bei Labour eine Unperson geworden. Corbyns | |
| Labour definiert sich als [3][Gegenpol zu Blairs New Labour]. | |
| Gleichzeitig sind viele der heutigen Corbyn-Fans unter Blair aufgewachsen | |
| und profitierten von New Labours Förderung benachteiligter Familien und der | |
| Erleichterung des Zugangs zu höherer Bildung. Labours Dilemma besteht auch | |
| darin, dass das eigene Erbe im Guten wie im Schlechten nicht verinnerlicht | |
| und nicht darauf aufgebaut wurde. Stattdessen soll immer neu reiner Tisch | |
| gemacht werden – mit den alten Strukturen. Das hielt Blair früher genauso | |
| wie Corbyn heute. | |
| In der Partei fehlen konstruktive Ideen. Eine Studie des Thinktanks „Fabian | |
| Society“ zu Lehren aus der Wahlniederlage bleibt bei taktischen | |
| Überlegungen. „Die Priorität muss sein, Unterstützung in Kleinstädten in | |
| Wales, Nord- und Mittelengland zu gewinnen“, heißt es. Inhaltliche Aussagen | |
| fehlen komplett. Auch die bekannteste Anwärterin auf Corbyns Nachfolge, | |
| Schattenaußenministerin Emily Thornberry, schrieb, die richtige Antwort auf | |
| die Wahlniederlage sei „sicherlich nicht eine große ideologische Debatte“. | |
| Stattdessen müsse man „Johnson herausfordern“ und „unsere Maschine | |
| wiederaufbauen“. Rezepte von gestern für das Großbritannien von morgen. | |
| 21 Dec 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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