# taz.de -- Proteste in Haiti: Die Kontinuität der Ignoranz | |
> In Haiti tobt ein Aufstand. Den Rest der Welt interessiert das bislang | |
> nicht sonderlich – dabei trägt die internationale Gemeinschaft eine | |
> Mitverantwortung. | |
Bild: Landesweit gehen die Haitianer gegen ihre korrupte Regierung auf die Stra… | |
Dass in Haiti seit einem Jahr regelmäßig Demonstrationen stattfinden, die | |
sich in den vergangenen fünf Wochen [1][zu einem landesweiten Aufstand | |
gegen die Regierung] unter Präsident Jovenel Moïse entwickelten, wurde in | |
der medialen Prioritätenliste der westlichen Öffentlichkeit unter „ferner | |
liefen“ behandelt. Dabei gibt es gute Gründe, sich den Aufruhr im ärmsten | |
Land Lateinamerikas genauer anzusehen. | |
Der Aufstand nahm seinen Ausgangspunkt mit der Aufdeckung des | |
Petrocaribe-Skandals, der Veruntreuung von Millionensummen aus den | |
Einnahmen durch den Verkauf venezolanischen Erdöls, das der haitianischen | |
Regierung für einen nicht allzu teuren Kredit zum Weiterverkauf zur | |
Verfügung gestellt wurde. Bereichert hat sich eine kleine Schicht privater | |
Unternehmer und Regierungsmitglieder; darunter soll auch der jetzige | |
Präsident sein. | |
Interessant ist nicht so sehr die Korruption, die in ganz Lateinamerika ein | |
zentrales Thema ist. Interessanter ist eher, dass der Skandal nicht nur in | |
Haiti selbst, sondern auch in der nordamerikanischen haitianischen Diaspora | |
aufgedeckt wurde und einen gemeinsamen, sich gegenseitig inspirierenden | |
politischen Protest provoziert hat. So blockierte die haitianische Diaspora | |
in Montréal und New York Auftritte von Haitis Ex-Präsidenten Michel | |
Martelly, der nach dem schweren Erdbeben 2010 von den USA und der | |
internationalen Gemeinschaft [2][durchgesetzt wurde]. Seither bestimmt eine | |
gut gebildete junge Mittelschicht in- und außerhalb Haitis den Ton der | |
Debatte. Es geht nicht mehr nur um einen Regierungswechsel – gefordert wird | |
ein Systemwechsel. | |
Und diese Forderung ist ernst gemeint. Seit Wochen brennen Barrikaden auf | |
den Straßen aller Städte in Haiti, es kommt regelmäßig zu Gewalt. Erst am | |
Wochenende wurde in Port-au-Prince wieder ein Mensch erschossen und der | |
Schütze wiederum von Demonstranten gelyncht. Zigtausende demonstrieren | |
unablässig gegen die Regierung und gegen die UNO als Symbol der äußeren | |
Einmischung. Am vorvergangenen Sonntag folgten Zehntausende dem Aufruf von | |
Musikern und zogen wie an Karneval durch die Straßen der Hauptstadt | |
Port-au-Prince mit dem Ruf: „Jojo dòmi deyò“, „Jojo (Jovenel), schlaf | |
auswärts“. | |
## So kann es für niemanden weitergehen | |
Der Aufstand macht nur gelegentlich Pause, damit die Teilnehmenden sich | |
erholen oder einkaufen können. Und alle, die sich in Haiti traditionell | |
Zivilgesellschaft nennen, von der Gewerkschaft der Motorradtransporteure | |
und Tap-Tap-Fahrer über Menschenrechts- und Bauernorganisationen bis zu | |
einflussreichen Handelskammern, haben sich mit einem sechsseitigen | |
„Manifest zur Rettung“ zu Wort gemeldet. | |
Der Abtritt des Präsidenten Moïse, den wohl nur noch eine äußere | |
Einmischung oder ein ganz schmutziger Krieg retten könnte, soll nur den | |
Anfang für einen tiefgreifenden Veränderungsprozess darstellen. | |
Denn so wie die Verhältnisse in Haiti sind, kann es für niemanden | |
weitergehen. Der Status quo ist unerträglich und zugleich geradezu | |
lächerlich geworden. Unerträglich, weil 80 Prozent der Bevölkerung von zwei | |
Dollar am Tag oder darunter leben müssen, während sich die wenigen | |
Privilegierten einer Belagerung durch die ständig wachsenden Armutsviertel | |
ausgesetzt sehen. Weil die Armen keinen Zugang zu Bildung, zu Gesundheit | |
oder zu einem würdigen Wohnen haben, steht die Forderung nach Umverteilung | |
im Fokus des angestrebten Systemwechsels. | |
Lächerlich deshalb, weil wenige oligarchisch organisierte Reiche den Staat | |
quasi zu ihrem Eigentum gemacht haben. Da werden dann schon mal 100.000 | |
Dollar geboten, um die Stimme eines Senators zu kaufen. Wie kürzlich, als | |
es um die Installation eines neuen Regierungschef ging, der bis heute trotz | |
der erklecklichen Summen nicht gewählt wurde. | |
## Unrühmliche Einmischung | |
Was in diesem Kontext viel häufiger zur Sprache kommen müsste, ist die | |
Verantwortung der sogenannten internationalen Gemeinschaft am gegenwärtigen | |
Zustand Haitis. Diese tritt ziemlich unrühmlich noch als Core Group in | |
Erscheinung, der neben der UNO, den USA, Kanada und Frankreich unter | |
anderem auch Deutschland angehört, und stützt Moïse nach wie vor in seinem | |
lächerlichen Dialog-Aufruf, der nichts anderes als Kosmetik ist. | |
Dabei ist Haiti in mehrfacher Hinsicht ein Land mit historischer Bedeutung. | |
Die Karibikinsel war als Saint-Domingue der Ausgangspunkt der Eroberung | |
und Kolonisierung Lateinamerikas. Tatsächlich wurde hier zum ersten Mal der | |
koloniale Rassismus konstruiert. | |
Jede postkoloniale Debatte nimmt also hier ihren räumlichen Ausgangspunkt. | |
Mit Haiti, der reichsten Kolonie Frankreichs, begann zudem der | |
Sklavenhandel, der sich nahtlos in die koloniale Vorstellung von der | |
Überlegenheit der Weißen einfügt, die in Saint-Domingue begründet wurde. | |
Und: In Haiti gab es den ersten erfolgreichen Sklavenaufstand. Im Anschluss | |
an die Französische Revolution (und zum Teil ausgebildet in Frankreich) | |
forderten Sklavinnen und Sklaven ihre Gleichstellung und erreichten 1804 | |
die Unabhängigkeit, lange vor dem Rest Lateinamerikas. Nicht zuletzt wurde | |
die bis heute uneingelöste Forderung nach der Universalität der | |
Menschenrechte in Haiti weiterentwickelt. Dem Ausschluss Haitis aus der | |
kolonial organisierten Welt folgte die Agonie des Landes, die durch | |
regelmäßige Interventionen der USA und zuletzt internationaler UNO-Truppen | |
und NGOs nach dem Erdbeben von 2010 verschärft wurde. | |
Bemerkenswert ist, dass der gegenwärtige Aufstand in Haiti diese Geschichte | |
im Blick hat, aber sich nicht von einem falschen Patriotismus vereinnahmen | |
lässt. Und: Anders als früher vertraut er nicht auf Hilfe aus dem Ausland. | |
Die Haitianerinnen und Haitianer wollen ihre Geschicke selbst in die Hand | |
nehmen. Und vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass sie sich damit | |
unterhalb des Radars einer nach wie vor von kolonialem Denken geprägten | |
westlichen Öffentlichkeit bewegen. | |
29 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Katja Maurer | |
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