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# taz.de -- Premiere "Endlich Kokain" I: Stephan Braum, Superstar
> Joachim Lottmann kann die Inszenierung seines Stücks "Endlich Kokain"
> nicht selbst rezensieren. Deshalb macht's Jolandi Stützer.
Bild: Coming-Out nach langer Demütigung: Hauptfigur Stephan Braum im Stück "E…
BREMEN taz | Schon der Beginn ist toll: ganz langsam verlischt das Licht,
ein minutenlanger Prozess, bei dem, begleitet von psychodelischen
Sphärenklängen, das verzweifelte Spießergesicht Stephan Braums
überlebensgroß auf der Videoleinwand immer deutlicher hervortritt.
Was für ein armer Mann! Was für ein Hund! Norwegerpulli, Kassenbrille,
Bart, schütteres rotes Haar. Jeder, der das Buch [1]["Endlich Kokain"]
gelesen hat, erkennt: Das ist Stephan Braum, so sah er aus, in seinem
ersten Leben, definitiv!
Der Regie ist mit dem deutsch-französischen Schauspieler Matthieu Svetchine
ein Coup gelungen, ein toller Fang. Matthias Brandt, der den Stephan Braum
demnächst im Film spielen soll, wird hart arbeiten müssen, um ebenso gut zu
sein. So rührend, so traurig, so alterslos alt und ohnmächtig sitzt er
übergewichtig in einem Sessel und braucht volle 20 Bühnenminuten, ehe er
sich überhaupt aufzustehen traut, tapsig und ängstlich.
Da spielt die Mädchenband "Zucker", die den Soundtrack zum Stück
geschrieben hat und live vorträgt, bereits eine Interpretation von "Lucy in
the Sky with Diamonds". So viel akustische Euphorie ist auch nötig, um die
morschen Knochen noch mal hochzukriegen.
Braum erzählt uns dann recht plastisch und ordentlich seine ersten
Drogenerfahrungen. Um ihn herum bewegen sich viele junge Frauen, die
kokainweiße Lack-Kittel und hellblond glänzende, glatte Haare tragen, die
Frisur der besten Supermodels. Xenia ist darunter, die erste Frau seit
gefühlt 100 Jahren, die mit ihm ins Bett geht, und Doreen, die zweite.
Bühnenbild, Kostüme, Licht und Technik folgen alle der kokainästhetischen
Linie. Oft sieht man nicht mehr als auf jenen trockennebelgeschwängerten
Tanzflächen der Clubs, in denen die koksende Bohème Wiens - und später
Berlins - verkehrt.
Die immer wieder enorm dramatisierende Musik der Band
[2][//de-de.facebook.com/zuckerzucker:"Zucker"] - ein cooles Mädchen namens
Pola Schulten und ihre noch coolere Freundin Christin Elmar Schalko - hat
großen Anteil am Gelingen des Konzepts, das ohne dem womöglich eine
Kopfgeburt des modernen Regietheaters geblieben wäre.
Man muss sich das vor Augen halten: außer Stephan Braum werden alle anderen
Rollen von diesen geklonten Weißkitteln gespielt. Braums Vorgesetzter sieht
genauso aus wie sein Bruder, seine Ex-Frau, sein Dealer, seine Koksmädchen
und die halluzinierten Wiedergänger aus seiner Jugend.
Wie soll man sie unterscheiden? Die ganze Welt ein scharfes Supermodel,
wieso? Ist das jetzt die Wahrnehmung eines [3][Junkies]? Nein, es ist die
Wahrnehmung eines Menschen, der nach lebenslanger Demütigung gerade sein
Coming-out erlebt. Und die brillanten Schauspielerinnen schaffen es durch
eine perfekte Modulation ihrer Stimmen, die verschiedenen Charaktere
erkennbar zu machen.
Überhaupt diese Stimmen: Sie tragen bis auf den letzten Platz des Großen
Hauses, transportieren den unveränderten, an keiner Stelle postmodern
umgeschriebenen Romantext bis zu den hintersten Stehplätzen. Das Publikum
besteht zudem nur aus jungen Leuten, die haben noch ein gutes Gehör und
verstehen jede Nuance. Auf der Videoleinwand leuchten außerdem die Namen
der gerade Agierenden auf. Eine feine Sache.
Stephan Braum alias Matthieu Svetchine, alles andere als ein
Body-Builder-Typ, muss fast drei Stunden durchhalten, und in der letzten
Stunde steht er dann komplett alleine auf der Bühne, hat den Endlosmonolog
eines Wahnsinniggewordenen zu spielen. Ganz schön heavy. Vor allem, weil er
sich noch steigert.
Immer wenn man glaubt, jetzt fällt er erschöpft und mit Schaum vor dem Mund
zusammen, dreht er noch mehr durch. Bei Hölzl, in gewisser Weise seinem
Drogen-Vorgänger in dem Stück, ist es anfangs ähnlich, und der kollabiert
wirklich, stirbt fast, fällt ins Koma. Braum dagegen kriegt dann doch die
Kurve.
Braum schwitzt, schreit, tanzt, lacht, und dass ihm das Schwitzen nichts
mehr ausmacht, ist sehr schön. Gibt es etwas Peinlicheres als Schwitzen?
Für Braum war es früher so, es war Sinnbild und Strafe zugleich für sein
Peinlichsein. Nun tanzt er wie ein junger Gott, oder wie ein dicker Gott,
und alle lieben ihn dafür.
Er ist ganz bei sich, tanzt für niemanden sonst als für sich und wird immer
temperamentvoller dabei. Angefangen hatte er mit ganz kleinen Schnittchen
und zitternden Minimalbewegungen wie ein dressierter, geschlagener Tanzbär.
Nun sieht man den enthemmten Martin Kippenberger auf der Bühne - falls
jemand den tanzenden Martin Kippenberger je erlebt hat, den viel zu früh
gestorbenen Jahrhundertmaler, der nach Angaben des Autors Pate gestanden
haben soll.
Das Publikum bestand ja offenbar aus Lottmann-Experten, sonst wären die
Lachsalven bei allen guten Stellen nicht zu erklären. Das Buch dürften die
meisten gelesen haben. Manchmal fühlte es sich an wie bei Botho Strauß und
"Kalldewei Farce", etwa bei der Stelle, wo Braum seine Jugendliebe Dorothee
Berghaus und deren Hippiemutter trifft. Die Heiterkeit übertönt die Stimmen
der Schauspieler, und das ist nur durch diese Vordertüre zu erklären.
Wie gesagt, Svetchine hält die Rolle bis zur letzten Sekunde durch, diese
verklemmte, schüchterne, gebrochen gut erzogene Art, die sich im Kokain
allmählich verändert, ohne jemals ganz zu verschwinden. Wunderbar. Ein
Highlight dabei ist die intime erste Begegnung Braums mit dem angesagten
Super-Galeristen Harry Lübke. Es geht auf gleich mehreren Ebenen nicht ganz
koscher zu.
Braum spielt den Freund Hölzls, der er nicht ist, dazu den Kunsthändler,
der er auch nicht ist, sowie den Supercoolen, der er nie war, und Lübke
lügt auf ähnliche Weise, spielt den Vergesslichen und Zerstreuten, den
Drogenfreund, den Macho. Unausgesprochen einigen sie sich auf einen
halbkriminellen Mehrgewinn in sechsstelliger Höhe. Das alles war schon im
Roman recht überzeugend, weil kenntnisreich aufgeblättert worden.
Der Autor lebte fast zwei Jahrzehnte lang im Kunstbereich. Legendär sind
seine gemeinsamen Arbeiten und Aktionen mit Kippenberger und seinen
Spießgesellen. Aber erst hier und jetzt auf der Bühne scheint die Brisanz
dieses Lebens kongenial ausgedrückt zu sein.
Fantastisch ist der Schluss. Hölzl, aus dem Koma aufgewacht, hat für seinen
zwischenzeitlichen Nachlassverwalter nur noch niedere Aufgaben übrig, etwa
die Funktion des Türstehers bei einer Sex- und Kokain-Party. Er überredet
den schlank gewordenen Freund sogar, dafür in ein Teddybärkostüm zu
schlüpfen, das ihn wieder so dick macht, wie er vorher war.
Braum wird dabei schier verrückt, und das Publikum leidet mit ihm. Doch
dann, im Morgengrauen, während alle Freunde noch vögeln, koksen und saufen,
verlässt er durch den Hinterausgang des Adlon, wo alles stattfindet, und
der genau dort liegt, wo Hitler seinen Bunker hatte, die Welt des Kokains
und der Kunstszene. Er sieht in die flirrende Frühlingsluft, beschreibt
emphatisch, was er sieht und endet mit den schon klassisch gewordenen
Worten: "So glücklich war ich!"
Endloser Beifall für "Endlich Kokain". Ein Vorhang nach dem anderen. Die am
Abend zuvor mühsam ausgetüftelte "Beifallordnung" - wer verbeugt sich wann
und mit wem - ist nach dem fünfzehnten Mal Verbeugen nur noch Makulatur.
Frauenkreischen und Bravorufe im Großen Saal, Blumen fliegen, einzig die
Band kann mit so viel Ausflippen umgehen. Die Leute gehen einfach nicht
weg.
Stur und sicherlich für die Hände schmerzhaft wird weiter geklatscht. Was
soll man machen? Die Bühne bleibt viele Sekunden leer, aber die
Beifallslautstärke wird nicht geringer.
Der Autor reckt ebenfalls schon zum dritten Mal seine Arme in die gleißende
Luft, ebenso der Regisseur Pedro Martins Beja, der Dramaturg Tarun Kade,
die Bühnenbildnerin, die Kostümbildnerin, der Theaterintendant - sehr
ungewöhnlich - und die Souffleuse, schließlich auch alle anderen netten
Menschen, die irgendwie mit dem Theater zu tun haben, die Inspizientin, die
Ausstattungshospitantin und - da gibt es einen Unterschied - die
Ausstattungsassistentin, der Regieassistent, der Lichtmann und die
Technikfrauen, natürlich immer wieder all die Mädchen in den kokainweißen
Lackmänteln und der neue Superstar am deutschsprachigen Theaterhimmel:
Matthieu "Stephan Braum" Svetchine!
29 Apr 2015
## LINKS
[1] http://blogs.taz.de/lottmann/2015/04/17/endlich-kokain-theaterpremiere-am-2…
[2] http://https
[3] http://www.dhs.de/suchtstoffe-verhalten/illegale-drogen/kokain.html
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