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# taz.de -- Pop und Corona: Der Sieg der puren Vernunft
> Fortschrittlicher Pop tut sich schwer mit der Coronakrise. Denn
> rebellische Gesten sind heute von rechts okkupiert. Versuch einer
> Einordnung.
Bild: Superstar Beyoncé Knowles live beim TV-Sender NBC
Warum ist emanzipatorischer, fortschrittlicher, ja, linker Pop in der Krise
bisher oftmals so hilflos, so marginalisiert? Begünstigt Corona die
Hegemonie von völkisch-reaktionärem, sexistischem, rechtem Pop in der
Massenkultur? Eine Antwort gibt [1][Michel Foucault]:
„Es gab um die Pest eine ganze Literatur, die ein Fest erträumte: die
Aufhebung der Gesetze und Verbote; das Rasen der Zeit; die respektlose
Vermischung der Körper; das Fallen der Masken und der Einsturz der
festgelegten Identitäten, unter denen eine ganz andere Wahrheit der
Individuen zum Vorschein kommt.“ Schreibt Foucault 1975 in „Überwachen und
Strafen“.
Vom Übertreten von Verboten, vom Rasen und von der Vermischung der Körper
handelt Pop seit eh und je. Pop will die Mächtigen demaskieren, fixierte
Identitäten zum Einsturz bringen und hinter Fassaden neue Wahrheiten zum
Vorschein bringen. „Let’s go crazy“ forderte Prince, Beyoncé war „Crazy
in love“, „Break on through to the other side“ sangen die Doors, „Expre…
yourself“ und „Fuck the pain away“ empfahlen Madonna und Peaches.
## Projektnamen vom Schleusernetzwerk
Ein Detroiter Kollektiv mit dem sprechendem Namen Underground Resistance
erschütterte die Welt mit einer neuen Musik: Techno. Underground Resistance
verstand sich auch als Widerhall von Underground Railroad, das klandestine
Schleusernetzwerk verhalf Sklav:innen zur Flucht aus den Südstaaten in den
Norden.
Und heute? Spielen die Zeichen verrückt? Underground, Widerstand und
Protest wandern nach rechts: „Querdenker 711“ und „Widerstand 2020“
demonstrieren gegen Maßnahmen zur Eindämmung der neuen Pest. Sie berufen
sich auf Anne Frank und tragen gar gelbe Sterne mit der Aufschrift:
Ungeimpft. Bei ihren Happenings kommt es zur respektlosen Vermischung der
Körper. Das Fallen der Masken entfällt, es werden erst gar keine getragen.
Weiter mit Foucault: „Jedoch gab es auch einen entgegengesetzten, einen
politischen Traum von der Pest: nicht das kollektive Fest, sondern das
Eindringen des Reglements bis in die feinsten Details der Existenz
vermittels einer perfekten Hierarchie, welche das Funktionieren der Macht
bis in ihre letzten Verzweigungen sicherstellt. (…) Der Pest als zugleich
wirklicher und erträumter Unordnung steht als medizinische und politische
Antwort die Disziplin gegenüber. Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die
Angst vor den „Ansteckungen“, vor der Pest, vor den Aufständen, vor den
Verbrechen, vor der Landstreicherei, vor den Desertionen, vor den Leuten,
die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben.“
## Besonnene Galionsfiguren
Heute werden Disziplinarmaßnahmen verordnet im Namen einer Vernunft, für
die Besonnene stehen: der Virologe [2][Drosten], der Mediziner Lauterbach,
der Wissenschaftsjournalist Rogeshwar. Und, über allen: Frau Dr. Merkel,
Physikerin.
Pest auf Fest reimen – das wagen dieser Tage nicht mal stumpfe Provo-Rapper
wie Sido und Kollegah. Corona feiern als Initialzündung zur großen
Libertinage? Was macht eigentlich Houellebecq? Nein, die aufgeklärte, eher
linke Popkultur steht aufseiten der Vernunft, und das wirft nun mal wenig
Glamour ab. Blixa Bargeld posiert mit Maske und nimmt den Lockdown „sehr
ernst“. Randy Newman textet seinen Klassiker um: Aus „Sail away“ wird „…
away“, Abstand halten. Die Ärzte drehen ein witzloses Video im Homeoffice.
Und alle schicken Bilder von leeren Straßen.
Auch Tocotronic illustrieren ihren Coronasong „Hoffnung“ mit
Ghost-Town-Footage. „Hoffnung“ sei ein sehr schwarzes Lied und gerade
deswegen eines, „das echten Trost stiftet“, erklärt Tocotronic-Biograf Jens
Balzer auf Zeit Online, ohne zu erklären, worin genau der echte Trost
besteht und wer da wen tröstet. „Trost durch Empathie“ spende das Lied,
sekundiert [3][Julia Lorenz in der taz]. Zwei Monate ist das her. Manchmal
wird der Blick mit zeitlichem Abstand klarer. Was ist geblieben vom
Toco-Trost?
Vom einträchtig ergriffenen Publikum wurde „Hoffnung“ mit einer
salbungsvollen Andacht aufgenommen, die die salbungsvolle Andacht des
Vortrags noch übertrifft. Die Coronakrise befördert einen Konformismus der
Resignation, eine lähmende linke Melancholie-Routine, über die Walter
Benjamin, auf Erich Kästner gemünzt, 1930 schrieb: „Routiniertsein heißt,
seine Idiosynkrasien geopfert, die Gabe, sich zu ekeln, preisgegeben zu
haben.“
## Vom Fest zur Pest
An Tocotronic lässt sich der Foucault’sche Paradigmenwechsel um Pest und
Fest gut verfolgen. Ihr Musikerkollege Jens Friebe findet das Coronalied
auf Anfrage „überraschend“, bleibt aber diplomatisch, man kennt sich und
schätzt sich. „Alle Sachen, die sie bisher gemacht haben, wurden
zusammengehalten von einer gewissen Negativität. Jetzt wird etwas ganz
Anderes vermittelt: Hoffnung, Utopie, Zusammenhalt. Ich finde das nicht
reizlos, aber auch nicht ganz unbefremdlich, als würde Graf Dracula einem
sagen: ‚Alles wird gut‘, und man denkt so: Wirklich?“ Auf die vertraute
Negativität von Tocotronic stieß man beim Procoronastinieren gleich nach
Ausbruch der Seuche.
Da kursierten Listen mit Songtiteln der Band, die sich als Kommentar zur
Krise lesen lassen: „Tag der Toten“, „Sag alles ab“, „Drei Schritte v…
Abgrund entfernt“, nicht zu vergessen: „Pure Vernunft darf niemals siegen�…
Da rebellieren Tocotronic mit ihrem Trademark-Pathos gegen die Diktatur der
Zweckrationalität, gegen die Logik des kapitalistischen Realismus, der alle
Fasern des Lebens durchdringt: Nicht Einverstandensein, sich verweigern.
## Die Ratio der Defensive
Und jetzt? Im Zeichen von Corona ist pure Vernunft quasi alternativlos, um
Merkel zu zitieren, die Thatcher zitiert. Es siegt die Ratio der Defensive.
Also das Gegenteil der zweifelnden Negation, die sich als Generalbass durch
das Werk von Tocotronic zieht. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie,
dass ausgerechnet diese Band auf Corona mit einem Song reagiert, der es an
Hilflosigkeit und Tristesse mit Silbermond aufnehmen kann. Trostlos. Ist
Covid-19 nun der letzte Nagel im Sarg der Rock-Rebellion?
Kürzlich ist ein Sachbuch auf Deutsch erschienen, das bereits im 1995
erschienenen Original Zweifel am emanzipatorischen Charakter des bösen,
wilden, unbändigen Rock ’n’ Roll formulierte: [4][„Sex Revolts – Gende…
Rock und Rebellion“] von Joy Press und Simon Reynolds analysiert die
Prototypen des transgressiven, tabubrechenden, (selbst)zerstörerischen
Rockrebellen. Jim Morrison, Iggy Pop, nebst Adepten. Und kommt zum
zwiespältigen Fazit: Ja, wir haben damals enthusiastisch gefeiert zu diesem
kettensprengenden, exzessiven Rock ’n’ Roll, aber haben womöglich
übersehen, überhört, wessen Freiheit da gefeiert wird, wenn Mick Jagger
singt: I’m free to do what I want? Auf wessen Kosten tut er, was er will,
nimmt sich was und wen er will? Was ist geworden aus der transgressiven
Libertinage der Rockmänner?
## Fuck you in der Hochfinanz
„Es wirkt heute so, als hätte sich diese spezielle Variante von
Rock-Rebellion totgelaufen. Die Idee, dass es cool sein soll, sich um
nichts und niemanden zu scheren, ‚Leckt mich doch alle am Arsch!‘ haben
sich die Rechten unter den Nagel gerissen. Die Fuck-you-Haltung von
Rock-Rebellion findet sich heute in der Hochfinanz, im Silicon Valley und
in der grenzüberschreitenden Rhetorik von Alt Right“, erklärt Joy Press.
Und sie klingt, als spräche sie von den wild gewordenen Wutbürgern, die in
deutschen Fußgängerzonen wegen Coronabeschränkungen ausrasten und dabei
performativ, sprachlich und visuell auf Motive und Narrative der
Rock-Rebellion rekurrieren: grenzüberschreitend, tabubrechend,
selbstzerstörerisch im wahrsten Sinn des Wortes, wenn sie auf engstem Raum
wüten und rasen gegen die Maschinen der Vernunft.
„Lieber stehend sterben als kniend leben“ steht auf ihren Shirts, einst
linke Pathosformel, später ein Hit der Böhsen Onkelz. Ja, der Soundtrack
zum ‚Leckt mich doch alle am Arsch!‘ kommt aus dem
völkisch-maskulinistischen Lager der Schlagerfolkloristen, Volksrocknroller
und Mitgrölrocker. Zwischen Frei.Wild und Onkelz passt ’ne Gabalier-CD, um
mal Die Ärzte zu variieren. Und eine von Xavier Naidoo.
45 Jahre nach Foucault haben sich die Fronten verkehrt. Die disruptiven
Energien von Rock’n’Roll-Exzess und Techno-Ekstase repräsentieren heute
Typen wie Lutz Bachmann von Pegida, Fünf-Sterne-Clown Beppe Grillo und
Hans-Christian „Ibiza“ Strache. Und der Disruptor im Weißen Haus. Was ist
mit der allfälligen Rede von der Krise als Chance? Als Chance für eine
Pop-Blüte im Namen von Liberté, Egalité & Beyoncé?
Wenn der Tod von George Floyd für etwas gut war, dann für die beschleunigte
Verbreitung der Erkenntnis, dass Corona sehr wohl Hautfarben kennt, dass
Corona Arme und BIPOC härter trifft. Eine Erkenntnis, die sich künstlerisch
vor allem im repolitisierten afroamerikanischen Pop verbreitet. Check out:
Anderson.Paak, Terrace Martin, Denzel Curry, Kamasi Washington, G Perico,
Daylyt, Dua Saleh, [5][Run The Jewels]; auch Public Enemy sind wieder da.
Mehr wird kommen.
29 Jun 2020
## LINKS
[1] /Daniel-Defert-ueber-Michel-Foucault/!5238682/
[2] /Bild-vs-Virologe-Drosten/!5685056/
[3] /Tocotronic-zur-Corona-Krise/!5675203/
[4] /Uebersetzung-eines-Popdiskurs-Klassikers/!5636713/
[5] /Neues-Album-des-HipHop-Duos-Run-the-Jewels/!5691900/
## AUTOREN
Klaus Walter
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Buch wurde endlich übersetzt und wird nun auf einer Lesetour vorgestellt.
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