# taz.de -- Politisches Engagement der Queeren: Es darf diverser sein | |
> Bei den CSDs feiern die Communities sich selbst. Doch wie steht es um das | |
> politische Engagement queerer Menschen in verschiedenen Generationen? | |
Bild: CSD in Frankfurt/Main am 15.07.2023 | |
Wenn Rolf eine [1][Schwulenbar] betreten wollte, schaute er sich zuerst um, | |
damit ihn niemand sah. Die Angst saß ihm im Nacken wie ein kaltes Tier. Er | |
musste klingeln und warten, bis jemand öffnete. Die Angst schlüpfte mit | |
hinein, denn er wusste nicht, ob es einer der Abende war, an denen | |
Polizisten das Lokal stürmen und alle Gäste auf die Davidswache bringen | |
würden, wo diese ihre Personalien abgeben mussten. Er kam trotz dieser | |
Angst, denn die Hamburger Bars waren in den 1970er Jahren der einzige Ort, | |
wo Schwule Gleichgesinnte treffen konnten. | |
Was in Rolfs Jugend normal war, wirkt heute wie ein Bericht von einem | |
anderen Planeten. [2][Der Paragraf 175 stammte noch aus dem Strafgesetzbuch | |
der Nationalsozialisten] und bestrafte „unzüchtige Handlungen unter | |
Männern“ bis 1973 mit bis zu zehn Jahren Haft. Erst 1994 wurde er komplett | |
abgeschafft. | |
Dass es ihn nicht mehr gibt, hat der heute 79-jährige Rolf mit erkämpft. Er | |
war Teil der politischen Subkultur seiner Generation, „wir machten | |
Häuserbesetzungen und gingen gegen Brokdorf auf der Straße. Die Abschaffung | |
des § 175 war ein spätes Resultat der 68er“, sagt er. | |
## Szenebars verschwinden aus Kleinstädten | |
Sein Bekannter Thomas, der heute 58 Jahre alt ist, politisierte sich dann | |
in einer Zeit, [3][in der AIDS als „Schwulenseuche“ galt.] Er erlebte den | |
Aufstieg der Szenekneipen und schwul-lesbischen Straßenfeste, aus denen | |
Ende der 90er Jahre die „Christopher Street Day“ (CSD)- Bewegung in Lübeck | |
entstand – mit ihm als Gründungsmitglied. Viele dieser Feste waren für | |
queere und auch etliche CIS-Menschen ein Höhepunkt des Jahres, ein Amalgam | |
aus Politik und Lebensfreude. | |
Heute hat Lübeck, wie viele kleinere Städte, keine einzige Szene-Bar mehr. | |
Das liegt zum Einen daran, dass die Bewegung in der Nähe der | |
gesellschaftlichen Mitte angekommen ist, bedeutet aber auch, dass „ihre | |
Dynamik versandet“, sagt Rolf. Die LGBTQ*-Szene vernetzt seitdem der CSD | |
Lübeck. Dessen Vorsitzendes Christian Till machte eine erstaunliche | |
Beobachtung: Auf seinen Veranstaltungen sind die ältere und die sehr junge | |
Generation sichtbar, Menschen zwischen 30 und 60 Jahren dagegen kaum. | |
Einige andere CSD-Vorsitzende im Norden bestätigten seine Beobachtung. | |
Erstaunlich ist das deshalb, weil eine [4][Umfrage des | |
Meinungsforschungsinstituts Ipsos] in 27 europäischen Ländern 2021 ergeben | |
hat, dass weniger als vier Prozent der Babyboomer (60 Jahre oder älter) | |
sich als transgender, nonbinär oder divers bezeichnen. Danach steigt ihr | |
Anteil stetig an. Unter jungen Erwachsenen der Generation Z (1997 oder | |
später geboren) bezeichnen sich nur noch 68 Prozent der Befragten als | |
heterosexuell und beinahe jedeR Fünfte (18 Prozent) als schwul, lesbisch | |
oder bisexuell. Diese Generationen, sagt Till, müssten also „rechnerisch | |
stark vertreten sein“. | |
## Mehr Akzeptanz | |
Dass viel mehr Menschen sich als nicht-CIS bezeichnen, liegt wahrscheinlich | |
an der gefühlten oder tatsächlichen Akzeptanz nicht-binärer Identitäten in | |
der Gesellschaft. In einer toleranten Umgebung ist der Mut zum Outing | |
größer. Mit der Ehe für alle (seit 2017) und [5][dem neuen | |
Selbstbestimmungsgesetz] im Mai diesen Jahres für trans-, | |
intergeschlechtliche und nichtbinäre Personen sind sie auch rechtlich viel | |
besser gestellt. Welche Folgen hat das für das politische Engagement von | |
nicht-CIS-Personen? Engagieren sie sich weniger als früher, weil viele | |
Kämpfe gewonnen sind? Oder engagieren sie sich anders? | |
Diese Frage ist noch kaum erforscht. Christine M. Klapeer hat 2020 für eine | |
[6][Studie des „Deutschen Jugendinstituts“] das politische Engagement | |
queerer Jugendlicher untersucht. Dafür hat sie Literatur und Fragebögen an | |
queer-politische Szene-Netzwerke ausgewertet. Für diese Gruppe stellt sie | |
einen überdurchschnittlich hohen politischen Einsatz fest: Ein Drittel der | |
organisierten jungen Menschen ist sehr aktiv, leitet zum Beispiel queere | |
Gruppen oder organisiert Veranstaltungen. Sie wollen durch Aufklärung ihre | |
Situation verbessern, weil sie sich vorher in familiären oder schulischen | |
Netzwerken diskriminiert fühlten. | |
Ein Ergebnis der Studie ist auch, dass die meisten dieser Jugendlichen aus | |
gebildeten, urbanen Settings kommen. Menschen aus ökonomisch | |
benachteiligten, bildungsfernen Situationen, in ländlichen Räumen oder | |
Kleinstädten, mit körperlichen Beeinträchtigungen oder Rassismuserfahrungen | |
outen und engagieren sich viel seltener, räumt die Autorin ein. | |
## Einsamkeit im Alter | |
Das sagt auch der junge Politiker Bruno. Er selbst kam nicht über seine | |
Homosexualität, sondern durch die Themen Klimaschutz und | |
Generationengerechtigkeit zur Politik. Der 27-Jährige wurde 2021 für | |
Bündnis 90/ Die Grünen in den Deutschen Bundestag gewählt. Wenn in Berlin | |
„Dragqueens auftreten, die sich queer-politisch engagieren und darüber | |
sprechen, sind sie Vorbilder für junge Menschen“, sagt Bruno. Solche | |
Vorbilder seien wichtig, denn „sie zeigen den Menschen, dass sie nicht | |
allein sind und so leben und glücklich werden können, wie sie möchten“. An | |
Orten, wo es keine vielfältigen Angebote für LGBTQ*-Menschen gibt, sind | |
gerade im Alter viele von ihnen einsam, sagt Bruno. Nicht alle haben | |
Interesse an Partys wie dem CSD, weil sie zum Beispiel älter sind oder mit | |
Beruf und Familie in der Rush-Hour ihres Lebens stehen. | |
Das gilt für die 41-jährige Naomi. In ihrer Stadt in Rheinland-Pfalz gibt | |
es keine queere Szene, sie vermisst sie aber auch nicht. Neben Job und | |
Care-Arbeit für die zwei kleinen Kinder haben sie und ihre Frau keine Zeit, | |
sich politisch zu engagieren. Und wenn, sagt Naomi, würde sie sich eher für | |
die Erhaltung der Amazonas-Regenwälder einsetzen, gegen die | |
Ressourcenverschwendung der Modeindustrie oder für LGBTQ*-Rechte in anderen | |
Ländern. Bis dahin leistet sie einen Beitrag mit bewusstem Konsum und einer | |
Gender offenen Erziehung ihrer Kinder. „Sexuelle Ausrichtung ist ein Thema, | |
das mich eigentlich nicht interessiert“, sagt Naomi. „Heterosexuelle | |
sprechen ja auch nicht immerzu über ihre sexuelle Orientierung“. | |
Die beiden Beispiele zeigen, wie heterogen das Engagement von | |
LGBTQ*-Menschen sein kann. Sie engagieren sich nicht unbedingt in | |
klassischen Vereinsstrukturen und nicht notwendig für Geschlechterthemen. | |
Ob ihre Identität als Minderheit insgesamt zu einer größeren politischen | |
Sensibilität führt, ist noch unerforscht. Und ob nach dem Slogan der | |
Frauenbewegung „Das Private ist politisch“ das Lebensmodell einer | |
Regenbogenfamilie die Gesellschaft verändert, ist nur da eine Frage, wo die | |
Hetero-Kernfamilie noch als Schablone darüber liegt. | |
Für Rolf und Thomas ist die queer-politische Arbeit auch in Deutschland | |
nicht erledigt. Dass in Sachsen-Anhalt ein CSD-Organisator auf offener | |
Straße zusammengeschlagen wurde und die AfD mit queerfeindlichen Parolen an | |
Boden gewinnt, alarmiert sie. So lange das so ist, sagt Thomas, „ist unser | |
Weg noch nicht zuende“. | |
18 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Razzien-in-der-Schwulenszene/!5870578 | |
[2] /Abschaffung-des-Paragrafen-175/!5599062 | |
[3] /Aids-in-der-Bundesrepublik/!5505290 | |
[4] https://www.ipsos.com/sites/default/files/ct/news/documents/2021-06/Ipsos-P… | |
[5] /Nachfolge-des-Transsexuellengesetzes/!5924999 | |
[6] https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2021/KJB_Klapeer_Exp16KJB_1604… | |
## AUTOREN | |
Friederike Grabitz | |
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