| # taz.de -- Philosoph über den Nahostkonflikt: „Frieden ohne Wahlrecht“ | |
| > Nur radikale neue Lösungen helfen aus der verfahrenen Lage, sagt einer | |
| > der bekanntesten palästinensischen Intellektuellen, Sari Nusseibeh. Etwa | |
| > ein Einheitsstaat. | |
| Bild: Wird nichts getan, wird es immer nur schlimmer, sagt Sari Nusseibeh. Graf… | |
| taz: Herr Nusseibeh, in Ihrem neuen Buch vertreten Sie die provokante Idee, | |
| dass die Palästinenser in einem Einheitsstaat mit den Israelis | |
| zusammenleben sollten – in dem aber nur die Juden das Wahlrecht hätten. | |
| Sari Nusseibeh: Das Buch enthält viele interessante Ideen, aber diese wird | |
| immer herausgegriffen. | |
| Immerhin wird diese Idee schon im Vorwort prominent präsentiert. | |
| Der Vorschlag beruht auf der Annahme, dass die Zweistaatenlösung nicht mehr | |
| umsetzbar erscheint. Wenn der palästinensische Staat, von dem viele | |
| träumen, heute durch diese Tür käme, würde ich ihn willkommen heißen. Aber | |
| wir haben eine halbe Million Israelis, die jenseits der Grünen Linie von | |
| 1967 im Westjordanland leben. Die Hälfte der Siedler wohnt im Großraum | |
| Jerusalem. Wie können wir eine halbe Million Leute umsiedeln? Und haben wir | |
| das moralische Recht dazu? Durch gewaltlosen Widerstand werden wir das | |
| nicht schaffen. Vielleicht durch einen Atomschlag, aber nicht durch Demos | |
| jeden Freitag. | |
| Aber warum sollten die Palästinenser auf ihr Wahlrecht verzichten – nur | |
| damit sie mit den Isrealis in einem Staat zusammenleben? | |
| Was wären denn die anderen Optionen? Nummer eins wäre, nichts zu tun. Das | |
| bedeutet, es wird immer schlimmer. Damit meine ich nicht, dass ein dritter | |
| Weltkrieg oder ein Atomkrieg ausbricht – aber das Leben würde für beide | |
| Seiten noch weniger erträglich. Option zwei wäre, was vor allem die | |
| Palästinenser vorschlagen: Man lebt in einem einzigen Staat zusammen, in | |
| dem alle gleiche Rechte genießen. Das wäre gerecht, hat aber den Haken, | |
| dass die Israelis diese Lösung strikt ausschließen. Sie wollen nicht in | |
| einem Staat leben, wo die Araber die politische Mehrheit stellen könnten. | |
| Dieser Weg endet also in der Sackgasse. | |
| Deswegen denken Sie ganz radikal? | |
| Ich finde, dass man über eine dritte Option nachdenken sollte. Am Ende | |
| sollte eine Föderation zwischen einem palästinensisch-arabischen und einem | |
| jüdischen Staat stehen. | |
| Also doch eine Trennung entlang der Grenze von 1967? | |
| Nein. Dieser Staat wäre nicht unbedingt durch die Linie von 1967 geteilt, | |
| sondern entlang ethnischer Grenzen. In Israel wie im Westjordanland gibt es | |
| rein arabische und rein jüdische Städte. Zugleich gibt es Fälle wie Haifa, | |
| wo sich die Bevölkerungen mischen und etwa 20 Prozent arabisch sind. Ich | |
| stelle mir einen offenen Raum vor, wie er in Europa oder den USA existiert, | |
| wo zwei politische Einheiten bestehen: die palästinensische und die | |
| jüdische. Beide regieren ihre jeweilige Bevölkerung, aber in einem | |
| gemeinsamen Staat. Ein Israeli könnte von Tel Aviv überall ohne Kontrolle | |
| hinfahren. Das sollte umgekehrt auch für die Palästinenser gelten. Geben | |
| wir also den Palästinensern zivile Rechte! | |
| Aber der übergeordnete Staat würde nur von den Juden regiert? | |
| Die Palästinenser sollten Bewegungsfreiheit haben und überall eine Arbeit | |
| oder Wohnung suchen können. Sie hätten einen garantierten Zugang zu allen | |
| sozialen Dienstleistungen, aber nicht unbedingt das aktive und passive | |
| Wahlrecht für die Knesset. | |
| Das heißt, trotz Uno-Resolutionen müssten die Palästinenser auf ihre | |
| Ansprüche verzichten? | |
| Ostjerusalem, das die Hauptstadt eines Palästinenserstaates werden soll, | |
| ist heute mehrheitlich jüdisch. Man kann nicht mehr in den Kategorien von | |
| 1967 denken. Aber man kann zumindest versuchen, sich der damaligen Zeit | |
| anzunähern. Zwischen 1967 und den späten 1980er Jahren konnten sich die | |
| Menschen frei bewegen und hatten Arbeit in verschiedenen Gebieten. Heute | |
| ist das nicht mehr möglich. Vor allem die Palästinenser haben keine | |
| Bewegungsfreiheit. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn wir zumindest | |
| grundlegende Bürgerrechte genießen würden. | |
| Was würde Ihr Modell für das als heilig geltende Rückkehrrecht von fünf | |
| Millionen Flüchtlingen bedeuten? | |
| Es ist doch die noch immer offiziell angestrebte Zweistaatenlösung, die das | |
| Rückkehrrecht aufgeben würde. Das gibt zwar niemand zu, aber ich sage hier | |
| die Wahrheit. Es ist nicht machbar, dass die Israelis einem | |
| Palästinenserstaat zustimmen und gleichzeitig zulassen, dass Millionen | |
| Palästinenser nach Israel kommen. Die Israelis sollen die Rückkehr von zwei | |
| oder drei Millionen Menschen in ihr Land erlauben? Wer das glaubt, ist | |
| dumm. | |
| Im Einheitsstaat wäre eine Rückkehr einfacher? | |
| Rückkehr heißt, in den Raum Israel-Palästina zurückzukehren. Es gibt mehr | |
| als 500 Dörfer, die völlig zerstört wurden, darunter das meines Großvaters. | |
| Ich kann nicht hoffen, in das Haus meines Großvaters zurückzukehren, weil | |
| es das nicht mehr gibt. Aber ich will das Recht haben, in das Territorium | |
| zurückzukehren, und Niederlassungsfreiheit genießen. | |
| Warum sollten die Israelis das akzeptieren? | |
| Eine Zweistaatenlösung ist derzeit nicht möglich. Wenn die Israelis nicht | |
| nach Kompromissen suchen, haben sie nur zwei Optionen, mit uns | |
| Palästinensern umzugehen: Entweder herrschen sie in einem Apartheidsystem | |
| über uns. Das würde die Gesellschaft spalten und Probleme mit der | |
| internationalen Gemeinschaft schaffen. Oder aber sie rotten uns aus. Das | |
| aber geht heute nicht mehr. Wenn die Israelis über ihre eigene nachhaltige | |
| Zukunft nachdenken, dann müssen sie sich etwas einfallen lassen. Anfangs | |
| dachten sie, sie könnten ihren jüdischen Staat aufbauen und wir würden | |
| irgendwo in der Wüste verschwinden. Als sie 1967 den zweiten Krieg gegen | |
| uns gewannen, haben sie das palästinensische Territorium wiedervereinigt. | |
| Heute leben mehr Palästinenser im historischen Palästina als in der | |
| Diaspora. Das ist für Israel eine sehr unangenehme Vorstellung. | |
| Um wie viele Menschen geht es? | |
| Wir sprechen hier von mehr als fünf Millionen Palästinensern im | |
| historischen Palästina. Wir waren 100.000 auf israelischem Gebiet. Heute | |
| ist es eine Million, auf dem restlichen Territorium sind es vier Millionen. | |
| Damit müssen sich die Israelis arrangieren. | |
| 18 Mar 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Leonhard | |
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