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# taz.de -- Debatte Israel-Palästina: Wir haben verloren
> Über Jahrzehnte haben Israels Linke und internationale Beobachter an die
> Zweistaatenlösung geglaubt. Aber sie wird nicht kommen.
Bild: Kein Freund der Zweistaatenlösung: Israels Premier Netanjahu.
Wenn es um die Lösung des Nahostkonflikts geht, haben internationale
Beobachter eine Standardantwort: „Jeder weiß, wie die Sache ausgehen wird.“
Ein Staat für Israel, einer für die Palästinenser – etwa so, wie es
US-Präsident Bill Clinton schon im Jahr 2000 vorgeschlagen hat.
Auch die israelische Linke hat sich über Jahrzehnte durch ihr Bekenntnis zu
einer Zweistaatenlösung definiert. Aber es ist an der Zeit, einen kalten,
harten Blick auf die Realität zu werfen: Wir haben verloren.
Im letzten Jahr hat bereits der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh
in seinem Buch „Ein Staat für Palästina?“ das Ende der Zweistaatenlösung
verkündet. Die Juden seien durch ihre Geschichte so traumatisiert, dass sie
die Souveränität über die Westbank niemals aufgeben würden – und ein
palästinensischer Staat sei weiteres Blutvergießen nicht wert.
Ich war damals nicht bereit, Nusseibehs Idee zu akzeptieren. Auch heute ist
die Zweistaatenlösung aus moralischen, politischen und demografischen
Gründen immer noch richtig. Aber sie wird schlichtweg nicht kommen – und
daran wird ein Antrag in der UNO auf eine Aufwertung des Status Palästinas
nicht ändern.
## Traumatisierte Israelis
Ein Grund dafür ist, dass die Linke in den nächsten Jahren keine Chance
haben wird, wieder an die Macht zu gelangen. Das erste Jahrzehnt des neuen
Jahrtausends hat ihr Versprechen, dass Frieden möglich ist, zum Gegenstand
des Gespötts gemacht.
Ausgangspunkt war die Zweite Intifada mit ihren Selbstmordattentaten, deren
traumatische Wirkung auf die Israelis von vielen Beobachtern unterschätzt
wird. Dann folgten der Sieg der Hamas bei den Wahlen 2006 und die
anschließende Spaltung der Palästinenserregierung, der anhaltende Beschuss
Israels aus dem Gazastreifen sowie der Zweite Libanonkrieg.
Israelis haben seitdem geradezu eine Allergie gegenüber dem Wort „Frieden“
entwickelt. Sie glauben, dass sich Israel in schlechter Nachbarschaft
befindet und in den nächsten Jahrzehnten um seine Existenz kämpfen muss;
dass uns Macht und Wachsamkeit eher als Diplomatie und Flexibilität
überleben lassen werden.
Als Ergebnis schauen die Israelis mit tiefer Besorgnis auf den „arabischen
Frühling“ – ein Ausdruck, den sie nicht einmal verwenden. Sie vertrauen der
Muslimbrüderschaft nicht, die die Macht in Ägypten übernommen hat; sie sind
zutiefst besorgt wegen des syrischen Bürgerkriegs und fürchten, dass die
Hisbollah an einem bestimmten Punkt des Konflikts ihr gesamtes
Waffenarsenal vom Libanon aus auf die israelische Bevölkerung abfeuern
wird.
Und dazu kommt die Möglichkeit eines atomar bewaffneten Iran.
Psychologische Untersuchungen haben in Dutzenden von Ländern gezeigt, dass
Menschen, die existenziellen Bedrohungen ausgesetzt sind, dazu tendieren,
nach rechts zu gehen und weniger tolerant zu sein.
## Der Elefant inmitten des Raums
Angesichts der Instabilität des Nahen Ostens wird es in der absehbaren
Zukunft keine Mitte-links-Regierung in Israel geben. Benjamin Netanjahu
wird aber weiterhin den Ultraorthodoxen und den nationalreligiösen Siedlern
schmeicheln. Er ist der Überzeugung, dass ein lebensfähiger
palästinensischer Staat eine Gefahr für Israel darstellt, und hofft, dass
er die Palästinenser durch eine Ausweitung der Siedlungen dazu bekommt,
sich mit weniger zufriedenzugeben.
Während Netanjahu sich zwar verbal noch zur Zweistaatenlösung bekennt,
haben sich die meisten Mitglieder seines Kabinetts längst explizit für eine
Einstaatenlösung ausgesprochen – allerdings eine, in der die Palästinenser
keine vollen Bürgerrechte erhalten. Aber auch israelische
Oppositionsvertreter sprechen aus Angst, Wählerstimmen zu verlieren, kaum
von zwei zukünftigen Staaten. Die Linke und die Mitte ziehen es vor, über
soziale und ökonomische Fragen zu reden und den Elefanten in der Mitte des
Raums zu ignorieren.
Seitdem ich die Idee, dass die Zweistaatenlösung tot ist, in Israel
erstmals publiziert habe, haben mich Freunde und Leser nach einer
Alternative gefragt. Einige haben gemutmaßt, dass ich die alte linke Idee
eines einzigen Staates für Juden und Palästinenser nun befürworte; andere
vermutet, dass ich zur Rechten gewechselt bin.
Beides ist nicht der Fall. Aber es gibt Momente, in denen man realisieren
muss, dass das eigene politische Programm nicht länger machbar ist, auch
wenn man keine der Alternativen gutheißt. Wir müssen uns, mit müden Herzen,
dennoch nach anderen Möglichkeiten umsehen. Die natürlichen Verbündeten der
Linken sind diejenigen auf der Rechten, die an die Werte einer liberalen
Demokratie glauben, wie etwa Knesset-Sprecher Reuven Rivlin und der frühere
Likud-Minister Mosche Arens. Beide sind dafür, die Westbank zu annektieren,
gleichzeitig aber den Palästinensern die vollen politischen Rechte
einzuräumen.
## Kampf mit Gebärmüttern
Selbst in diesem Fall stünde ein solches Land vor großen Problemen: Wie
können zwei Völker, die in einen tödlichen Konflikt miteinander verstrickt
sind, zusammen einen Staat lenken? In einem solchen Land würde über
Jahrzehnte um die ethnische Vorherrschaft gekämpft – und die zentrale Waffe
dazu wäre, wie der Demograf Arnon Soffer einmal gesagt hat, die weibliche
Gebärmutter: Juden und Palästinenser würden einander bekämpfen, indem sie
so viele Kinder wie möglich bekommen, um eine Mehrheit zu erhalten.
Aber vielleicht würde sich ein solcher Staat auch nicht allzu sehr von der
jetzigen Situation unterscheiden. In Israel findet schon jetzt ein
Kulturkampf statt: Nationalreligiöse und ultraorthodoxe Juden setzen
darauf, säkulare Juden an Geburten zu übertreffen. Viele von ihnen warten
darauf, dass sich die israelische Demokratie in eine Theokratie verwandelt.
Ich habe keine Illusionen, dass der neue Staat ohne schmerzhafte Konflikte
existieren kann. Aber die Mehrheit des Israelis haben sich de facto durch
ihre Politik (darunter den Siedlungsausbau) ebenso für eine
Einstaatenlösung entschieden, wie sie die Palästinenser durch eine ganze
Reihe von historischen Fehlern herbeigeführt haben. Wir werden das Beste
daraus machen müssen.
23 Sep 2012
## AUTOREN
Carlo Strenger
## TAGS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
UN
Gaza
Israel
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