# taz.de -- Phänomen Vierschanzentournee: Aber bitte mit Fahne! | |
> Bratwurst, Jubel, Deutschland. Und fliegende Menschen. Der | |
> Sprungwettbewerb vereint wagemutige Springer mit begeisterten Massen. | |
Bild: Vor dem großen Tag: Morgennebel über Garmisch-Partenkirchen | |
GARMISCH-PARTENKIRCHEn taz Gemächlich tuckert die Werdenfelsbahn durch die | |
Winterlandschaft. Neujahr. Ein milder Tag. Sobald die Sonne ein Loch in der | |
Wolkendecke erwischt, lösen sich dicke Schneeschollen von den Dächern der | |
Scheunen und Häuser, plumpsen hinab. Auf einem Wanderweg, der parallel zur | |
eingleisigen Strecke verläuft, sind Neujahrsspringen-Pilgerer per pedes | |
unterwegs. Man erkennt sie leicht am festen Schritt, der Kleidung vor | |
allem, ihren Schals und Trophäen vergangener Jahre, den selbstgebastelten | |
Transparenten. | |
Der Sonderzug überholt ganze Familienverbände, Fan-Klubs und Wandergruppen. | |
Der Zielbahnhof ist eigentlich seit 1984 stillgelegt. Nur für das | |
Neujahrsspringen wird eine Ausnahme gemacht. Die Einnahmen des Wochenendes | |
sind für viele hier überlebenswichtig. Ganz abgesehen vom Prestige für | |
Garmisch-Partenkirchen. | |
„Was war da immer los bei uns!“ Eine Gruppe von Rentnern aus dem | |
sächsischen Oberwiesenthal, gekleidet in Beige und Cord, lässt die | |
Thermoskanne kreisen. Eierpunsch. Selbstgemacht. Noch von Silvester übrig. | |
Sie erinnern sich an früher, als der kleine Ort im Erzgebirge, gemessen an | |
den Verhältnissen der DDR, ähnlich glamourös nach außen strahlte. Heute | |
betreibt dort „ihr“ Jens Weißflog, Sieger der Vierschanzentournee von | |
1983/84, ein Hotel. | |
Weißflog ist das unüberbietbare Kunststück gelungen, sowohl für die DDR als | |
auch für die BRD, sowohl in der Parallel-Technik als auch im heutigen | |
V-Sprung-Stil Siege einzuspringen. An solchen Ruhm reicht nur Sven | |
Hannawald heran, dem es zum Jahreswechsel 2001/2002 gelang, alle vier | |
Springen der Tournee für sich zu entscheiden. Als bislang Einzigem. In | |
diesem Jahr gilt mit Richard Freitag wieder ein Erzgebirgler als | |
Mitfavorit. Die Oberwiesenthaler sind voller Vorfreude: „Alle drei im | |
selben Krankenhaus geboren!“ | |
## Einigkeit und Punsch | |
Ein Ehepaar aus München mischt sich ins Gespräch. Beide tragen grellbunte | |
Stirnbänder und Outdoor-Jacken, die sie als aktive Wintersportler | |
ausweisen. Im Westen sei ja auch nicht alles Gold, was glänzt, erklärt der | |
Mann im breitesten Bayerisch, Brustton, tief. „Und dann kommt so ein | |
Naturschützer und erklärt, das sei eine Blumenwiese. Da dürfe man nicht | |
drüberfahren mit dem Ski.“ Die Rentner wirken verunsichert. Die Frau des | |
Bayern gleicht aus: „Der Freitag wird’s schon richten.“ Einigkeit und | |
Punsch. | |
Von der Haltestelle kann man bereits die Schanzenanlage sehen. Hoch | |
aufragend, prächtig und gut in Schuss, scheint sie die Besucher willkommen | |
zu heißen. Hier, im Schatten der Zugspitze, ließen die Nationalsozialisten | |
die Anlage einst für die Winterspiele 1936 errichten. Die Vereinigung der | |
Orte Garmisch und Partenkirchen war Teil des Plans, Gegner wurden | |
kaltgestellt. Die Mehrheit verstummte angesichts eines | |
Kasernenbauprogramms, das Arbeit und Aufschwung verhieß. So was wirkt nach. | |
Bis heute. | |
Jeder der Ortsteile hat seine eigene Feuerwehr, den eigenen Skiklub, ein | |
eigenes Oktoberfest. Immerhin: Die Gründung eines Ensembles für | |
Alphornbläserinnen erregte diesseits wie jenseits der Partnach, eines | |
Gebirgsflusses, der sich grenzgleich durch das Tal schlängelt, Anstoß. Die | |
Verteidigung einer Männerdomäne. Und dann ist da noch die | |
Vierschanzentournee, die auf eine gemeinsame Idee zurückgeht. | |
Vom lokalen Zwist bekommen die Gäste des Neujahrsspringens wenig mit. Die | |
alte Schanze wurde 2006 abgerissen und durch eine neue ersetzt. Der Lift, | |
der die Springer zum Turm fährt, ist ebenso hochmodern wie ein riesiges | |
Windnetz, das die Athleten vor dem thermischen Nachmittagswind auf der | |
Gudiberg-Seite schützen soll. Im Eintrittsbereich hängt die Ahnengalerie, | |
Porträts der Gewinner. Smartphones knipsen Recknagel, Goldberger, den | |
großen Janne Ahonen, der die Tournee sagenhafte fünf Mal gewann. Kinder | |
verteilen Fähnchen, die sind schwarz-rot-golden, doch nur auf einer Seite. | |
Die andere gilt dem Hauptsponsor. | |
## Ohne die Ehrenamtlichen geht gar nichts | |
Die Zuschauer werden von der typische Infrastruktur eines modernen | |
Sport-Events verschluckt: Markenbanner flattern im Wind, prangen weithin | |
sichtbar auf gigantischen Heißluftballons. Auf dem Markt im Eingangsbereich | |
gibt es Fanartikel, Glühwein, Bier, Leberkäs-Semmeln und Bratwurst. Erste | |
Schlangen bilden sich vor den Sanitäranlagen. Eine der obligatorischen | |
Blaskapellen beschallt die Wartenden mit „Arschloch“ von den Ärzten. | |
Man beginnt zu ahnen, dass hier Extreme aufeinanderprallen. Der Witz liegt | |
in den Widersprüchen. So ein Wettkampftag ist lang, es kann Windpausen | |
geben, Stürze. Der Stadionsprecher ist versiert und gewappnet. Die | |
Bürgermeisterin begrüßt das Publikum und erklärt, wie wichtig das | |
Neujahrsspringen für die Doppelgemeinde sei. Der halbe Ort brutzelt, | |
schippt Schnee, bewacht Wege, putzt Toiletten. Ohne die Ehrenamtlichen geht | |
nichts, hier wie anderswo. Es wird eines der erfolgreichsten Jahre für die | |
Veranstalter. Das Stadion ist mit 21.000 Zuschauern ausverkauft. Bei den | |
Springern selbst landet nur ein Bruchteil der Einnahmen, und das hängt | |
wesentlich vom Erfolg der Einzelnen ab. Wer Skispringer wird, tut das | |
nicht, um reich zu werden. Es geht um Ruhm, den Kick, um das Gefühl, zu | |
fliegen. | |
Nach der Bürgermeisterin spricht jemand vom Ski-Klub Garmisch. Die | |
örtlichen Klubs formen die Heldinnen und Helden von morgen. Der Moderator | |
nennt ihn einen „Vollblutpräsidenten“ und kündigt den Stargast an: Herr D… | |
Markus Söder von der CSU. Finanzminister. Ministerpräsident in spe. Man | |
hofft auf Förderung. Mit einer Flutlichtanlage wären auch Nachtspringen | |
möglich. Nur noch wenige Minuten verbleiben bis zum ersten Durchgang. Der | |
Moderator schwört die Menge ein: „Natürlich sind wir patriotisch, wir sind | |
ja in Bayern.“ Was das konkret bedeutet? „Wir reißen die Fahne hoch, wenn | |
wir wissen, ein Deutscher ist am Start.“ Die Stimmungskurve schnellt nach | |
oben. In Abwandlung des bekannten Udo-Jürgens-Schlagers brüllt das Stadion: | |
„Aber bitte mit – Fahne!“ Der Wettbewerb beginnt. | |
Der erste Durchgang läuft im K.-o.-System. Eine Erfindung des Fernsehens, | |
um die Attraktivität der Vierschanzentournee für Ungeduldige zu erhöhen. | |
Zwei Athleten treten gegeneinander an. Nur einer kommt sicher weiter. Die | |
Paarungen wurden am Vortag ausgesprungen. Was nun folgt, ist großer Sport, | |
knappe Duelle. Jubel und Verzweiflung. Stefan Kraft, stärkster Österreicher | |
der letzten Jahre, verpasst den Finaldurchgang. Der junge Slowene Tilen | |
Bartol zeigt sich hingegen überraschend stark. Nur der Vorjahressieger | |
Kamil Stoch fliegt weiter. Richard Freitag landet auf Platz sechs, doch | |
sein Punktabstand ist nicht zu groß. Hoffnung für den zweiten Durchgang. | |
Pause. Markus Söder tritt auf. Das Publikum wendet sich mehrheitlich den | |
Fressständen zu, stürmt die Toiletten, kauft Erinnerungen ein. Wie erhofft, | |
stellt der bayerische Finanzminister eine Zuwendung in Aussicht. Der DJ | |
reißt die Anlage auf. „I will survive“. | |
## Wurst verzehrendes Publikum | |
Wer vom Skispringen spricht, darf vom Hungern nicht schweigen. Während Fans | |
rund um die Schanze Wurst um Wurst verschlingen, den Silvester-Kater mit | |
Glühwein und Bier bekämpfen, sind plötzliche Ohnmachtsanfälle von Athleten | |
wie der des Norwegers Johann André Forfang im vergangenen Jahr so logisch | |
wie normal. Hannawald, der Held, war einer der Ersten, die in Sachen | |
Körpergewicht ins Extreme gingen. Der Erste, der seine Magersucht | |
thematisierte. Leicht fliegt gut. Ein Naturgesetz. | |
All das weiß Klaus Behrend. Doch das bremst seine Leidenschaft nicht aus. | |
Im Gegenteil. „Was das für ein Martyrium sein muss! Das sind doch junge | |
Leute. Da will man doch mal ein Bier trinken, an Silvester …“ Der | |
Vorruheständler hat bereits eine Stunde vor Öffnung der Tore angestanden, | |
um seinen Lieblingsplatz zu sichern. Osttribüne. Oben rechts. Er kommt seit | |
25 Jahren. „Es geht doch um einen alten Menschheitstraum. Das Fliegen!“ | |
Tatsächlich geben sich die Springer auch im zweiten Durchgang keine Blöße. | |
Viele verbessern ihre Weiten. Die meisten segeln formvollendet ins Tal. Es | |
ist zum Genießen schön. Erstaunt und mit nach oben gerichteten Köpfen | |
verfolgen die Leute das Schauspiel in der Schneelandschaft. Dann wird die | |
Spannung im Stadion greifbar. Klaus Behrend, der ein Leben lang die Post in | |
seinem Heimatort im Sauerland ausgetragen hat, kann jetzt keine Fragen mehr | |
beantworten. „Achtung, er kommt!“ | |
## Ein lang gezonener Schrei: „Ziiiiiieeeeeeeh!“ | |
Mitfavorit Richard Freitag sitzt auf dem Balken. Er lächelt. Eine Gruppe | |
weiblicher Fans, auf ihrem Transparent haben sie seinen Namen mit Herzen | |
umkringelt, schreit entzückt auf. Direkt daneben drücken zwei ältere Damen, | |
die seine Omis sein könnten, auf der Stelle hüpfend, die Daumen. Mit der | |
versinkenden Sonne zieht auch die Kälte an. Freitag ist in der Spur. Die | |
Bedingungen sind gut. Sein Sprung noch besser. „Ziiiiiieeeeeeeh!“ Ein | |
langgezogener Schrei aus tausenden Kehlen begleitet den imposanten Flug auf | |
137 Meter. | |
Fahnen, Jubel, Tröten. Als nur noch zwei Springer oben stehen, Freitag | |
liegt vorn, bläst der Wind so heftig, dass der Wettkampf unterbrochen | |
werden muss. Spannender geht es nicht. Müsste der Wettbewerb abgebrochen | |
werden, würde nur der erste Durchgang zählen. Der Junge mit dem Schnauzbart | |
wäre nur Sechster. Inzwischen hüpfen alle. Auf den Rängen. Im Stadion. | |
Wegen der kalten Füße. Vor Aufregung und Vorfreude. Dann geht es endlich | |
weiter. Erster Angriff abgeschmettert. Doch dann schlägt der Sieger des | |
Auftaktspringens zu. Mit einem traumhaften Satz auf 139,5 Meter siegt Kamil | |
Stoch aus Zakopane erneut. Die polnischen Fans geraten in Ekstase. Ein | |
beleibter Glatzkopf reißt sich die Kleider vom Leib. Barbusig schreit er | |
den Himmel an. Gewonnen! | |
Menschen strömen durch die Tore, wollen Erste sein. Im Bus. Im Zug. Zu | |
Hause. Bei der Siegerehrung ist nur noch ein Bruchteil des Publikums im | |
Stadion. Die Polen jubeln ihrem Helden zu, Sportbegeisterte, von weit her | |
Gereiste, Kinder, die auf Autogramme hoffen. Reporter und Kameraleute holen | |
Siegerbilder und letzte Stellungnahmen ein. Genussvolle Minuten für die | |
Tageshelden. Kamil Stoch, der bereits im letzten Jahr die Tournee gewann | |
und nun unzweifelhaft als Favorit gilt, gibt sich bescheiden. Richard | |
Freitag, der ihm erneut die Stirn geboten hat, verzichtet auf | |
herausfordernde Kommentare. Einer von beiden wird die Tournee wohl | |
gewinnen. | |
Die Werdenfelsbahn ist vollkommen überfüllt. In einer Mischung aus | |
Übermüdung und Pragmatismus lehnen sich die Menschen in den Gängen | |
aneinander. Kälte und Glühwein haben allen zugesetzt. Peter ist zwölf, | |
hockt auf dem Boden und betrachtet das schlafende Gesicht seiner Mutter. | |
Zum Glück müssen sie nur bis Freising, wo die Oma wohnt. Er betrachtet die | |
Fahne in seinen Händen. Er hat kein Autogramm des Tagessiegers. Rund um das | |
Logo des Automobilriesen stehen große Namen beieinander: Freitag, Kraft, | |
Fannemel. Doch der Entscheidende fehlt. Peter wirkt, als wolle er die Fahne | |
direkt aus dem Zug schmeißen. So ein Ärger. Zum Glück kommt er nicht ans | |
Fenster. Zu voll. Und wer weiß. Vielleicht gewinnt ja einer von denen in | |
Innsbruck? | |
4 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Manja Präkels | |
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