| # taz.de -- Nachwahl in Old Bexley and Sidcup: Stimmungstest in London | |
| > Boris Johnson durchläuft ein Tief. Nun könnten die Tories in einer | |
| > Nachwahl auch noch einen Traditionswahlkreis verlieren. | |
| Bild: Labour will einen neuen Sitz im Unterhaus holen: die lokale Labour-Chefin… | |
| Bexley/Sidcup taz | Breite, ruhige und saubere Straßen, Einfamilienhäuser | |
| mit Vorgärten, Parks, gute Privatschulen: Das ist untypisch für London, | |
| aber so sieht es aus im Stadtbezirk Bexley am südöstlichen Rand der | |
| Metropole. Weil es die Leute hier politisch ebenfalls nicht so halten wie | |
| der Rest Londons, sind viele nun auf die Ergebnisse der Nachwahl im | |
| Wahlkreis Old Bexley and Sidcup am 2. Dezember gespannt. | |
| Der Wahlkreis ist konservativ, seit der spätere Premierminister Edward | |
| Heath hier 1950 Unterhausabgeordneter wurde. 63 Prozent stimmten 2016 für | |
| den Brexit – einer von nur 5 der 32 Londoner Stadtbezirke mit einer | |
| Brexit-Mehrheit. Der Wahlkreisabgeordnete damals hieß James Brokenshire, er | |
| ist im Oktober mit 53 Jahren an Lungenkrebs gestorben. | |
| Die Nachwahl gilt nun als Test für die regierenden Konservativen, die den | |
| Gemeinderat Louie French ins Rennen schicken. Bereits im Juni verloren sie | |
| den Wahlkreis Chesham and Amersham nordwestlich von London, seit 70 Jahren | |
| in Tory-Hand, an die Liberaldemokraten. | |
| Für viele konservative Stammwähler:innen ist das Boot buchstäblich | |
| voll. Nicht nur wegen des Stroms von Schlauchbooten mit [1][Flüchtlingen, | |
| die den Ärmelkanal überqueren], sondern auch wegen schlechter Schlagzeilen | |
| über Nebenjobs von Abgeordneten und einer Regierung, die massive | |
| Staatsausgabenerhöhungen und eine Energiewende plant. | |
| „Stolz auf unsere Nation, Geschichte und Kultur“ | |
| Der ehemalige Finanzangestellte John Wiltshire, 70, hat bisher meist | |
| konservativ gewählt. Aber eine Partei, die „meinen Gasheizkessel und meinen | |
| sparsamen BMW abschaffen will, die will ich nicht mehr wählen“, sagt er. | |
| „Die Tories werden von einer metropolitanen Elite geführt und helfen sich | |
| zu sehr selber“, behauptet er. Er spricht stolz über seine Wurzeln in der | |
| Arbeiterklasse. Aber auch Labour kommt für ihn jetzt nicht infrage. | |
| Auch der 54-jährige Paul Clark will den Tories einen Warnschuss senden. | |
| „Boris hat gute Absichten, etwa mit dem Norden, aber er macht keine | |
| glaubhafte Politik“, findet er. Er verweist auf die vielen Schlauchboote, | |
| die nach England durchkämen. Auch er hält allerdings nichts von Labour-Chef | |
| Keir Starmer. „Er wirkt wie ein nasser Waschlappen“, fügt seine Frau an der | |
| Haustürschwelle hinzu. „Ich finde, dass die Konservativen eine Partei | |
| geworden sind, die alle befriedigen will. Das geht aber nicht. Sie sollten | |
| auf die schweigende Mehrheit hören.“ | |
| Der Warnschuss soll in Form von Richard Tice kommen. Der 57-jährige | |
| Immobilienmogul war einst Mitstreiter von Nigel Farage und Vorsitzender der | |
| kurzlebigen Brexit Party, die 2019 die letzten britischen Wahlen zum | |
| Europaparlament gewann. Als Farage die Brexit Party abwickelte, gründete | |
| Tice die Nachfolgepartei Reform UK. | |
| Für die probiert Tice nun sein Glück in Old Bexley and Sidcup. Seine | |
| Methode ist altbewährt. Auf einem offenen Doppeldeckerbus kutschiert er | |
| durch den Bezirk und winkt den Leuten zu. | |
| Konkurrenz von rechts macht den Konservativen auch David Kurten, ein 50 | |
| Jahre alter ehemaliger Chemielehrer, dessen Vater aus Jamaika stammt. 2016 | |
| wurde er für die von Nigel Farage aufgebaute Anti-EU-Partei Ukip (United | |
| Kingdom Independence Party) Abgeordneter der Londoner Regionalversammlung, | |
| trat danach jedoch gleich zweimal aus der Partei aus, zuletzt aufgrund der | |
| islamfeindlichen Haltung der Ukip. | |
| Nun hat er seine eigene Partei gegründet, die Heritage Party. Auf seinen | |
| Wahlzetteln wirbt er mit „Stolz auf unsere Nation, Geschichte und Kultur“, | |
| er ist gegen Klimaneutralität und für das Ende der „Cancel Culture“. | |
| ## Nachwahl wird zum Urteil | |
| Im Gespräch mit der taz an einem kleinen Wahlkampfstand neben dem S-Bahnhof | |
| Sidcup erklärt Kurten lächelnd: „Viele Leute behaupten, sie wollen uns | |
| unterstützen, weil sie genug von Lockdowns und Impfen haben und nicht den | |
| Eliteprojekten des Klimawandels einer Gruppe alter korrupter Politiker | |
| zustimmen.“ Auch die Gasheizkessel hat Kurten auf seinem Wahlmaterial nicht | |
| vergessen. „Save our Cars and our Boilers“, steht da. | |
| Labour, das mit dem Kommunalpolitiker Daniel Francis den Wahlkreis erobern | |
| will, wittert bei dem Frust mancher Tories eine Chance. Die lokale | |
| Labour-Vorsitzende Donna Briant zieht mit einer kleinen mit Flugblättern | |
| bewaffneten Gruppe von Genoss:innen durch Welling, eine ärmere und | |
| diversere Gegend. Viele hätten genug von der Art der Tories, nicht für ihre | |
| Wähler, sondern für sich selbst zu regieren, meint Briant. | |
| Ihr Enthusiasmus ist unüberhörbar. „Wir hoffen, dass sich nicht nur mehr | |
| Leute für uns entscheiden, denn Keir Stamer ist ein wunderbarer Politiker, | |
| sondern dass die konservative Stimme von anderen Rechten gespalten wird. Es | |
| wird auf alle Fälle eine Botschaft an Johnson sein, vielleicht sogar der | |
| Sieg unseres hervorragenden Kandidaten.“ | |
| Auf der Straße hört die taz jedoch nur von Leuten, die schon immer Labour | |
| wählten, dass sie es weiterhin tun wollen. Neue Ufer scheint die | |
| Oppositionskraft noch nicht zu erobern. Im Gegenteil, die taz stößt auf | |
| zwei Personen, die lieber Grün wählen wollen: eine Studentin und eine | |
| gebürtige Finnin. Diese Nachwahl wird nicht nur ein Urteil über die | |
| Konservativen und Boris Johnson, sondern auch über Labour und Keir Starmer. | |
| 2 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
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