# taz.de -- Nachruf Lech Kaczynski: Der tragische Held | |
> Polens Präsident Lech Kaczynski polarisierte stark, belebte alte | |
> Feindbilder und setzte zuletzt auf die antirussische Karte. Dass er bei | |
> Katyn stirbt, macht ihn zum tragischen Helden. | |
Bild: Starb am Sonnabend bei einem Flugzeugabsturz: Polens Präsident Lech Kacz… | |
WARSCHAU taz | „Gestorben in Petschorsk bei Smolensk, Russland.“ Das steht | |
schon am Todestag Lech Kaczynskis in seinen Internetbiografien. Polens | |
Präsident wollte an einer Gedenkfeier für die 1940 vom sowjetischen | |
Geheimdienst ermordeten 22.000 polnischen Offiziere teilnehmen. Er wollte | |
mit möglichst vielen Hinterbliebenen der damaligen Opfer an den 70. | |
Jahrestag des Massakers von Katyn gedenken. Doch seine Maschine zerschellte | |
beim Landeanflug. An Bord waren 97 Personen, darunter zahlreiche Politiker, | |
Polens Armeeführung und einige Bischöfe. Sie alle starben nun ebenfalls in | |
den Wäldern von Katyn. Ausgerechnet in Katyn. | |
Im Herbst wollte Lech Kaczynski erneut für das Präsidentenamt kandidieren. | |
Mit zuletzt knapp zwanzig Prozent Zustimmung standen die Chancen für eine | |
Wiederwahl zwar schlecht, doch vor fünf Jahren startete er ebenfalls von | |
einer aussichtslos erscheinenden Position – und schlug am Ende den | |
Favoriten Donald Tusk aus dem Rennen. Damals stach die antideutsche Karte. | |
Die national-konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) der | |
Zwillingsbrüder Kaczynski warf Tusk vor, dass sich dessen Großvater im | |
Zweiten Weltkrieg freiwillig bei der Wehrmacht gemeldet und gegen Polen | |
gekämpft habe. Prompt sanken die Umfragewerte von Tusk in den Keller. Einen | |
Präsidenten mit einem „Wehrmachts-Opa“ in der Familie, einem Verräter als… | |
wollten die Polen nicht haben. Erst nach den Wahlen stellte sich heraus, | |
dass der Vorwurf falsch war. Aber da war es bereits zu spät. | |
Auch diesmal wollte Kaczynski wieder mit einem historischen Thema punkten. | |
Schon auf der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns auf der | |
Westerplatte in Danzig machte er klar, wohin die Stoßrichtung diesmal gehen | |
würde: [1][gegen Moskau]. In einem unpassenden Vergleich setzte Kaczynski | |
am 1. September 2009 den deutschen Massenmord an den Juden mit dem | |
russischen Massaker an den polnischen Offizieren in Katyn gleich. | |
Tatsächlich hat Katyn für Polen eine ähnliche Symbolkraft wie Auschwitz für | |
Juden – in Katyn sollte Polens politische wie kulturelle Elite ausgelöscht | |
werden, so dass die polnische Nation die Fähigkeit verlieren würde, sich | |
selbst auch nur als Nation zu denken. Eine ähnliche Politik verfolgten die | |
Nazis in ihrem Teil des 1939 besetzten Polens. Das Ziel war die | |
vollständige Unterjochung Polens. | |
Kaczynskis private Gedenkfeier in Katyn mit den vielen Hinterbliebenen der | |
Opfer von 1940 sollte einen Kontrapunkt setzen zu derjenigen, die drei Tage | |
zuvor hochoffiziell an dem selben Ort abgehalten wurde. In einer | |
historischen Versöhnungsgeste hatten sich die Regierungschefs von Russland | |
und Polen, Wladimir Putin und Donald Tusk die Hand gereicht. PiS-Politiker | |
kritisierten die Geste als verfrüht und forderten in scharfen Worten eine | |
erneute Entschuldigung Moskaus für die Verbrechen Stalins an den Polen. | |
Auch seien noch immer nicht alle Akten des Geheimdienstes aufgedeckt und | |
öffentlich zugänglich. Ohne Wahrheit aber könne es keine Versöhnung geben. | |
Die traumatischen Erfahrungen der Eltern im Zweiten Weltkrieg prägten auch | |
das Leben der beiden Kaczynski-Brüder. Als sie am 18. Juni 1949 das Licht | |
der Welt erblickten, lag Polens Hauptstadt Warschau noch in Trümmern. Vater | |
Raimund, ein Ingenieur, und Mutter Jadwiga, eine Philologin, hatten gegen | |
die deutschen und sowjetischen Besatzer gekämpft. Nach 1945, als Polen | |
unter der Knute Stalins blieb und hinter dem Eisernen Vorhang verschwand, | |
durfte weder der Opfer des Warschauer Aufstandes 1944 gedacht werden, noch | |
auch nur der Massenmord in Katyn erwähnt werden. Erst mit der | |
Gewerkschafts- und Freiheitsbewegung Solidarnosc, der sich die | |
Kaczynski-Brüder früh anschlossen, wurde die Zensur in Polen etwas | |
gelockert. | |
Was Ruhm bedeutet, erfuhren die Zwillinge schon als Kinder. Im Film „Von | |
zweien, die den Mond stahlen“ spielten sie als Jacek und Placek die | |
Hauptrollen. Lech kam im Film wie auch im Leben die Rolle des verschmitzt | |
Humorvollen zu, der auf andere zuging und Freundschaften schloss. Jaroslaw | |
war der zynische Stratege und Tüftler. Er gab in dem Gespann den Ton an. | |
Augenfällig wurde dies für die Polen 2005, als Lech Kaczynski die | |
Präsidentenwahl gewann, auf dem Fest am Abend die Hacken zusammenknallte | |
und seinen Bruder zurief: „Auftrag ausgeführt“. | |
Beide studierten Rechtswissenschaft und schlossen sich früh der | |
antikommunistischen Opposition an. Lech gab Arbeitern in der damaligen | |
Leninwerft in Danzig kostenlos Rechtsauskünfte. Der damalige Elektriker | |
Lech Walesa und die Kranführerin Anna Walentynowicz, derentwegen der große | |
Streik 1980 in der Danziger Werft ausbrach, verließen sich immer auf seinen | |
Rat. Zunächst verfolgten die Zwillinge eine wissenschaftliche Karriere, | |
Lech an der Universität in Danzig, Jaroslaw in Warschau. Doch als Polen | |
1989 als erstes Land im damaligen Ostblock die Unabhängigkeit | |
wiedererlangte, stürzten sie sich in die Politik, wurden zunächst Berater | |
von Präsident Lech Walesa, zerstritten sich aber bald mit ihm, schlossen | |
sich verschiedenen Regierungen an und gründeten schließlich ihre eigene | |
Partei, die national-konservative Recht und Gerechtigkeit (PiS). | |
Im November 2002 wurde Lech Kaczynski in den ersten freien und direkten | |
Kommunalwahlen Polens zum Oberbürgermeister Warschaus gewählt. Der Ruf des | |
„Sheriffs“, den er sich als Justizminister und selbsternannte „Kämpfer | |
gegen Kriminalität und Korruption“ erworben hatte, bescherte ihm ein | |
Traumergebnis von mehr als 70 Prozent im zweiten Wahlgang. Seine | |
populistischen Forderungen nach Wiedereinführung der Todesstrafe und | |
Verschärfung des Strafrechts hatten ihn zum beliebtesten Minister des | |
skandalumwitterten Kabinetts von Jerzy Buzek werden lassen. | |
Als Oberbürgermeister Warschaus blockierte er zwar wichtige Investitionen, | |
weil er überall korrupte Machenschaften vermutete und auch die städtischen | |
Beamten unter Generalverdacht stellte. Doch er setzte den Bau des Museums | |
des Warschauer Aufstandes von 1944 durch. Pünktlich zum 60. Jahrestag | |
konnte das Museum erstmals seine Pforten öffnen. Vier Tage lang dauerten | |
die Feiern. Der damalige deutsche Kanzler Gerhard Schröder versprach nach | |
seinem Rundgang, dass es keine offenen Vermögensfragen zwischen Polen und | |
Deutschland mehr gebe, die Eigentumsforderungen der deutschen Vertriebenen | |
gegenüber Polen also gegenstandslos seien. Für Lech Kaczynski war das einer | |
sein größten politischen Erfolge. | |
Im Ausland allerdings blieb Kaczynski umstritten, nicht nur wegen seiner | |
tiefen Skepsis gegenüber der EU und deren angeblich dekadenten Werten, | |
sondern auch wegen seiner Verbote der Schwulen- und Lesben-Parade in | |
Warschau sowie seiner wiederholten Forderung nach Wiedereinführung der | |
Todesstrafe. In Polen allerdings brachte ihm genau dieser | |
„Wertkonservatismus“ bei einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft | |
Pluspunkte ein. | |
In den ersten fünf Jahren ohne Zensur hatte Polen nicht nur vehement über | |
seine Zukunft in der Nato und der EU diskutiert, sondern auch über die | |
„weißen Flecken“ und die Legenden und Mythen in der eigenen Geschichte. Das | |
sowjetische Massaker von Katyn kam zur Sprache, aber auch die Vertreibung | |
der Deutschen nach 1945 und die polnischen Pogrome an Juden während und | |
nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit brach das über Jahrhunderte tradierte | |
Bild von Polen als den „Helden und Opfern der Geschichte“ in sich zusammen. | |
Während Donald Tusk als Präsidentschaftskandidat zukunftsorientiert auf den | |
Erfolgsmythos der Freiheitsbewegung Solidarnosc setzte, bot Kaczynski die | |
mentale Rückkehr zum Jahr 1989 an. Die „IV. Republik“, die er und die | |
Partei „Recht und Gerechtigkeit“ ausrufen wollten, sollte alle bisherigen | |
Diskussion vergessen machen, die korrupten Post-Kommunisten endgültig | |
entmachten und den altvertrauten Helden und Opfer-Mythos wieder herstellen. | |
Als Kaczynski dann auch noch die antideutsche Karte gegen Tusk zückte, | |
hatte er gewonnen. 2005 wurde Lech Kaczynski Staatspräsident Polens. | |
Doch seine Amtszeit stand unter keinem guten Stern. Die Beziehungen zu fast | |
allen Nachbarn verschlechterten sich dramatisch, insbesondere gegenüber | |
Deutschland und Russland, in denen Kaczynski nichts anderes als die Feinde | |
von einst zu sehen vermochte. Als die PiS auch die Parlamentswahlen gewann | |
und eine Koalition mit zwei radikalen Parteien einging, begann der Alptraum | |
„IV. Republik“. Polen wurde von eineigigen Zwillingen regiert: Lech war | |
Präsident, Jaroslaw Premier Polens. Die erklärten Feinde der beiden waren | |
Deutschland, Russland, die Europäische Union und die ominöse „Seilschaft“, | |
die das Land von innen zu zerstören versuchte. Die „moralische Erneuerung“ | |
sollte den Verrätern und Feinden im In- und Ausland den Garaus machen. | |
Mit der „Kartoffelaffäre“ fing die Serie von Missverständnissen, | |
diplomatischen Verwicklungen und Beleidigungsprozessen an, die Polen | |
weltweit der Lächerlichkeit preisgaben. Durch eine Satire auf der | |
Wahrheitsseite der taz fühlte sich Lech Kaczynski so beleidigt, dass er ein | |
Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen | |
Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy absagte. Polens Regierung forderte | |
zunächst Merkel eine Distanzierung und Entschuldigung für die taz-Satire. | |
Als der Regierungssprecher in Berlin auf die Pressefreiheit in Deutschland | |
verwies, leitete die Staatsanwaltschaft in Warschau ein | |
Ermittlungsverfahren ein. Der Autor der Satire sowie die Cheredakteure der | |
taz sollten an Polen ausgeliefert werden. Wider Willen hatte es Kaczynski | |
so bis in die US-amerikanischen Comedy-Shows geschafft. | |
Auch in der EU gab es Probleme. Während der Verhandlungen zum Lissabon | |
Vertrag telefonierte Lech Kaczynski immer wieder mit seinen Bruder | |
Jaroslaw, um zu beratschlagen, wie er weiterverhandeln solle. Schließlich | |
riefen Merkel, Sarkozy und Blair direkt in Warschau an. 2007 waren es dann | |
die Polen leid. Nach einem Korruptionsskandal, in dem die PiS-Regierung | |
sich in der selbst gestellte Falle gefangen hatten, wählten die Polen die | |
„Vierte Republik“ ab. Seither steht der EU-freundliche Donald Tusk an der | |
Spitze der Regierung. | |
Trotz kleiner Scharmützel kam er persönlich mit Lech Kaczynski gut zurecht. | |
Die beiden kannten sich aus der Oppositionszeit in Danzig. Doch während | |
Tusk die Politik der kleinen Schritte auch in der schwierigen | |
Geschichtsaufklärung bevorzugt, wollte Lech Kaczynski immer die ganze | |
Wahrheit, sofort und kompromisslos. Politisch hatten sich die meisten Polen | |
bereits von ihrem Präsidenten abgewandt. Doch sie mochten ihn rein | |
menschlich. Auch und gerade, weil er an seinem Wahrheitsanspruch | |
gescheitert war. | |
Die spontane und massenhafte Trauer der Polen ist echt, die Kerzen, die | |
Blumen, die lauten Gebete. Sie werden Lech Kaczynski als denjenigen in | |
Erinnerung behalten, der das Museum des Warschauer Aufstandes 1944 | |
gegründet hat und „im Dienste der Nation“ auf dem Weg zur Gedenkfeier in | |
Katyn gestorben ist. Damit ist er für die Polen das, was Kaczynski an | |
anderen immer am meisten bewundert hat: ein tragischer Held. | |
11 Apr 2010 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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