# taz.de -- Nach der Befreiung Libyens: Land der Freiwilligen | |
> Vier Monate nach der Befreiung ist von staatlichen Strukturen nichts zu | |
> sehen. Libyen wird von seinen Bürgern gemanagt, und die Behörden haben | |
> nur symbolischen Wert. | |
Bild: Demonstranten fordern in Tripolis die Abgabe von Waffen in Privatbesitz. | |
TRIPOLIS/MISURATA taz | Libya Mansura, siegreiches Libyen, haben Muhib | |
Natha und seine beiden Freunde ihre Lokalzeitung genannt. Ihre | |
provisorische Redaktion haben sie in einem alten Bürogebäude nahe der | |
verbotenen Stadt im Herzen von Tripolis aufgeschlagen. Bab al-Asisia, | |
Muammar Gaddafis ehemalige Kommandozentrale mit Park, Bunkern und bis an | |
die Zähne bewaffneten Elitetruppen, liegt jetzt in Trümmern. Die vier Meter | |
hohen Mauern sind das Symbol der Angst des Diktators vor seinem eigenen | |
Volk. | |
Gaddafis sechs Quadratkilometer großes Hauptquartier im Stadtteil Mansura | |
ist zum Ausflugsziel geworden. Natha stapft durch den militärischen Teil | |
der Anlage, gerade haben sie einen 500-Kilo-Blindgänger gefunden, | |
abgeworfen von der Royal Airforce. Die Journalisten sind Mitglieder eines | |
Bürgerkomitees, das im Stadtteil nach dem Rechten schaut. Tripolis wird | |
vier Monate nach der Befreiung immer noch von seinen Bürgern gemanagt, die | |
Behörden haben nur symbolischen Wert. | |
Muhib Natha und der Imam von Mansura, Sheik Azuze, sitzen im Gebäude des | |
Lokalrats von Mansura. Sie versuchen, die Nato zum Entschärfen der Bombe zu | |
erreichen, Azuze ist jetzt eine Art Bürgermeister wider Willen. Er | |
schlichtet Konflikte, kümmert sich um die Müllabfuhr. | |
"Wir mussten für unsere Freiheit zu den Waffen greifen", sagt Sheik Azuze, | |
"alle alten Strukturen sind nun weggebrochen, plötzlich müssen wir die | |
Sicherheit im ganzen Stadtteil organisieren. Mit all den Freiwilligen geht | |
das auch ganz gut. Aber eine professionelle Verwaltung kriegen wir nicht | |
hin. Schon um ein Budget aufzustellen und die Infrastruktur wieder | |
aufzubauen, brauchen wir dringend Hilfe aus dem Ausland." | |
## Listen mit Namen von Gaddafi-Anhängern | |
In Fünfstundenschichten stehen Nachbarn Tag und Nacht an Straßenecken. | |
Unbeholfen halten viele ihre Kalaschnikows und überprüfen Unbekannte. | |
Libyen ist eine informelle Gesellschaft; man kennt sich untereinander, | |
fremde Gesichter und Autos fallen sogar in der Drei-Millionen-Stadt | |
Tripolis auf. | |
An den Checkpoints liegen Listen mit Namen von Gaddafi-Anhängern und deren | |
Autokennzeichen. Auf die Jagd nach ihnen geht niemand, es geht den Bürgern | |
erst einmal nur um ihre eigene Sicherheit. Was im Ausland meist als | |
gefährliche Milizen bezeichnet wird, sind tatsächlich eher Bürgerwehren und | |
die einzige Ordnungsmacht im Land; nur wenige davon sind undiszipliniert. | |
Elf Stadtteilräte haben Tripolis unter sich aufgeteilt, sie treffen sich | |
mehrmals in der Woche und diskutieren die aktuelle Lage. Ihren offiziellen | |
Kommandeur, den vom Nationalen Übergangsrat (NTC) eingesetzten Abdelhakim | |
Bel Hadsch, akzeptieren sie nicht als Chef. Denn ihm werden Verbindungen zu | |
der konservativen Muslimbrüderschaft nachgesagt und Kommandoaktionen gegen | |
die mystische Glaubensgemeinschaft der Sufis. | |
Nachts versuchen immer wieder bewaffnete Gruppen, die Moscheen der | |
Sufi-Glaubensrichtung anzugreifen. In den 170 Sufi-Moscheen gibt es oftmals | |
Gräber, was konservative Salafisten und Muslimbrüder als Gotteslästerung | |
betrachten. Sie wollen das nachrevolutionäre Chaos in Libyen nutzen, um die | |
Gräber zu entfernen. | |
## Mehrheit der Tripolitaner will Ruhe | |
Bel Hadsch könnte diese Attacken verhindern, und nicht wenige werten seine | |
auffällige Zurückhaltung in dieser Angelegenheit als Zustimmung zu den | |
Aktionen, die die meisten Libyer empören. Die Mehrheit der Tripolitaner | |
will endlich Ruhe und Rechtsstaatlichkeit. Dass Bel Hadsch in Afghanistan | |
gekämpft hat und in geheimen CIA Gefängnissen gefoltert wurde, auch in | |
Libyen, hat dem Mann aus der Nähe von Bengasi moralische, aber keinen | |
politischen Pluspunkte gebracht. | |
Muhib Natha sitzt in einem großen Besprechungsraum im Grand Hotel nahe dem | |
Märtyrerplatz; hier schlägt das politische Herz der Hauptstadt. Leute aus | |
allen Stadtteilen treffen sich zweimal pro Woche zu einem Diskussionssalon, | |
wie sie es nennen. Tenor dieses Abends ist, dass eine zuverlässige Armee | |
hermuss, damit die Revolutionäre ihre Waffen abgeben können. Bei den | |
meisten Revolutionären hat der Nationale Übergangsrat seinen | |
Vertrauensvorschuss verspielt. | |
"Jedem, der seinen Beitrag zur Revolution geleistet hat, sind wir dankbar. | |
Aber Leute, die sich mit dem Regime eingelassen haben, dürfen keine höheren | |
Ämter bekommen", beklagt sich Ali Arajhi auf der belebten | |
Omar-Muktar-Straße. So denken viele im Libyen der nachrevolutionären Zeit. | |
Viele im NTC seien Teil des Gaddafi-Regimes gewesen. Mit der | |
Februarrevolution wollten sie die Gaddafi-Familie loswerden, aber ihre | |
Stellung behalten, dazu biete der NTC ihnen die Möglichkeit. | |
## Misurata ist ein einziges Trümmerfeld | |
Die kaum 180 Kilometer lange Straße nach Misurata führt in ein anderes | |
Libyen. Alle paar Kilometer ein Checkpoint in der Wüste. Man kann die | |
Straßensperren schon von Weitem an den aufeinandergestapelten | |
Schiffscontainern gut erkennen. Schritttempo, Fahrzeugkontrolle, die | |
Milizionäre aus Misurata stellen ein paar Fragen, wollen wissen, wer ihre | |
Stadt besuchen will. Pick-ups mit Luftabwehrgeschützen vermitteln das | |
Gefühl, dass der Krieg hier noch nicht vorbei ist. | |
Vier Monate lang hatten sich Gaddafis Truppen mit unzähligen Panzern hier | |
eingenistet und auf alles geschossen, was sich bewegte. In Tripolis ist von | |
Kriegsschäden wenig zu sehen, die Innenstadt von Misurata dagegen ist ein | |
einziges Trümmerfeld. Mindestens 4.000 Zivilisten starben, mehr als 10.000 | |
wurden verletzt. | |
"In Tripolis waren doch fast alle für Gaddafi, erst kurz vor der | |
endgültigen Niederlage haben sie sich auf die Seite der Revolution | |
geschlagen. Das zeigt auch der Machtkampf um die Armee. Wir trauen weder | |
der Politik in Tripolis noch dem Übergangsrat aus Bengasi. Viele kommen aus | |
dem alten Regime und verhalten sich auch so", sagt Ahmed Shlak, Redakteur | |
des Lokalfernsehsenders Tobacts. Noch heißt er Misurata TV. Doch davon gibt | |
es zwei, den anderen betreibt der örtliche NTC-Vertreter Mohammed Sawawy. | |
"Die Journalisten dort dürfen die neuen Machthaber nicht kritisieren. Da | |
frage ich mich, wofür so viele Menschen in Misurata eigentlich gestorben | |
sind. Doch für die Freiheit - oder?", empört sich Shlak. Am 1. Januar wird | |
der Name in "Tobacts" geändert. 60 Angestellte arbeiten an den Sendungen | |
zum Wahlkampf, der schon bald beginnen wird. | |
Misurata ist besser als Tripolis organisiert, das ein Schmelztiegel aller | |
Libyer ist. Misurata hält zusammen und unterhält gute Beziehungen nur zu | |
einzelnen Stadtteilen der Hauptstadt. Die Belagerung und die vielen | |
Todesopfer haben die Einwohner Misuratas misstrauisch gemacht, hier wird so | |
bald niemand seine Waffen abgeben. Die Angst vor der fünften Kolonne | |
Gaddafis wird, auch wenn er selbst tot ist, wachgehalten. | |
Ein großer, elegant gekleideter Mann steht in einer kleinen Menschenmenge | |
vor dem Hintergrund ausgebrannter Häuserruinen, aus der Ferne ist die | |
Brandung des Mittelmeers zu hören. Taher Zaroog ist Gründer der ersten | |
Medienunion des freien Libyen. Er hat zusammen mit anderen | |
Bürgerrechtsbewegungen zu einer Demo aufgerufen, 70 Leute sind gekommen. | |
Viele Journalisten fordern auf Plakaten Medienfreiheit. Zaroog verkörpert | |
die kritische Haltung vieler Libyer außerhalb von Bengasi und Tripolis, den | |
beiden großen Städten des Landes. | |
## Medien unter Kontrolle | |
"Ministerpräsident Abdurrahim al-Keib hat mit dem Gesetz Nr. 7 die Medien | |
vor ein paar Tagen unter die Kontrolle des Kultusministeriums gestellt", | |
sagt Zaroog. "Nach der Revolution versprach der Übergangsrat, es werde kein | |
für Medien zuständiges Ministerium geben. Und nun das! Wir haben für | |
Transparenz gekämpft, für ein demokratisches Libyen. Wir werden so lange | |
demonstrieren, bis al-Keib dieses Gesetz zurücknimmt." Die Medienunion von | |
Taher Zaroog hat landesweit Zulauf, er will ein Gegenmodell zu den | |
verstaubten Vorstellungen der alten Elite schaffen. | |
Nicht einmal internationale Diplomaten kennen die genauen Machtstrukturen | |
des neuen Libyen. Was genau entscheidet der NTC und was die | |
Übergangsregierung, die ja nur acht Monate im Amt sein wird, bis zu den | |
voraussichtlich nächsten Sommer stattfindenden Wahlen? Auf die Bitte um | |
eine NTC-Namensliste bei den Vereinten Nationen, der britischen Botschaft | |
und dem NTC selbst erhält man drei verschiedene Versionen, mit 43 bis 58 | |
Mitgliedern. | |
"Das muss ein Ende haben, diese Leute haben das gleiche Denken wie zu | |
Zeiten des Regimes", sagt Zaroog, "vor allem im Medienbereich. Wir wollen | |
ein Fernsehen wie in Deutschland oder England für Libyen. Der englischen | |
Premierminister steht nicht an der Spitze der BBC. Warum hat al-Keib die | |
Kontrolle über den neuen Sender Libya übernommen?" | |
## Wo sind die Ölmillionen? | |
In einem halben Jahr soll der Übergangsrat durch eine verfassunggebenden | |
Nationalkonferenz ersetzt werden. Doch dem Chef Mustafa Dschalil läuft die | |
Zeit davon. In Bengasi wurde schon eine "Occupy Bengasi"-Bewegung | |
gegründet, Studenten haben Zelte vor dem Gericht aufgeschlagen, vor dem am | |
15. Februar die Proteste begannen. Sie wollen wissen, wohin die Millionen | |
aus dem Ölexport geflossen sind. Und wie viel die Minister im Monat | |
verdienen und warum die monatliche Hotelrechnungen astronomisch hoch sind, | |
während die Mehrheit der Libyer, die das Land über Wasser hält, als | |
Freiwillige arbeitet. | |
So wie Mohammed Kish, den der NTC gerade aus Tunesien zurückgeholt hat. | |
Kish, ein jovialer Exillibyer aus London, hatte in der Revolution die | |
Pressekonferenzen des NTC organisiert. Während er ohne Entlohnung für die | |
Revolution arbeitete, lebten andere in Saus und Braus. Er hatte irgendwann | |
die Nase voll von den grauen Herren, die nicht mehr die Werte der | |
Revolution standen, und ging nach London. | |
Jetzt soll der Mittdreißiger den NTC und die Interimsregierung in der | |
Öffentlichkeit vertreten, ein Kommunikationsbüro aufbauen. Und gleichzeitig | |
die Verantwortung für die Auskünfte über die Zukunft des ganzen Landes | |
übernehmen, das Antworten will. Das klingt nach einem attraktiven | |
Jobangebot. Mohammed Kish denkt lange nach. "Ab und zu wache ich nachts | |
schweißgebadet auf, dann wird mir die Lage kurz klar. Ein falsches Wort | |
kann zu einer Katastrophe führen, solange das Land nicht vorankommt. Es ist | |
aber vielleicht keine einmalige Chance für mich, sondern für die Herren des | |
NTC." | |
27 Dec 2011 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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