# taz.de -- Militärsoziologe über die Entführungen: „Hamas wird die Geisel… | |
> Dass die Geiseln mit Gewalt befreit werden können, hält Militärsoziologe | |
> Yagil Levy für unwahrscheinlich. Warum Israel in Gaza vor einem Dilemma | |
> steht. | |
Bild: Militante Palästinenser entführen eine israelische Zivilistin aus dem K… | |
taz: Herr Levy, Israel bombardiert den Gazastreifen. Offiziell heißt es, | |
dass sich die Angriffe nur auf Ziele der Hamas richten und die | |
Zivilbevölkerung vorgewarnt wird. Ist das so? | |
Yagil Levy: Es ist richtig, dass es eine allgemeine Vorwarnung an die | |
Zivilisten gab. Es ist aber auch richtig, dass Israel aktuell von der | |
früher üblichen Methode des „Anklopfens“ absieht, bei der unmittelbar vor | |
der gezielten Bombardierung eines Hauses die Bewohner vorgewarnt werden. | |
Israel hat offiziell erklärt, dass Häuser, in denen sich bekanntermaßen | |
Quartiere der Hamas oder des Islamischen Dschihads befinden, ohne | |
Vorwarnung bombardiert werden. Was auch die hohe Zahl von zivilen | |
Todesopfern erklärt. | |
Die Hamas versteckt sich gezielt hinter Zivilisten, nutzt gerade | |
Krankenhäuser und UN-Einrichtungen. Wie kann, wie sollte man damit umgehen? | |
Das internationale Völkerrecht schützt Zivilisten auch, wenn sie als | |
menschliche Schutzschilde missbraucht werden. Israel geht aber | |
erklärtermaßen auch dann, wenn die Hamas sich hinter Zivilisten versteckt, | |
mit voller militärischer Wucht vor, davon ausgehend, dass es wichtiger ist, | |
[1][Israel zu verteidigen] und die Kämpfer wie die politische Führung der | |
Hamas anzugreifen. | |
Nun plant die Armee offenbar eine Bodenoffensive. Erwarten Sie ein anderes | |
Ergebnis als bei bisherigen Konfrontationen im Gazastreifen, wo nach dem | |
Krieg alles so war wie vor dem Krieg? | |
Es besteht heute enormer Druck vonseiten der israelischen Bevölkerung und | |
offenbar auch in den Reihen der Armee, nicht zu dem alten Zustand | |
zurückzukehren. Sonst würde es keine Bodenoffensive und keine so massive | |
Rekrutierung von Reservisten geben. Auf der anderen Seite beobachten wir, | |
dass es die politische Führung, obschon die Reservisten schon seit einigen | |
Tagen einsatzbereit sind, nicht eilig hat, eine Bodenoffensive zu starten. | |
Ich vermute, dass sie noch nicht endgültig darüber entschieden hat. Ein | |
Einmarsch bedeutet sicher eine große Zahl von verletzten und gefallenen | |
Soldaten einerseits und auch auf palästinensischer Seite viele verletzte | |
und tote Zivilisten. Die Regierung befindet sich in einem ungeheuer | |
schwierigen Dilemma, auch mit Blick auf die Operation „Starker Fels“ 2014, | |
die mit zahlreichen Opfern und letztendlich ohne Ergebnis endete. Die | |
Führung lässt sich Zeit. Auf der anderen Seite wäre es auch kein gutes | |
Signal, wenn die große Zahl der rekrutierten Reservisten wieder nach Hause | |
geschickt wird, ohne zum Einsatz gekommen zu sein. Diese schwierige Lage | |
erklärt auch die Bildung einer Großen Koalition und den Beitritt von | |
Politikern, die moderater sind. Die Entscheidung liegt dann nicht mehr | |
allein auf den Schultern der bisherigen Regierungskoalition. | |
Es sind 100 bis 150 Geiseln in den Händen der Hamas. Sehen Sie irgendeine | |
Chance, die Entführten zu befreien, mit militärischer Gewalt oder [2][durch | |
Verhandlungen]? | |
Die Möglichkeit, [3][die Entführten] gewaltsam zu befreien, ist sehr klein. | |
Sie werden an verschiedenen Orten versteckt gehalten. Ich hege keine | |
Zweifel daran, dass die Hamas versuchen wird, die Menschen für sich zu | |
nutzen, ob als menschliche Schutzschilde oder um Israel von Angriffen | |
abzuhalten. Es gab ja schon die Drohung, einzelne Geiseln zu ermorden, | |
sollte Israel angreifen. Natürlich muss es Verhandlungen geben. Klar ist, | |
dass Israel ein hoher Preis abgefordert werden wird. Hier muss an den über | |
fünf Jahre festgehaltenen [4][israelischen Soldaten Gilad Schalit] erinnert | |
werden, für den die Regierung letztendlich infolge des großen öffentlichen | |
Drucks über tausend palästinensische Häftlinge tauschte. Heute ist die Rede | |
von dutzenden Zivilisten, die aus vergleichsweise starken | |
gesellschaftlichen Reihen kommen, Leute, die im Umfeld des Gazastreifens | |
leben, in den Kibbuzim, in denen es diese Woche zu zahllosen Todesopfern | |
kam. Die Regierung muss nicht damit rechnen, dass die Angehörigen und | |
Freunde der Entführten die Hände in den Schoß legen und abwarten, was | |
Netanjahu nun tun wird. Sie werden sehr auf Verhandlungen drängen. Auch für | |
Verhandlungen ist es gut, dass es eine breite Regierung gibt, in der auch | |
moderatere Politiker sitzen, um anschließend eine zurückhaltende | |
Entscheidung zu rechtfertigen. | |
Es wird viel über den Zeitpunkt spekuliert, den die Hamas für den Angriff | |
wählte. Der Jahrestag des Jom-Kippur-Kriegs spielte vermutlich eine Rolle. | |
Sehen Sie noch andere mögliche Argumente, die für die Hamas wichtig gewesen | |
sein könnten? | |
Ich glaube, dass wir nicht ausreichend wahrgenommen haben, welche Emotionen | |
die Annäherung Israels an arabische Staaten und jüngst an Saudi-Arabien bei | |
den Palästinensern auslöst. Sie bleiben machtlos außen vor. Gleichzeitig | |
treibt die israelische Regierungskoalition den Siedlungsbau im | |
Westjordanland und [5][letztendlich die Annexion voran]. Wir beobachten | |
Gewalt vonseiten der Siedler, wie es sie noch nicht gab. Die massiven | |
Besuche von nationalreligiösen Juden auf dem Tempelberg. All das mag die | |
Hamas zur Aktion getrieben haben, obschon es gerade in jüngster Zeit | |
deutliche wirtschaftliche Erleichterungen für den Gazastreifen gab im | |
Gegenzug dafür, dass es dort ruhig blieb. Wir tendieren außerdem dazu, | |
globale Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Iran hatte sicher einen | |
Einfluss und mag die Hamas mit dazu bewegt haben, nicht unbedingt logisch | |
und rational mit Blick auf die eigenen Interessen vorgegangen zu sein. | |
Der Angriff ist [6][ein furchtbares Versagen] der Regierung, aber auch des | |
gesamten Sicherheitsapparats, allen voran der Geheimdienste und der Armee. | |
Wie konnte das passieren? | |
Um ehrlich zu sein, das ist etwas, was noch gründlich untersucht werden | |
muss. Jeden Tag gibt es neue Informationen darüber, dass es offenbar doch | |
Anzeichen dafür gab, dass ein solcher Angriff bevorstehen könnte, und die | |
man ignorierte. Die Nachrichtendienste sind offensichtlich davon | |
ausgegangen, dass die Hamas an Ruhe interessiert ist und nicht angreifen | |
wird. Die Armee hat zahlreiche Truppen aus dem Gazaumfeld ins | |
Westjordanland verlegt, um dort Siedlungen zu bewachen, vor allem während | |
des Laubhüttenfestes. Es ist völlig klar, dass man sich zu sehr auf die | |
technischen Sicherheitsanlagen verlassen hat und man deshalb glaubte, die | |
Zahl der Soldaten reduzieren zu können. Ich möchte aber gern noch zwei | |
weitere Punkte ansprechen: Das nachrichtendienstliche Konzept, das auf | |
Einigung mit der Hamas setzt und davon ausgeht, dass es dann ruhig bleibt, | |
erfüllt keinerlei politische Funktion. Seit Jahren gibt es keinen Ansatz | |
dafür, das Palästinenserproblem zu lösen. Was auch dazu führt, dass der | |
Iran an Einfluss gewinnt. Gleichzeitig konzentriert sich die Armee immer | |
mehr auf die Modernisierung und Technologie, und zwar so weit, dass sie die | |
grundsätzlichen Dinge vergisst, nämlich die Grenzen zu bewachen und Truppen | |
in vernünftigem Umfang einsatzbereit zu halten. Wenn so etwas wie in den | |
vergangenen Tagen passiert, dann gehört das zu dem Preis, den die Armee für | |
ihre Arroganz zahlen muss. Aber was ich noch sagen wollte: Es herrscht in | |
Israel die irre Vorstellung der Dialektik der Macht vor, die davon ausgeht, | |
dass man mit Waffen und Gewalt allein vorgehen kann, während uns die andere | |
Seite wiederholt vorführt, dass das nicht funktioniert. | |
Wie meinen Sie das? | |
Die Armee sorgt sehr dafür, dass sich der Irrglauben hält, für jedes | |
politische Problem gebe es eine militärische Lösung, sei es eine | |
technische, eine nachrichtendienstliche oder Truppen. Wieder und wieder | |
müssen wir erleben, dass die andere Seite diese Spielregeln nicht | |
akzeptiert, und jedes Mal versucht Israel etwas Neues, baut | |
Sicherheitsanlagen, unterhält ein unglaubliches nachrichtendienstliches | |
Netz innerhalb des Gazastreifens. Die Hamas hat uns jetzt bewiesen, dass | |
sie damit umgehen kann und den israelischen Nachrichtendienst sogar mit | |
falschen Informationen in die Irre führen kann. Wir müssen endlich | |
einsehen, dass uns der Einsatz von Gewalt nicht weiterbringt. | |
12 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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