# taz.de -- Maßregelvollzug in Berlin: Gute Tage, schlechte Tage | |
> Jahrelang lebte die obdachlose Ungarin in der Potsdamer Straße. Jetzt | |
> wurde sie zum Schutz der Allgemeinheit in den Maßregelvollzug | |
> eingewiesen. | |
Bild: Ramona S. im April 2022 an einem ihrer besseren Tage in ihrer Nische in d… | |
BERLIN taz | In einer Nische in der Potsdamer Straße, wo früher eine | |
Postfiliale war, schlief Ramona S. häufiger. Manchmal war das Lager | |
liebevoll mit Tüchern abgehängt, sauber und aufgeräumt, dann wiederum | |
verbarrikadierte sie sich hinter Sperrmüll. In dem Viertel zwischen | |
[1][Bülowstraße, Frobenstraße und Kurfürstenstraße] war die hagere Ungarin | |
seit vielen Jahren bekannt. | |
Wechselhaft wie ihr Wesen war ihre Erscheinung. In engem Kleid, | |
hochhackigen Schuhen, geschminkt und aufgebrezelt tänzelte sie manchmal | |
hinter dem Einkaufswagen her, in dem sie ihre Habe herumschob. Dann wieder | |
rannte sie barfuß und nahezu unbekleidet durch die Straßen, war dreckig und | |
ungepflegt. Mal war sie in sich gekehrt, führte Selbstgespräche, dann | |
wieder schrie sie und pöbelte jeden an, der des Weges kam. Wenn sie Geld | |
oder Zigaretten wollte, konnte sie auch ungemein zuvorkommend sein. | |
Unberechenbar war die 36-Jährige, die [2][in der Kurfürstenstraße] auch der | |
Prostitution nachging. Vielleicht war die Unberechenbarkeit der Grund, dass | |
sie als obdachlose Frau so lange auf der Straße überlebt hatte. Aber sie | |
hat dafür einen hohen Preis gezahlt. | |
Im Frühjahr 2023 war Ramona S. plötzlich verschwunden. Eine schlimme | |
Nachricht machte im Kiez die Runde. Die „Verrückte“, wie sie auch genannt | |
wurde, sei irgendwo in einem Hausflur erstochen worden. Doch das stimmte | |
nicht. Ramona S. lebt, war aber – zunächst vorläufig – im Krankenhaus des | |
Maßregelvollzugs (KMV) untergebracht worden. Und sie muss vor Gericht: Fünf | |
Taten sind diesmal angeklagt: versuchte und vollendete Körperverletzungen, | |
begangen zwischen 2021 und 2022 in Schöneberg. | |
## Kaum wiederzuerkennen | |
Es geht um Vorfälle wie diese: Einem Mann, der möglicherweise ein Freier | |
war, soll sie gegen 3 Uhr morgens eine Bierflasche über den Kopf gehauen | |
haben. Eine auf dem U-Bahnhof Kurfürstenstraße wartende Frau soll sie durch | |
den Schlag mit einem Deoroller am Auge verletzt haben. Eine Passantin soll | |
sie mit dem abgebrochenen Oberteil einer Weinflasche bedroht haben. | |
Ramona S. ist kaum wiederzuerkennen, als sie am ersten Verhandlungstag | |
Anfang August in den Gerichtssaal geführt wird. Auch die Zeugen sagen das. | |
Sie hat stark zugenommen. Die schwarzen Haare, früher kurz geschoren oder | |
unter einem Turban verborgen, umlocken jetzt das Gesicht. Sie trägt ein | |
dunkles Sakko und ein weißes T-Shirt, sieht gepflegt aus. Die Zähne sind | |
wie gehabt in ganz schlechtem Zustand. | |
Es ist nicht das erste Mal, dass die Frau vor Gericht steht, das geht aus | |
den Akten und dem Gutachten der Psychiaterin hervor. Seit 2007 ist sie mehr | |
als 250 Mal einschlägig in Erscheinung getreten: Ladendiebstahl, Bedrohung, | |
Körperverletzung, Sachbeschädigung, sogenannte Beischlafdelikte. Meistens | |
wurden die Verfahren zur Bewährung ausgesetzt oder wegen Schuldunfähigkeit | |
eingestellt. | |
Spätestens seit 2019 ist ärztlich bekannt, dass die Ungarin psychisch krank | |
ist: eine schizoaffektive Störung, die durch ihren Drogenkonsum verstärkt | |
wird. Mehrmals war sie seither vorübergehend in einem psychiatrischen | |
Krankenhaus untergebracht. Kaum entlassen, war sie zurück im Kiez, ging | |
wieder anschaffen, konsumierte wieder Chrystal Meth. | |
## Diesmal geht es um mehr | |
Auch früher war ihr schon vorgeworfen worden, unvermittelt Leute | |
angegriffen zu haben, aber diesmal geht es um mehr. Es ist kein normaler | |
Prozess, sondern ein Sicherungsverfahren. So nennt sich das, wenn | |
Straftaten im Zustand einer möglichen Schuldunfähigkeit begangen werden und | |
Beschuldigte dauerhaft nach Paragraf 63 StGB im Krankenhaus des | |
Maßregelvollzugs untergebracht werden sollen. | |
Bis zu 100 Sicherungsverfahren nach Paragraf 63 finden vor den Berliner | |
Strafkammern im Jahr statt. Nicht immer ist die Einweisung in die | |
geschlossene Psychiatrie-Abteilung des KMV die Folge. | |
Eine Unterbringung von verurteilten Menschen in einem Krankenhaus des | |
Maßregelvollzugs ist ein schwerwiegender Eingriff. Die Maßnahme nach | |
Paragraf 63 ist zeitlich unbefristet. Acht Jahre ist in Berlin die | |
Durchschnittsverweildauer. Etliche kommen nie wieder frei. | |
Dazu kommt: Die Zustände im KMV sind katastrophal, das Krankenhaus ist | |
dramatisch überbelegt. Die Berliner Strafkammern wissen das, kommen aber | |
trotzdem nicht umhin, Menschen einzuweisen. | |
## Vier Kinder, die 20, 18, 16 und 3 Jahre alt sind | |
Eine Dolmetscherin soll in ihre Muttersprache übersetzen, aber Ramona S. | |
beantwortet die Fragen lieber auf Deutsch. Ob sie eine feste Wohnanschrift | |
habe, will der Vorsitzende Richter Thilo Bartl wissen. „Nein, leider nicht, | |
ich bin Ungarin.“ Ob sie Kinder habe? „Ja, vier Stück.“ Wie alt die seie… | |
„20, 18, 16 und 3 Jahre.“ | |
Ramona S. bekommt starke Psychopharmaka. „Sehr gut führbar“ sei sie auf der | |
Krankenstation, sagt die psychiatrische Sachverständige im Prozess. „Keine | |
Übergriffe, keine Schreiereien“. Ja, sie bekomme Medikamente, bestätigt | |
Ramona S. Warum, wisse sie aber nicht. Ob sie die weiter nehmen werde, wenn | |
sie entlassen würde? „Nein, der Doktor sagt, dann brauche ich sie nicht | |
mehr.“ | |
Kaum Angaben über ihr Leben habe sie bei der Begutachtung gemacht, sagt die | |
Sachverständige. Bekannt aus den Akten sei nur das: Vor etwa 15 Jahren ist | |
sie nach Deutschland gekommen, ungefähr 20 Jahre alt, und ziemlich gleich | |
in Berlin in der Obdachlosigkeit und der Straßenprostitution gelandet. Bei | |
der Geburt des ersten Kindes war sie wohl 15 Jahre alt, die drei älteren | |
Kinder seien in Ungarn. Dort soll es noch einen Bruder und eine Schwester | |
geben, die Eltern seien gestorben. | |
Zu den Fragen, die sich in diesem Prozess stellen, gehört auch die: Warum | |
wurde diese Frau nie unter gesetzliche Betreuung gestellt, obwohl das | |
angeregt worden war? Die einzige Organisation, die sich kontinuierlich um | |
Ramona S. gekümmert hat, war [3][der Frauentreff Olga in der | |
Kurfürstenstraße]. | |
## Nie gern prostituiert | |
Zum Frauentreff habe Frau S. Vertrauen aufgebaut, sagt die psychiatrische | |
Gutachterin. Von dort stammt die in den Akten enthaltene Information, dass | |
Frau S. anfangs ein sehr liebevoller Mensch gewesen sei, eine attraktive | |
Frau mit schöner Stimme. Dass sich Frau S. nie gern prostituiert habe. Dass | |
sie in den vielen Jahren, die sie auf der Straße lebte, oft vergewaltigt | |
worden sei. Mit dem Messer an der Kehle, zusammengeschlagen und mehrere | |
Tage entführt worden sei. Dass Ramona S. massiv traumatisiert sei. | |
Das Gericht nimmt sich viel Zeit, befragt die Zeugen ausgiebig. Ramona S. | |
schaltet oft ab, wiegt sich auf dem Sitz vor und zurück, blickt ins Leere, | |
lacht manchmal leise und unvermittelt. Sie scheint im Bilde zu sein, worum | |
es in diesem Prozess geht. Sie wolle nach Ungarn, „ich möchte nach Hause“. | |
Mehrmals sagt sie das bei der Verhandlung. | |
Mit den Tatvorwürfen kann sie nichts anfangen. „Ich habe das nicht gemacht“ | |
oder „Ich habe das vergessen“, erwidert sie. Als ihr das Video von dem | |
Schlag mit dem Deoroller gezeigt wird, reagiert sie bestürzt. Sie erkennt | |
sich in dem Film wieder. Der zeigt, wie sie auf einer Bank im U-Bahnhof | |
Kurfürstenstraße ihre Sachen ausbreitete, möglicherweise um dort zu | |
schlafen. | |
Gänzlich unvermittelt sei der Angriff gekommen, sagt die Betroffene, eine | |
28-jährige Reinigungskraft, die seinerzeit auf die U-Bahn gewartet hatte, | |
als Zeugin. Ramona S. versucht eine Erklärung. „Vielleicht hat sie mich | |
gefilmt mit dem Handy und sie hat mich angeguckt.“ Der Vorsitzende Bartl | |
widerspricht entschieden. „Nein, das sähe man auf dem Video.“ | |
## Das Neugeborene kam sofort in Pflegschaft | |
Auch Polizisten sind als Zeugen geladen. „[4][In dem Kiez kennt man Frau | |
S].“, sagt ein 46-jähriger Uniformierter des Abschnitts 48. Dass er für die | |
Angeklagte Empathie empfindet, zeigt sich auch daran, dass er sie beim | |
Betreten des Saals begrüßt. Ramona S. erkennt ihn, freut sich, winkt | |
zurück. „Hallo, hallo“, ruft sie, Tränen schimmern in ihren Augen. Immer | |
wieder habe es Stress gegeben mit Frau S., sagt der Beamte. „Es gab viele | |
schlechte Tage, aber auch gute.“ Die Polizei habe sie in der Regel als | |
Autorität akzeptiert. „Wenn man es bei ihr auf Augenhöhe versucht, klappt | |
es.“ | |
Die Sache mit dem Kind habe ihn sehr betroffen gemacht, sagt der Beamte. | |
Hochschwanger sei Ramona S. noch im Kiez unterwegs gewesen, sagt der | |
Beamte. Vom Hörensagen wisse er, dass sie das Neugeborene nach der Geburt | |
habe abgeben müssen. „Ein schlimmes, tragisches Schicksal ist das“, es | |
klingt ehrlich bekümmert. | |
Das Kind kam Ende 2020 zur Welt. Um ihr eigenes Wohl und das des Kindes | |
nicht noch mehr zu gefährden, war Ramona S. Monate vor der Geburt in eine | |
geschlossene psychiatrische Abteilung eingewiesen worden. Aber auch dort | |
war sie, wie bei vorherigen Kurzzeitunterbringungen, immer wieder | |
entwichen. Stark unter Drogen stehend wurde sie von der Polizei bei | |
Routinekontrollen auf der Kurfürstenstraße angetroffen und zurückgebracht. | |
Das Kind sei direkt nach der Geburt in Pflegschaft gekommen, danach sei | |
Frau S. zusammengebrochen. Auch diese Informationen hat die psychiatrische | |
Gutachterin den Akten entnommen. Und auch, dass es eigentlich den Plan gab, | |
dass Frau S. von Angehörigen danach zurück nach Ungarn geholt wird. Aber | |
das Geld für die Fahrt habe die Familie erst drei Tage später | |
beisammengehabt. Da sei Frau S. schon wieder auf Crystal gewesen und habe | |
die Chance verpasst. | |
## Keine Krankheitseinsicht | |
Am vergangenen Mittwoch erging das Urteil. Die 28. Strafkammer folgte der | |
Empfehlung der psychiatrischen Sachverständigen und wies Ramona S. wegen | |
Schuldunfähigkeit aufgrund einer psychischen Krankheit nach Paragraf 63 in | |
den Maßregelvollzug ein. Die Taten hätten sich zum Teil zwar als „erheblich | |
geringer“ als angeklagt dargestellt, sagt der Vorsitzende Bartl. Aber | |
Ramona S. habe keine Krankheitseinsicht. Unbehandelt werde sie mit hoher | |
Wahrscheinlichkeit weitere Delikte dieser Art begehen. | |
Zuvor hatte sich der Pflichtverteidiger für eine Entlassung nach Ungarn | |
eingesetzt. Eine adäquate Behandlung werde ihr im KMV angesichts der dort | |
herrschenden Zustände ohnehin nicht zuteil. Sie werde dort nur verwahrt. | |
Und er rechnete vor: „Angenommen, meine Mandantin bleibt bei einem | |
Tagessatz von 280 Euro sieben Jahre unter Verschluss, dann macht das für | |
den Staat 715.966 Euro.“ Eine Fahrkarte nach Ungarn würde allenfalls 300 | |
Euro kosten. | |
Die Zustände im KMV „sind alles andere als optimal“, gibt Bartl dem Anwalt | |
recht. Zu einem früheren Zeitpunkt hätte es möglicherweise Alternativen | |
gegeben, räumt der Richter ein. „Man hätte einen Betreuer installieren oder | |
ein Ticket nach Ungarn ermöglichen können.“ Die Behörden hätten aber | |
„lieber weggeschaut“. Auch aus anderen Verfahren dieser Art kenne er das. | |
Der „häufig gefeierte Sozialstaat“ versage nahezu komplett, wenn es um die | |
Versorgung dieser „Hochproblemgruppe geht, für die Frau S. steht“. | |
Die Kammer habe keine andere Wahl gehabt, betont der Richter. Jeder kenne | |
die Situation, wenn psychisch kranke Menschen in der Öffentlichkeit | |
herumpöbelten. „Sie wollen nicht angestarrt und beäugt werden trotz ihres | |
auffälligen Benehmens.“ Ein falscher Blick, eine falsche Bewegung könne | |
fatale Folgen haben. Die Öffentlichkeit habe einen Anspruch, geschützt zu | |
werden. | |
Ramona S. ist von ihrem Sitz aufgesprungen, versteht zunächst nicht, ruft | |
aufgeregt: Ob sie im Krankenhaus bleiben müsse? Wie lange? Richter Bartl: | |
„Das hängt von Ihnen ab. Sie müssen mitarbeiten, dass es Ihnen besser | |
geht.“ | |
21 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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