# taz.de -- Lokales Erinnern ans KZ: Das Tabu gleich nebenan | |
> Eine Kulturwissenschaftlerin, selbst in Neuengamme aufgewachsen, hat | |
> Dorfbewohner nach ihrer Erinnerung ans nahe Konzentrationslager gefragt. | |
Bild: Unübersehbar: KZ-Häftlinge an der Dove Elbe in Neuengamme. | |
Die Kinder nannten sie „Zebras“: die Häftlinge aus dem KZ Neuengamme, das | |
von 1938 bis 1945 Ziegelsteine produzieren sollte für die „Führerstadt“ | |
Hamburg. „Zebra“, das bezog sich auf die schwarz-weiß gestreifte Kleidung | |
der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, und die Neuengammer Kinder meinten | |
es damals nicht böse. | |
Trotzdem war die nationalsozialistische Propaganda aufgegangen: Der | |
Tiername machte die Gefangenen aus 18 Ländern zu entindividualisierten | |
Wesen, mit denen man kein Mitleid haben musste; die man übersehen konnte. | |
Dabei waren die mehr als 100.000 Menschen, von denen jeder Zweite starb, in | |
Neuengamme deutlich sichbar: Sie marschierten durch das Dorf zum Lager, sie | |
verlegten Schienen und bauten vor aller Augen, unter scharfer Bewachung | |
durch SS-Männer, die Dove Elbe aus. | |
All das haben die Neuengammer gesehen, mit erlebt, schlimm gefunden. Aaber | |
abends, wenn die Häftlinge wieder eingesperrt waren, spielten die | |
Dorfkinder an denselben Orten und genossen es. „Eine ambivalente | |
Erinnerung“, sagt Gesa Anne Trojan. Die 28-Jährige ist in Neuengamme | |
aufgewachsen und hat für ihre Magisterarbeit im Fach Angewandte | |
Kulturwissenschaften Dorfbewohner über ihre Erinnerungen an das KZ befragt | |
– um zu ergründen, wie lokale Erinnerung funktioniert. | |
„Das Lager im Dorf lassen“ war 2014 das daraus gewordene Buch betitelt, | |
über das Trojan nun sprechen wird (Dölling & Galitz Verlag, zurzeit | |
vergriffen). Sein Titel ist so ambivalent wie der Umgang der Neuengammer | |
mit dem nahen KZ: Potenzielle Täter sind längst verstorben, Trojan konnte | |
nur die fragen, die damals Kinder waren, sowie deren Nachkommen. Aber auch | |
hier herrschte weitgehend Schweigen, eine verbale Weitergabe von Erinnerung | |
gab es nicht. | |
„Auch in meiner Familie wurde nicht über das KZ gesprochen“, erzählt die | |
Kulturwissenschaftlerin. „Es wurde auch nicht bewusst verschwiegen. Es war | |
einfach nicht da.“ In der Schule habe sie ebenfalls nichts darüber gelernt, | |
erst im Konfirmandenunterricht sei das Lager Thema geworden, weil sich die | |
Kirche schon immer dafür interssiert habe. Selbst Trojans Recherche | |
gründete sich auf allgemein welthistorisches Interesse. „Das mich das ganz | |
persönlich betrifft, wurde mir erst später klar.“ Und dass die Dorfbewohner | |
überhaupt sprachen, lag daran, dass sie Trojan kannten. Aber: „Sie sprachen | |
merkwürdig floskelhaft über ihre Erlebnisse“, erzählt sie, „als fürchte… | |
sie, etwas politisch Inkorrektes zu sagen.“ | |
Ihren eigenen Kindern hatten die alten Neuengammer übrigens fast nichts von | |
dem erzählt, was Trojan nun zu hören bekam: dass sie, als Kinder, die | |
SS-Männer so spannend gefunden hätten. Dass die Häftlinge halb verhungert | |
herumgelaufen und geschlagen worden seien. Und dass die Neuengammer | |
sonntags das KZ besichtigt hätten – natürlich nur von außen. | |
Weitergegeben wurde Erinnerung trotzdem - nonverbal: Die Neuengammer mieden | |
das Lagergelände noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg; der „Weg am KZ | |
längs“ war tabu. Auch Trojan selbst ist mit diesem Unbehagen aufgewachsen. | |
Teil der lokalen Identität ist das Lager bis heute nicht. Das Interesse der | |
Neuengammer blieb verhalten, auch die Initiative zur 2005 eröffneten | |
Gedenkstätte kam nicht aus Neuengamme oder vom Hamburger Senat, sondern von | |
einstigen Häftlingen. Und die Umbenennung der einstigen „Lagerstraße“ in | |
den schwerer aussprechlichen, einen Lagerüberlebenden ehrenden | |
„Jean-Dolidier-Weg“ hat den Ort nicht vertrauter gemacht. Die Gedenkstätte | |
wirkt, wie es ein Neuengammer formulierte, wie ein Ufo, und die Anwohner | |
haben bis heute wenig damit zu tun. | |
Es hat sich also nichts geändert. Das Lager ist immer noch nicht im Dorf. | |
Und die Neuengammer haben nicht mehr Bezug dazu als jemand von außerhalb. | |
„Auch ich nicht“, sagt Gesa Anne Trojan. | |
## ■ Vortrag von Gesa Anne Trojan: Di, 28. April, 19.30 Uhr, Galerie | |
Morgenland, Sillemstraße 79 | |
26 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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Erika Steinbach | |
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