# taz.de -- Krieg in Äthiopien: Heimliche Kriegspartei Eritrea | |
> Eritrea soll direkt in die Kämpfe um die Kontrolle der äthiopischen | |
> Region Tigray verwickelt sein. Das berichten immer mehr Quellen. | |
Bild: Der Grenzübergang Humera zwischen Tigray und Eritrea | |
BERLIN taz |Welche Rolle spielt das Nachbarland Eritrea im Krieg der | |
äthiopischen Regierung gegen die „Tigray-Volksbefreiungsfront“ (TPLF) in | |
der Region Tigray an der eritreischen Grenze? Schon zu Beginn des Kriegs | |
Anfang November hatte die TPLF dem Nachbarland vorgeworfen, der | |
äthiopischen Armee militärisch unter die Arme zu greifen. Als Reaktion | |
beschoss sie den Flughafen der eritreischen Hauptstadt Asmara. Nun erheben | |
auch eritreische Exilanten schwere Vorwürfe gegen Eritrea. | |
Natsanet Kidane lebt seit 2014 in Deutschland, wo sie politisches Asyl | |
bewilligt bekommen hat. Rezene Kalaeb, ein ehemaliger hochrangiger | |
Militärarzt, kam 2015 nach Deutschland. Beide sind [1][als Blogger tätig]. | |
Gegenüber der taz sagt Kalaeb: „Wir haben von mehreren ehemaligen Kollegen | |
in Eritrea erfahren, dass das eritreische Regime unsere Brüder und | |
Schwestern als Kanonenfutter an die Front schickt. Ohne vorab informiert zu | |
werden, wohin es geht, wurden sie der äthiopischen Armee unterstellt und an | |
die Front gefahren. Die Befehle erfolgen durch äthiopische Offiziere in | |
amharischer Sprache.“ Die Eritreer müssten vor den äthiopischen Soldaten | |
marschieren. „Sie sind eingequetscht zwischen der äthiopischen Armee und | |
den Tigrayern in einem Krieg, der uns eigentlich nichts angeht.“ Es habe | |
viele Tote unter ihnen gegeben. | |
In Eritrea herrscht für Männer faktisch lebenslanger Zwangsdienst, Frauen | |
sind bis zur Geburt eines Kindes zwangsverpflichtet. Die Verpflichteten | |
werden militärisch ausgebildet und im Militär oder zur Zwangsarbeit | |
eingesetzt – und jetzt, so der Vorwurf, auch im Krieg. | |
Kidane berichtet vom Bruder eines in Deutschland lebenden Eritreers, der | |
drei Monate lang vom Militär beurlaubt gewesen sei, um der Familie bei der | |
Ernte zu helfen. „Nach Aussagen seines Bruders in Deutschland wollte er | |
seinen Urlaubsschein verlängern, aber er wurde eingekarrt und ohne | |
Vorwarnung an die Front geschickt.“ | |
Auch eine Bekannte von Kidane, die noch in der Ausbildung gewesen sei, sei | |
ohne Vorwarnung an die Front geschickt worden. „Sie wurde im militärischen | |
Einsatz verletzt und hat ihren Vater angerufen. Der wollte sie besuchen, | |
aber sie lehnte das ab, weil sie als Kriegsverletzte jetzt im Untergrund | |
leben würde. Der Vater konnte seine Tochter danach nicht mehr telefonisch | |
erreichen. Ihr Verwandter in Europa, der das ebenfalls versuchte, hatte | |
auch keinen Erfolg.“ | |
Dass die Frau in den Untergrund ging, hatte offenbar einen Grund: Laut | |
Information der beiden Blogger gibt es einen militärischen Befehl, alle | |
eritreischen Kriegsverletzten zu erschießen. Kalaeb hat das von einem | |
ehemaligen Kollegen erfahren: Der habe Verletzte eingesammelt und seine | |
Vorgesetzten gefragt, in welches Krankenhaus er sie bringen könne. Aber der | |
Vorgesetzte habe gefordert, die Verletzten zu erschießen. „Mein Bekannter | |
verweigerte den Befehl und desertierte. Er ist jetzt in großer Gefahr.“ | |
Die Blogger wollen gehört haben, dass in den Krankenhäusern von Senafe, | |
Dekemhare und Keren ausschließlich Amharisch sprechende Kriegsverletzte aus | |
Äthiopien versorgt werden und kein einziger Eritreer. Im Krankenhaus von | |
Dekemhare soll ein eritreischer Militärangehöriger, der sich bei der | |
Ausbildung am Fuß verletzte, nicht behandelt worden sein – auf seine | |
Beschwerde erhielt er die Auskunft, dass derzeit ausschließlich äthiopische | |
Kriegsversehrte behandelt würden. Kalaeb: „Der Mann soll ausgerastet sein | |
und hat zuerst vier äthiopische Offiziere und danach sich selbst | |
erschossen.“ | |
Rezene Kalaeb sagt, seit sein erstes Video Ende November online ging, | |
riskiere man in Eritrea bereits sein Leben, wenn man nach Deutschland | |
telefoniere. „Wir bekommen unsere Informationen jetzt nur über Umwege.“ | |
## „Aggressive Intervention“ | |
Überprüfen lassen sich die Berichte der Exilanten im Einzelnen nicht, aber | |
ihre Schilderungen werden grundsätzlich von anderen Quellen bestätigt. Die | |
eritreische Menschenrechtsorganisation [2][HRCE (Human Rights Concern | |
Eritrea)] spricht von einer „aggressiven Intervention eritreischer | |
Streitkräfte in Tigray“ mit „unnötigen Toten auf beiden Seiten“. | |
Mesfin Hagos, ehemaliger eritreischer Verteidigungsminister im deutschen | |
Exil, hat [3][detailliert aufgeführt], welche eritreischen Divisionen wo in | |
Tigray im Einsatz gewesen sein sollen. Nach seiner Darstellung ist Eritreas | |
Eingreifen zurückzuführen auf den TPLF-Angriff auf das Regionalkommando | |
Nord der äthiopischen Armee bei Tigrays Hauptstadt Mekelle in der Nacht zum | |
4. November – der Grund dafür, dass Äthiopiens Regierung noch in der Nacht | |
den Krieg erklärte. | |
Die damals nach Eritrea geflohenen äthiopischen Einheiten seien mit | |
eritreischer Hilfe zurück in den Krieg geschickt worden, so Hagos: „Als die | |
reorganisierten und verstärkten äthiopischen Truppen an vier Fronten eine | |
Reihe von Offensiven aus Eritrea nach Tigray starteten, leisteten | |
eritreische Hilfstruppen Aufklärung und Logistik, ihre schweren Waffen | |
deckten die vorrückenden äthiopischen Bundestruppen und nahmen schließlich | |
aktiv an den Kampfhandlungen teil. Verlässliche Quellen haben zahlreiche | |
eritreische Tote und Verwundete, darunter hohe Offiziere, bei Kämpfen tief | |
innerhalb Äthiopiens bestätigt.“ Der Exminister beruft sich auf | |
„zuverlässige Quellen innerhalb des eritreischen | |
Verteidigungsministeriums“. | |
Die TPLF beschuldigte Eritrea am 10. November einer „Invasion“ Tigrays. | |
Eritreas Regierung dementierte dies, Äthiopiens Verteidigungsminister Kenea | |
Yadeta sprach von einer „kompletten Lüge“. Die TPLF bleibt bei ihrer | |
Darstellung. „90 Prozent der in Tigray operierenden Streitkräfte sind aus | |
Eritrea“, sagte vergangene Woche TPLF-Führungsmitglied Getachew Reda [4][in | |
einem Interview]. | |
Die TPLF behauptet auch, eritreische Kriegsgefangene zu halten, und ein | |
eritreischer Oppositionssender aus London hat entsprechende Videos und | |
Fotos von Interviews übernommen. Kalaeb will darauf einen Mann erkannt | |
haben, mit dem zusammen er in der Militärschule Sawa ausgebildet wurde. | |
Seine Kollegin Kidane will von einem Mann aus Deutschland, den sie sehr gut | |
kennt, gehört haben, dass sein Neffe auf einem der Fotos war. | |
## Auch Flüchtlinge verwickelt | |
Die beiden Blogger sorgen sich auch um die Eritreer, die vor ihrer | |
Regierung nach Äthiopien geflohen sind und in Tigray in Flüchtlingslagern | |
leben – 96.000 nach UN-Angaben. Laut der in Berlin lebenden Dolmetscherin | |
Freweyni Habtemariam seien bereits Tausende entführt worden. „Unter dem | |
Vorwand, das Rote Kreuz würde sie umsiedeln, wurden sie zum Verlassen der | |
Flüchtlingslager motiviert. Wir wissen nicht, von wem. Einige sind jetzt in | |
Eritrea inhaftiert, von anderen gibt es kein Lebenszeichen.“ Journalisten | |
berichten, dass zahlreiche eritreische Flüchtlinge jetzt aus Tigray in | |
andere Landesteile Äthiopiens unterwegs seien. | |
Ein Bericht eines äthiopischen Flüchtlingshelfers, der die taz erreichte, | |
spricht auch davon, dass eritreische Flüchtlinge in Tigray von Eritreas | |
Armee bewaffnet worden seien, um gegen die einheimische Tigray-Bevölkerung | |
vorzugehen. Eritreas Militär habe das Flüchtlingslager Hitsats am 19. | |
November besetzt und Gewehre verteilt, so die auf den 28. November datierte | |
Schilderung. Sie seien dann brandschatzend durch die Gegend gezogen. „Sie | |
schlachten die Rinder, Schafe und Ziegen, sie verbrennen die reife Ernte, | |
von der die Einheimischen ein Jahr lang leben wollten.“ Vier Tage später | |
seien Tigray-Milizen angerückt und hätten die Eritreer in heftige Kämpfe | |
mit vielen Toten verwickelt. | |
Viele Bobachter schreiben den beiden Machthabern – Abiy Ahmed in Äthiopien, | |
Isaias Afeworki in Eritrea – ein gemeinsames Interesse zu, die TPLF zu | |
zerschlagen. Abiy Ahmed wolle die alte Tigray-Militärelite unschädlich | |
machen, die Äthiopiens Regierung bis zu seinem Amtsantritt 2018 dominierte; | |
Isaias Afeworki revanchiere sich für den blutigen Grenzkrieg von 1998 bis | |
2000, der auf äthiopischer Seite von einer TPLF-dominierten Regierung | |
geführt wurde und mit einer Niederlage Eritreas endete. | |
Die TPLF, selbst eine alte Guerillabewegung, geht derweil in Tigray in den | |
Untergrund und kämpft weiter. Zwar hat Äthiopiens Regierung am Montag den | |
siegreichen Abschluss der Militäroperation in Tigray verkündet – der Krieg | |
ist aber nicht vorbei. | |
9 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=-6esak7npBs&feature=youtu.be | |
[2] https://hrc-eritrea.org/ | |
[3] https://eritreahub.org/mesfin-hagos-eritreas-role-in-ethiopias-conflict-and… | |
[4] https://edition.cnn.com/2020/12/04/africa/ethiopia-war-tplf-exclusive-intl/… | |
## AUTOREN | |
Marina Mai | |
Dominic Johnson | |
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