# taz.de -- Konzert von Acid Mothers Temple: Auf der anderen Seite des Himmels | |
> Die japanische Triprockband Acid Mothers Temple spielt ein | |
> bewusstseinserweiterndes Konzert im Berliner Club „SO 36“. | |
Bild: Acid Mothers Temple: Keyboarder Higashi Hiroshi ganz links, Gitarrist Kaw… | |
Am Eingang des SO 36 warten junge, italienisch sprechende Frauen, | |
E-Zigarette rauchend, Weißbier aus der Flasche (Brauerei Hopf, Miesbach) | |
trinkend. Es ist halb neun, die Pforten sind noch verschlossen, was perfekt | |
zur Band des Abends passt: Die bewusstseinserweiternde Band Acid Mothers | |
Temple aus dem japanischen Osaka arbeitet getreu dem Motto „Do whatever you | |
want, don’t do whatever you don’t want.“ | |
Die Vorfreude am Eingang weist geradewegs auf Ernst Bloch und das in seinem | |
Hauptwerk „Prinzip Hoffnung“ ersonnene „antizipierende Bewusstsein“. Man | |
wartet hoffnungsvoll und träumt dabei einem besseren Leben entgegen. Diese | |
„Ontologie des Noch-Nicht“ charakterisierte Bloch als utopischen Tagtraum. | |
Tagträume, so Bloch, teilen die imaginative Konstruktion von | |
Wunscherfüllung mit dem Nachttraum, anders als in der Nacht geschieht dies | |
bei vollem Bewusstsein. | |
Schon die Crowd im SO 36 am Dienstag ist super interessant. Wenig Hipster, | |
null Hauptstadt-Journaille, massig Fremdsprachler, viele Frauen, einige | |
Härtefälle: ein Deadhead, von Kopf bis Fuß in Batik mit geschientem Arm. | |
Zwei Fahrradbotinnen, die sich mitten im Pulk seelenruhig auf dem Boden | |
niederlassen und auch während des Konzerts sitzen bleiben. Ein Skateboarder | |
in Lammfelljacke, der sein Rollbrett eisern hält wie ein Handorakel. Alte | |
Zausel und junge Asiaten, drei von ihnen jonglieren an der Bar mit | |
Akrobatik-Ringen: Wir leben in einem freien Land. | |
Und träumen dem Beginn des Acid-Mothers-Temple-Konzerts entgegen. Zeit ist | |
für die japanische Band ein relativer Begriff. Man merkt das schon, wie | |
Keyboarder Higashi Hiroshi und Gitarrist Tabata Mitsuru am Merch-Stand | |
sitzen, dabei weise und freundlich lächeln, zwischendurch wegdämmern und | |
dann wieder Zen-artige Gelassenheit ausstrahlen und Autogramme schreiben. | |
Gegen viertel vor elf haben sich die fünf Musiker urplötzlich auf die Bühne | |
gebeamt. Scheinbar selbstlos, ohne Headlinerallüren geht es im Schein der | |
rotierenden Lichtkegel in medias res. Die Verstärker hochgefahren, | |
schrauben die Künstler urplötzlich an einer ihrer heavy Gitarrenhooklines, | |
endlos durch die Gestade flirrende Akkorde, die sich trotz | |
Effektgeräte-Wahnsinn ganz leicht ausnehmen. | |
Sechs Songs werden Acid Mothers Temple spielen, anderthalb Stunden, die | |
sich anfühlen wie Lichtjahre. Far out, wie der Kalifornier zu sagen pflegt. | |
Im Zentrum stehen repetitive Riffs, barock-gedrechselte Bassfiguren und | |
rudernd umherwirbelnde Drums. Kaum Gesang, dafür Phaser-Effekte und | |
Pitchshifting am Synthesizer, so entsteht ein panoramatischer Sound, der | |
das Raum-Zeit-Kontinuum außer Kraft setzt. „Have you seen the other side of | |
the Sky“, fragt das neue Album von Acid Mothers Temple im Titel. Die Band | |
kennt auch die Antwort: Sie haben rübergemacht, von dort bringen sie | |
Irrlichterndes mit, wie Gedankensplitter aus einem Zukunftsroman aus den | |
Sechzigern. | |
## An Frequenzen drehen | |
Hierarchie gibt es auf der Bühne keine. Abwechselnd treten die Musiker nach | |
vorne. Ganz rechts, Kawabata Makoto, der Gitarrist und Mastermind der Band, | |
dessen Gesicht meist hinter einer Wand aus Locken verborgen bleibt. Ab und | |
an reckt er seine Gitarre in die Höhe. | |
Die Musik komme ihm im Traum, hat er mal erklärt, sie entstehe in seinem | |
eigenen Kosmos. Er sei kein Komponist, er drehe nur an den Frequenzen | |
seines Radios. Gerne wäre man Zeuge einer dieser Gestaltfindungsprozesse, | |
bei dem Makoto die Band auf seine epische Freak-Out-Form einnordet und aus | |
drei Akkorden einen Zyklus entstehen lässt. Authentisch ist hier gar | |
nichts. Schon der Bandname Acid Mothers Temple ist ein Verweis aus | |
Grateful- Dead-Acidrock, Mothers-of-Invention-Progrock und dem barocken | |
Krautrock von Ashra Temple. | |
Durch die vielen Phasen der Aneignung – eine japanische Band, die sich im | |
21. Jahrhundert von Siebziger-Jahre-Krautrock beeinflusst sieht, der | |
wiederum von Sechziger-Jahre- US-Psychedelia inspiriert war – klingen Acid | |
Mothers Temple einzigartig. Man merkt das besonders beim bejubelten, circa | |
20-minütigen Finale „Pink Lady Lemonade“. Das Quintett dreht den Spieß | |
einfach um: So wie die Kunst des Westens einst Vorstellungen von Fernost | |
auf seine Werke projizierte, imaginiert sich das Quintett am Dienstagabend | |
eine krautig-psychedelische Tripmusik zurecht, die es so nie gegebenhat. | |
Umso besser, so können wir am nächsten Tag weiterträumen. | |
8 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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