| # taz.de -- Kommentar Erdogan: Die Paranoia des Ministerpräsidenten | |
| > Die Polizei hat das Istanbuler Stadtzentrum zur Hochsicherheitszone | |
| > erklärt. Möglichst viele europäische PolitikerInnen sollten jetzt in die | |
| > Türkei reisen. | |
| Bild: Erdogan fühlt sich von den friedlichen Demonstranten bedroht | |
| Istanbul, die derzeit angesagteste Stadt Europas, ist zu einem Schlachtfeld | |
| geworden. Die Polizei hat das Stadtzentrum zur Hochsicherheitszone erklärt, | |
| eine No-go-Area für die Bewohner der Stadt und ihre Besucher. | |
| Die Brücke über den Bosporus ist von Polizei- und Gendarmerieeinheiten des | |
| Militärs besetzt, auf dem äußeren Autobahnring rollt Verstärkung aus dem | |
| Osten des Landes an. Eine Situation, die noch vor wenigen Tagen kaum | |
| vorstellbar war. Der Grund dafür ist der Machtanspruch von | |
| Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner engsten Umgebung. | |
| Denn der bislang brutalste Polizeieinsatz nach drei Wochen | |
| Gezi-Park-Besetzung wäre selbst aus Sicht einer „normalen“ Regierung gar | |
| nicht nötig gewesen. Bevor die Polizei am Samstagabend anrückte, war die | |
| Stimmung im Park entspannt, man wollte noch ein wenig feiern und sich dann | |
| auf einen Abmarsch vorbereiten. | |
| Zwar hatten die Sprecher der Protestbewegung nach stundenlangen Debatten im | |
| Anschluss an das Gespräch einiger ihrer Vertreter mit Erdogan die | |
| geforderte „sofortige“ Räumung des Parks abgelehnt, doch es war klar, dass | |
| es bei Ausbleiben von Provokationen in wenigen Tagen auf eine symbolische | |
| Restbesetzung des Parks hinauslaufen würde. | |
| ## Nicht „normal“ | |
| Doch die Regierung Erdogan verhält sich zurzeit nicht mehr wie eine | |
| „normale“ Regierung. Erdogan schart seine Anhänger um sich, zuerst am | |
| Samstag in Ankara und dann am Sonntag in Istanbul, um „seine Türkei“ gegen | |
| die „andere Türkei“ ins Feld zu führen. Die Räumung des Gezi-Parks in der | |
| Samstagnacht war eine Demonstration der Stärke für sein Lager. | |
| Bevor die Kundgebung seiner Partei am Sonntagabend stattfand, wollte sich | |
| Erdogan die Rolle des Triumphators sichern. Der Ministerpräsident hat | |
| aufgehört, ein Regierungschef für die gesamte Bevölkerung sein zu wollen. | |
| Seit die Proteste begannen und eine Dimension annahmen, mit der niemand | |
| gerechnet hatte, glauben Erdogan und seine Leute, „dunkle Mächte“ würden | |
| bei den Demonstrationen Regie führen. | |
| So absurd es klingt: Der Mann, der mit der größten Machtfülle ausgestattet | |
| ist, die ein türkischer Premier je seit dem Zweiten Weltkrieg innehat, | |
| fühlt sich von friedlichen Demonstranten bedroht, die nichts anderes | |
| wollen, als respektiert und gehört zu werden. | |
| Es wird höchste Zeit, zu versuchen, Erdogan aus seiner Paranoia | |
| herauszuholen. Man kann nur hoffen, dass besonnenere Kräfte innerhalb | |
| seiner Partei und Regierung, aber auch von außerhalb, dies versuchen. Das | |
| Schlechteste wäre, jetzt die Brücken zur Türkei oder auch zur türkischen | |
| Regierung abzubrechen. Es ist richtig, wenn das Europaparlament die | |
| türkische Regierung für die brutale Polizeigewalt gegen friedliche | |
| Demonstranten kritisiert. Aber genauso richtig ist es, jetzt das Gespräch | |
| mit den Verantwortlichen in Ankara zu suchen. | |
| ## Nicht isolieren | |
| Europa, die USA, der Westen insgesamt sollten nicht darauf setzen, Erdogan | |
| zu isolieren. Wenn die Demonstrationen der vergangenen Wochen eines zeigen, | |
| dann doch, dass es eine breite demokratische Bewegung gibt, der man keinen | |
| größeren Dienst erweisen kann, als endlich die Blockaden bei den | |
| Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzuheben und alles dafür zu tun, der | |
| weiteren Entwicklung in der Türkei einen europäischen Rahmen zu geben. Wenn | |
| nicht jetzt, wann dann? | |
| Möglichst viele europäische PolitikerInnen und [1][Vertreter der | |
| Zivilgesellschaft] sollten jetzt in die Türkei reisen, um die | |
| Protestierenden zu unterstützen, aber auch um mit Erdogan und seiner | |
| Regierung zu reden. Europa muss der Türkei das Gefühl geben, dazuzugehören. | |
| Nur so kann auch Erdogan in einen europäischen Wertekanon eingebunden | |
| werden. | |
| 16 Jun 2013 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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