# taz.de -- Johnson und May: Wie Tag und Nacht | |
> Was Boris Johnson von seiner glücklosen Vorgängerin Theresa May | |
> unterscheidet. Und was sie gemeinsam haben. | |
Bild: Bisher ist Johnson vor allem für seine Auftritte bekannt. Doch nun kommt… | |
BERLIN taz | Es ist heute kaum vorstellbar, aber vor drei Jahren war | |
Theresa May populärer als Boris Johnson. Eine Woche nach dem | |
Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016, das die „Vote Leave“-Kampagne dank | |
Johnson gewonnen hatte, war die damalige Innenministerin May der | |
[1][Überraschungsfavorit der konservativen Parteibasis für die Nachfolge | |
des zurückgetretenen Premiers David Cameron]. | |
In der ersten Umfrage lag May um 17 Prozentpunkte vor Johnson, der | |
eigentlich, da Referendumssieger, als gesetzt galt. Der Rest ist | |
Geschichte: Johnson zog überraschend zurück, May wurde im Juli 2016 ohne | |
Wahl inthronisiert – und jetzt, drei Jahre später, geht sie zerschlagen vom | |
Feld, und [2][Johnson triumphiert]. | |
Mit dem Wechsel in 10 Downing Street am 24. Juli 2019 greift die | |
Brexit-Fraktion, die sich 2016 nach ihrem Sieg beim Volk selbst um den Sieg | |
im Staat gebracht hatte, verspätet nach der Macht. Sie will brachial | |
nachholen, was sie damals versäumte. 2016 hatte Boris Johnsons Rückzieher | |
in letzter Minute hämische Kritik in Europa geerntet: Der Ober-Brexiteer | |
weigere sich, Verantwortung zu übernehmen und die „Suppe auszulöffeln“, | |
hieß es damals. | |
2019 kritisieren die gleichen Europäer Boris Johnson nun empört dafür, dass | |
er Verantwortung übernimmt und den Brexit durchziehen will, koste es, was | |
es wolle. Es scheint, als merke man erst jetzt, dass Großbritannien | |
tatsächlich dabei ist, die EU zu verlassen. Als wären die drei Jahre | |
Theresa May mit ihren ständigen Brexit-Verhandlungen und parlamentarischen | |
Psychodramen nur Show gewesen, ein Eiertanz um die Quadratur des Kreises. | |
## Wie Tag und Nacht | |
Johnson statt May ist aber mehr als ein Politikwechsel. Es ist ein | |
Stilbruch. Boris Johnson setzte sich bei den konservativen Abgeordneten und | |
Parteimitgliedern vor allem durch, weil er das Gegenteil von Theresa May | |
verkörpert. Sie war verschlossen, undurchsichtig, kleinkariert, brav, treu. | |
Er ist expansiv, unbekümmert, abenteuerlich, spontan, unzuverlässig. | |
Sie war kulturell ein Produkt des englischen Dreiecks aus Bourgeoisie, | |
Kirche und Sicherheitsestablishment, Tory bis ins Mark, getrimmt auf | |
Anstand und Pflichtgefühl, zu Hause in einem Land, wo jeder seinen Platz | |
hat und da auch bleiben soll. Er ist ein Geschöpf der aristokratischen | |
Elite, irrlichternd global, unbekümmert auf den eigenen Vorteil bedacht, zu | |
Hause in einer Welt, die man selbst nach Gutdünken gestaltet und in der | |
Regeln nur für die anderen da sind. | |
Der erste Eindruck ist denn auch wie Tag und Nacht. Theresa May im | |
Parlament ist eisiger Nieselregen, Boris Johnson ist tropischer Blitz und | |
Donner. Johnson steht über den Dingen, May gibt sich wie von ihnen | |
zermalmt. | |
May kam an die Macht unter dem Beifall der Öffentlichkeit, als Gesicht des | |
Bewährten und als ruhige Hand in unsicheren Zeiten; Johnson übernimmt sein | |
Amt in einem Hagel der Skepsis, mit dem Image eines gedopten Rennfahrers, | |
der in Reaktion auf einen geplatzten Reifen aufs Gaspedal drückt, um | |
schneller anzukommen. | |
## Große Gemeinsamkeiten | |
Dennoch haben May und Johnson viel gemeinsam. Sie können beide | |
kompromisslos und brutal agieren – niemand, der das nicht kann, schafft es | |
ins Amt des Premierministers. Ihre Pläne sind selbst für ihr jeweiliges | |
politisches Umfeld ein Rätsel. Und: Geringschätzung und Hochachtung liegen | |
in den Urteilen über sie so eng beieinander, dass sie zuweilen | |
verschmelzen. | |
Über Theresa May schrieb zwei Monate nach ihrem Amtsantritt der kluge | |
Financial-Times-Kommentator Janan Ganesh: „Wenn ihre Ideen den Wählern | |
signalisieren, dass Frau May sich gegen liberale Konventionen stellt und | |
Sehnsucht nach dem Leben in einer nicht näher definierten Vergangenheit | |
hat, dann helfen sie ihr, denn das ist ihre politische Identität, und das | |
ist die nationale Stimmung. Ihre Politik ist seicht und kann noch seichter | |
werden – der daran geknüpfte Sinn ist das Wesentliche. Alles, was sie in | |
ihren ersten Monaten getan hat, transportiert Stärke und Eneuerung, ohne | |
tatsächlich viel zu verändern. Es gibt tiefgründigere Geister und bessere | |
Redner, bei jedem Thema könnte sie inhaltlich ein Desaster erleiden – aber | |
in einer vermutlich nicht erlernbaren Weise versteht Frau May Politik. Sie | |
weiß, dass politischen Handlungen eine symbolische Kraft innewohnt, | |
jenseits der technischen Vorzüge.“ | |
Anders gesagt: Der Auftritt zählt bei May mehr als das Ergebnis – eine | |
Beschreibung, die derzeit eher auf Boris Johnson angewandt wird. Über | |
diesen schrieb jetzt im Daily Mail Peter Oborne, einer der spitzzüngigsten | |
Beobachter der Londoner Politik und ehemaliger Journalistenkollege Johnsons | |
in dessen Zeit als Chefredakteur des Wochenmagazins Spectator: | |
„Seit Jahrzehnten wusste ich, dass Boris Johnson Premierminister werden | |
würde. Viele haben ihn als Clown und Scharlatan belächelt. Das war meistens | |
Neid. Seine politischen Rivalen neideten ihm seine Intelligenz, seine | |
Anziehungskraft auf die Massen, sogar seine Erfolge bei Frauen. Hinter den | |
großen Tönen steckte immer Brillanz. Boris konzentrierte sich auf die | |
großen Linien, er war offen, liberal und international. Viele | |
Premierminister – Theresa May und Gordon Brown sind dafür bekannt – hassen | |
es, Verantwortung zu delegieren. Sie bestehen darauf, ihr Büro zu | |
mikromanagen. Boris’ fröhliche Fähigkeit, andere die Arbeit machen zu | |
lassen und sie auch die Lorbeeren dafür einheimsen zu lassen, ist enorm | |
attraktiv. Es ist auch eine viel bessere Art, das Land zu regieren.“ | |
## Was am Ende rauskommt | |
Dennoch warnt er: „Boris Johnson ist ein Mann, der es liebt, geliebt zu | |
werden. Wenn er in Downing Street ist: Wird er stark genug sein, sich | |
reichen Parteispendern und mächtigen internationalen Unterstützern | |
entgegenzustellen? Er wird eine Reihe von Entscheidungen von überragender | |
Bedeutung treffen müssen. Das bedeutet, sich Feinde zu machen. Und Boris | |
macht sich nicht gern Feinde.“ | |
Anders gesagt: Boris Johnson wird am Ende am Ergebnis gemessen werden, | |
nicht am Auftritt. Das ist ein Risiko, denn bisher steht er für das | |
Gegenteil. [3][Den Auftritt kennt man bereits]. Das Ergebnis kennt keiner, | |
nicht einmal Boris Johnson selbst. | |
Er weiß, er muss Unmögliches schaffen. Entweder ringt er der EU einen neuen | |
Brexit-Deal ab, der im eigenen Parlament mehrheitsfähig ist, oder er | |
steuert erfolgreich einen No-Deal-Brexit durch ein mehrheitlich feindliches | |
Parlament – oder er ist weg vom Fenster, viel schneller als Theresa May. | |
Der Weg dahin führt möglicherweise über Neuwahlen, noch bevor es Klarheit | |
über den Brexit gibt. Dann wird es doch wieder auf den Auftritt ankommen. | |
Wie man Wahlkampf nicht führt, hat Theresa May 2017 vorgemacht, als sie | |
entgegen ihren bisherigen Versprechen Neuwahlen ansetzte, auf die ihre | |
Partei nicht vorbereitet war, aber in den Umfragen schien sie uneinholbar | |
vorne zu liegen. Am Ende büßte sie ihre absolute Mehrheit ein. | |
## Johnson wird abheben | |
Die Gründe waren ein chaotisch improvisierter Wahlkampf, ihr Hang zu | |
Geheimniskrämerei sogar gegenüber dem eigenen Kabinett, ein Wahlprogramm | |
voller unabgesprochener und unpopulärer Ideen und die völlige Unfähigkeit | |
zur Kommunikation mit der Wählerschaft. May verstrickte sich heillos in den | |
eigenen Fehlern und schaffte es, einen drögen Jeremy Corbyn wie einen | |
Visionär aussehen zu lassen. Sie hat sich davon politisch nie erholt. | |
Man darf davon ausgehen: Ein Wahlkampf mit Boris Johnson wird das genaue | |
Gegenteil sein: straff organisiert wie schon sein parteiinterner Wahlkampf, | |
mit dem ständigen Drang an die Öffentlichkeit und ein paar einfachen großen | |
Linien als Programmatik, denen kaum jemand grundsätzlich widersprechen | |
kann. Er hat das bereits in seiner Regierungserklärung formuliert und ein | |
leuchtendes Bild von Großbritannien im Jahr 2050 entworfen: „grün, sauber, | |
geeint, wohlhabend und ambitioniert“. Johnson wird permanent abheben, damit | |
jede Kritik als kleinkariert daherkommt. Ob das klappt? So oder so: | |
Großbritannien steht ein heißer Herbst bevor. | |
26 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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