# taz.de -- Internationaler Strafgerichtshof: Verheerendes Signal | |
> Wer für Putin Strafverfolgung fordert, Benjamin Netanjahu aber ausnimmt, | |
> betreibt keine Rechtspflege – sondern moralischen Aktionismus. | |
Bild: Gangster unter sich: Netanjahu und Orban | |
Ein autoritärer Staatschef lädt einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher ein – | |
und nutzt [1][den Besuch, um den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) | |
zu verlassen]. Was wie ein dystopisches Szenario klingt, hat sich zuletzt | |
in der Europäischen Union abgespielt. Viktor Orbán, Ministerpräsident | |
Ungarns, [2][empfing den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu in | |
Budapest] – und nutzte diesen Moment, um den Austritt Ungarns aus dem IStGH | |
zu verkünden, als erster Staat in der EU. Ein offener Affront gegen die | |
internationale Strafjustiz, eine Kampfansage an das Völkerrecht. | |
Denn gegen Netanjahu liegt ein Haftbefehl des IStGH vor – wegen des | |
Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der | |
Schulterschluss zwischen Orbán und Netanjahu steht für eine neue Allianz | |
der Autoritären: Eine Allianz gegen die internationale | |
Rechenschaftspflicht. Die in der internationalen Strafjustiz verankerte | |
Übertragung von Justizgewalt auf überstaatliche Gerichte – einschließlich | |
der Nicht-Immunität von Amtsträgern – ist ein Kernelement der | |
internationalen Strafrechtsordnung. Fällt dieses Prinzip, fällt auch die | |
Idee globaler Rechenschaft. | |
Dass nun erstmals ein EU-Mitgliedstaat das Weltstrafgericht verlässt, ist | |
ein Bruch, der europäische Grundprinzipien infrage stellt. Es steht mehr | |
auf dem Spiel als nur die Reputation eines Gerichts. Was hier erodiert, ist | |
eine dem Frieden verpflichtete Ordnung. Wer – wie Orbán – mit dieser | |
Friedensordnung bricht, stellt sich außerhalb der Wertegemeinschaft, der er | |
angehört. | |
Orbáns Austritt reiht sich ein in einen umfassenderen Angriff auf die | |
internationale Strafjustiz: Donald Trump hat den IStGH sanktioniert; Jair | |
Bolsonaro ignoriert ihn; Netanjahu droht ihm. Nun wird auch in Europa offen | |
gegen ihn gehetzt. Nicht, weil der Gerichtshof versagt hätte – sondern weil | |
er wirkt. Weil er beginnt, die Mächtigen in die Verantwortung zu nehmen. | |
Und weil er beginnt, auch die zu verfolgen, die sich bisher sicher wähnten. | |
Der Angriff auf den IStGH zielt deshalb nicht nur auf die Ermittlungen | |
gegen Netanjahu. Er zielt auf die Idee der individuellen Verantwortlichkeit | |
an sich. | |
Die Reaktion Europas? Zu zurückhaltend. Zu zweideutig. Dabei wäre es | |
dringend notwendig, dass die EU eine selbstbewusste Gegenposition | |
entwickelt. Denn auch wenn der Austritt Ungarns aus dem IStGH | |
völkerrechtlich möglich ist, dürfte er gegen EU-Recht verstoßen. Die EU hat | |
sich in ihren Gründungsverträgen und in der Grundrechtecharta ausdrücklich | |
zur internationalen Strafgerichtsbarkeit bekannt. | |
Artikel 2 des EU-Vertrags verpflichtet alle Mitgliedstaaten zur Achtung der | |
Menschenwürde, der Rechtsstaatlichkeit und internationalen Verpflichtungen. | |
EU-Richtlinien und Beitrittsberichte der Europäischen Kommission verlangen | |
eine „volle Kooperation mit dem IStGH“. Ein Vertragsverletzungsverfahren | |
gegen Ungarn ist daher nicht nur möglich, sondern überfällig. | |
Noch wichtiger aber ist die politische Botschaft: Europa muss sich | |
entscheiden, ob es mehr sein will als ein Binnenmarkt. Denn wer sich vom | |
Gerichtshof distanziert, distanziert sich auch von der Idee eines Europas, | |
das auf Rechtsstaatlichkeit und Verantwortung beruht. Die EU muss zeigen, | |
dass sie bereit ist, ihre Prinzipien zu verteidigen – auch und gerade, wenn | |
sie unbequem werden. Denn wer selektiv mit dem Völkerrecht umgeht, | |
beschädigt es als Ganzes. | |
Die Folgen wären absehbar. Wenn Europa diesen Rückschritt toleriert, sendet | |
es ein verheerendes Signal: Dass Verantwortung verhandelbar ist. Dass | |
Prinzipien geopfert werden können, wenn es politisch opportun erscheint. | |
Dass es einen Unterschied macht, ob ein Verdächtiger Netanjahu oder Putin | |
heißt. Wer für Putin Strafverfolgung fordert, Netanjahu aber ausnimmt, | |
betreibt keine Rechtspflege – sondern moralischen Aktionismus mit doppeltem | |
Boden. | |
## Merz will Netanjahu einladen | |
Dabei gäbe es gerade jetzt eine historische Chance. Der IStGH zeigt, dass | |
er nicht mit zweierlei Maß misst und keine Doppelstandards anlegt. Er | |
ermittelt – egal, ob der Verdächtige im Sudan, in Russland oder in Israel | |
sitzt. Der ursprünglich afrikanische Fokus des Gerichts weicht endlich | |
einer Ausdehnung seines Aktionsradius. Das ist ein Beweis für Integrität, | |
für Unabhängigkeit, für den universellen Geltungsanspruch des Rechts. | |
Und genau in diesem Moment fällt Deutschland dem Gericht in den Rücken. | |
Statt die internationale Strafjustiz zu verteidigen, kündigt CDU-Chef | |
Friedrich Merz „Wege und Mittel“ an, Netanjahu im Falle eines | |
Deutschlandbesuchs vor einer Verhaftung zu schützen. Das sind Worte, wie | |
man sie von autoritären Regimen kennt, aber nicht von Demokratien. | |
Nur eine Ausnahme, weil die deutsche Staatsräson auf dem Spiel steht? Das | |
wäre zumindest bigott. Denn die deutsche Staatsräson – die Verantwortung | |
für die Sicherheit Israels – steht nicht im Widerspruch zum Völkerrecht. Im | |
Gegenteil: Wer diese Staatsräson ernst nimmt, darf sie nicht als | |
Schutzschild gegen menschenrechtliche Standards missbrauchen. Es geht nicht | |
um Staatsräson oder Völkerrecht, sondern um eine völkerrechtskonforme | |
Anwendung der Staatsräson. Dies ist nur ein Widerspruch für den, der das | |
partikulare „Nie wieder“ dem universellen vorzieht. Die Würde des Menschen | |
ist unteilbar – sie gilt für Israelis wie für Palästinenser. Sie darf nicht | |
geopfert werden, wenn es politisch opportun erscheint. | |
Deutschlands internationale Glaubwürdigkeit bemisst sich nicht nur an | |
Worten. Sie bemisst sich auch daran, wie wir zum Völkerrecht stehen. Als | |
Mittelmacht ist das unsere härteste Währung. Und in Zeiten, in denen die | |
internationale Ordnung nicht nur an ihren Rändern zersetzt wird, braucht es | |
eine selbstbewusste Verteidigungslinie. Eine, die zeigt: Europa steht für | |
Recht, nicht für Macht. Für universelle Geltung, nicht für doppelte | |
Standards. In Zeiten, in denen Autoritarismus auf dem Vormarsch ist, müssen | |
Demokratien Haltung zeigen. | |
17 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Alexander Schwarz | |
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