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# taz.de -- Integration in Deutschland: Die Ankunft erleichtern
> Monatelang haben soziale Träger für den Erhalt von
> Erstorientierungskursen gekämpft. Jetzt wurde die Finanzierung
> aufgestockt – vorerst.
Bild: Lajoie Kwizera und Javad Rahmani (beide 24) üben im Erstorientierungskur…
Bruchköbel taz | Inmitten von Feldern, auf denen Solarpaneele gleißende
Sonnenstrahlen in den Himmel zurückschicken, leuchten die weißen Container
der Gemeinschaftsunterkunft Bruchköbel. 2,5 Kilometer müssen die
geflüchteten Bewohner:innen, zumeist Frauen, von hier laufen, wenn sie ihre
Kinder in die Kita bringen – fünf Kilometer am Tag. Ansonsten gibt es nicht
viel zu tun. Auf der Tagesordnung steht wenig – nur der sogenannte
Erstorientierungskurs. Doch genau der drohte im Juli wegzubrechen. „Ohne
den Kurs gäbe es hier nichts mehr“, sagt Bewohner Lajoie Kwizera.
[1][Seit Dezember hat Benjamin Bieber gekämpft], das zu verhindern. Er ist
Bereichsleiter für Erstorientierungskurse bei den Johannitern in Hessen.
„Seit Monaten haben wir in Echtzeit die Nachrichtenlage gecheckt, jeden Tag
herumtelefoniert“, sagt er.
Erstorientierungskurse bieten Tagesstruktur und, wie der Name schon sagt:
eine erste Orientierung im Dickicht der Ankunft in Deutschland. Sie
vermitteln Sprache und Sitten, aber auch Handwerk für das Alltägliche: Wie
bekomme ich einen Termin bei einer Ärztin? Oder welche Verkehrsregeln
gelten beim Linksabbiegen mit dem Fahrrad? Und: In den
Erstorientierungskursen können die Teilnehmer:innen jederzeit ein- und
aussteigen. Leistungsdruck gibt es hier nicht.
Lange blieb unklar, ob die Erstorientierungskurse das Jahr überstehen.
[2][Mehrere Bundesländer vermeldeten, dass Geld fehlt.] In Thüringen waren
nur noch Restmittel vorhanden, die die dortige verantwortliche Stelle auf
letzte Kurse verteilte. In Hessen drohten die Kurse ab Juli wegzufallen.
## Zwei Wochen vor Schluss gerettet
Am Montag informierte das Bundesfinanzministerium dann den
Haushaltsausschuss über eine Nachbewilligung in Höhe von 14 Millionen
Euro. Das Schreiben liegt der taz vor. Das Finanzministerium bestätige die
Nachbewilligung auf taz Anfrage. Eine weitere Million bekommen die
Erstorientierungskurse über eine Umschichtung. Damit erhörte die
Bundesregierung die lauten Rufe der Träger nach einer Gesamtförderung von
40 Millionen Euro.
Die Nachbewilligung sei ein starkes Signal, dass sich das gemeinsame
Engagement gelohnt hat, sagt Benjamin Bieber von den Johannitern. „Ich
freue mich sehr, dass man auf uns aus dem Maschinenraum der Integration
gehört hat.“ Für dieses Jahr sind die Kurse gerettet, aber es ist unklar,
ob die Mittelerhöhung auch für das Jahr 2024 bestehen bleibt. Denn bereits
2023 erhöhte die Bundesregierung die Mittel für die Erstorientierungskurse
erst nachträglich wegen der [3][hohen Ankunftszahlen]. Für 2023 meldeten
die Träger einen Bedarf von etwa 43 Millionen Euro – bewilligt wurden 25
Millionen. Erst jetzt wurde die Lücke geschlossen.
Knapp bevor das Angebot von Trägern wie von Benjamin Bieber zusammenbrach.
Wenn bei den Haushaltsverhandlungen für 2024 die Mittel nicht auf ähnlicher
Höhe bleiben, stünden Bieber und seinem Team der gleiche Marathon wie
dieses Jahr bevor. Auf eine diesbezügliche Anfrage des Linken-Abgeordneten
Victor Perli antwortete das Innenministerium nur, dass darüber beraten
wird. Ein drastischer Rückgang der Ankunftszahlen ist bisher nicht
absehbar.
Warum die Kurse wichtig für Geflüchtete sind, kann man in einem der weißen
Container in der Gemeinschaftsunterkunft erleben. Dort trudeln mittlerweile
nach und nach Menschen in den Unterrichtsraum ein. Sechs Personen sitzen um
einen Tisch und spielen mit der Lehrerin ein Spiel: Aus einem Stapel ziehen
sie Karten mit Wörtern. Aus denen bilden sie einfache Sätze. Die Lehrerin,
Astrid Körner, grüßt jede:n Einzelne:n mit Namen. Die Teilnehmenden sind
unterschiedlich alt, sprechen Farsi, Arabisch, Rundi, Ukrainisch,
Rumänisch oder Französisch.
Einige sind seit Monaten hier, andere erst seit ein paar Tagen. Zwei Kinder
sind auch dabei. Für die Kinder hat Lehrerin Körner eine Spielecke mit
einem Straßenteppich eingerichtet. Manchmal habe sie bis zu sechs Kinder
mit im Kurs, erzählt sie. Die zwei laufen an diesem Tag mal rein und raus,
quer durch den Raum oder spielen mit Körners Unterrichtsmaterial. Das sei
zwar anstrengend, sagt sie, aber: „Ohne die Kinder kriege ich die Mütter
nicht in den Kurs, das ist mir aber wichtig“, sagt die Lehrerin.
Die 54-jährige trägt nicht mehr ganz weiße Turnschuhe. Mit denen läuft sie
immer wieder von Schülerin zu Schüler, quer durch den Raum und um die
Tische herum. Zur Ruhe kommt sie während der drei Stunden kaum. Auch danach
und davor unterhält sie sich, gibt Tipps, erinnert an Übungen für zu Hause.
„Der Kurs ist ein Schutzraum“, sagt Körner. Die flexible Struktur der
Erstorientierungskurse ermögliche es, individueller und zugänglicher auf
die Menschen einzugehen als etwa ein Integrationskurs. Denn die
Erstorientierungskurse sind variabel in ihren Modulen, die Teilnehmenden
können jederzeit einsteigen – frei von Prüfungs- oder Anwesenheitsdruck.
„Wenn es mal länger dauert, dauert es eben länger“, sagt Körner. Und: Hi…
habe sie den Rahmen, Herausforderungen, die den Alltag der Teilnehmenden
betreffen, direkt anzugehen, weil sie nicht wie im Integrationskurs am
Ende ein Zertifikat prüfen muss.
So kann Körner im ihrem Kurs drei verschiedene Lernniveaus bedienen. Eine
Person lernt gerade erst die lateinischen Buchstaben, eine Gruppe
konjugiert Verben und eine weitere beschäftigt sich mit
Vergangenheitsformen. Und nicht nur Sprache wird im EOK gelehrt. „Wer hat
schon ein Fahrrad?“, fragt Körner während des Unterrichts in die Runde.
Dann erklärt sie, wer günstige Fahrräder verkauft und welche Ausflugsziele
in der Umgebung sich für ein Picknick eignen. „Es ist auch für euch
wichtig, dass ihr mal rauskommt. Erkundet das Land, auch ihr braucht schöne
Bilder“, ermutigt sie die Runde. An anderen Tagen übt Körner mit der Gruppe
auch mal Straßenverkehrsregeln oder streicht gemeinsam die Unterkunft. „Für
so etwas gibt es im Integrationskurs keinen Platz“, sagt Körner.
Diese Ansicht bestätigt auch Christoph Emminghaus. Er ist Geschäftsführer
der Politikberatung Syspons. [4][Sie hat die Erstorientierungskurse im
Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über drei Jahre von
2017 bis 2020 evaluiert]. Wie Bieber plädiert Emminghaus für ein
Zusammenspiel von Erstorientierungskursen und Integrationskursen. Denn:
„Der Erstorientierungskurs ermöglicht mehr Menschen, den Integrationskurs
erfolgreich zu bewältigen“, sagt Emminghaus bei einem Telefongespräch. Im
Erstorientierungskurs könnten die Menschen erst mal ankommen.
Gerade Menschen, die von der Flucht traumatisiert seien oder mit dem neuen
Alltag in Deutschland noch hadern, fällt es schwer, sich im durch
getaktetem Integrationskurs zu behaupten. Erstorientierungskurse könnten
das auffangen. „Sonst wird man diese Themen im Integrationskurs
wiederfinden, die dort wenig Platz haben“, sagt Emminghaus. Wer den
Integrationskurs nicht schafft, darf einmal eine bestimmte Stundenanzahl
wiederholen. Schlägt das fehl, gibt es keine zweite Chance. Hinzu kommt,
dass frisch Angekommene sofort in die Erstorientierungskurse einsteigen
können. [5][Auf einen Integrationskurs müssen sie teils monatelang warten.]
Bieber vermutet, dass der Bundesregierung die Bedeutung der
Erstorientierungskurse nicht klar gewesen sei. Im März etwa betonte das
Innenministerium in einer Antwort auf eine Anfrage von Perli noch die
Bedeutung anderer Integrationsmaßnahmen gegenüber den
Erstorientierungskursen. Das Innenministerium sah einen „grundsätzlichen
Vorrang“ der Integrationskurse gegenüber den Erstorientierungskursen. Laut
Benjamin Bieber braucht es aber beides. „Die Erstorientierungskurse sind
die Grundlage für alles andere“, sagt er.
## Die Zukunft bleibt ungewiss
Bewohner Lajoie Kwizera ist seit zwei Monaten in Deutschland. Seit nahezu
der gleichen Zeit besucht er den Erstorientierungskurs. Gleich am ersten
Tag habe er einsteigen können, erzählt er. „Der Kurs gefällt mir, ich lerne
viel.“ Es sei gut, wenn die Regierung den Kurs beibehalte. Denn sonst gebe
es keine gemeinsamen Aktivitäten und kämen kaum Neuigkeiten ins Camp. In
Burundi, wo er aufwuchs, fuhr er Lastwagen; transportierte Gas, Öl oder
Medikamente innerhalb des Landes und nach Tansania oder Ruanda. Den Job
könne er sich auch für Deutschland vorstellen; alternativ würde er auch
gerne als Zugführer arbeiten. Der 24-jährige will sich in Deutschland ein
Leben aufbauen. Wünscht sich eine Beziehung; möchte Geld verdienen und
Arbeit finden. Der Erstorientierungskurs kann dabei eine flexible
Einführung in den Alltag bieten.
Ob die Freude der Beteiligten über den unerwarteten Geldsegen andauert,
hängt jetzt an den Haushaltsverhandlungen für 2024 der Ampelkoalition.
Benjamin Bieber ist nach dem Erfolg optimistisch. Er werde sich nun weiter
für eine dauerhafte Finanzierung der Kurse im regulären Haushalt einsetzen.
„Ich setze darauf, dass die Politik den großen Wert der EOK sieht und
wertschätzt – dauerhaft“, sagt Bieber. Auch der Linken-Abgeordnete Victor
Perli macht Druck. Die Bundesregierung habe viel zu spät und erst nach
enormem Druck der Verbände und der Linkspartei nachgebessert.
„Das ist besser als nichts, aber mit dem Zeitspiel hat die Ampel große
Schäden an der Integrationsarbeit zu verantworten“, sagt Perli. Träger
hätten aufgrund der Unsicherheit bereits Personal verloren. Seit Anfang des
Jahres wiesen sie auf die drängende Lage hin. Im Namen der Linkspartei
fordert Perli, der auch Mitglied im Haushaltsausschuss ist, dass im
kommenden Haushalt die notwendigen Mittel sofort bereitgestellt werden.
„Die Hängepartie darf sich nicht wiederholen“, sagt der Abgeordnete.
13 Jun 2023
## LINKS
[1] https://www.migazin.de/2023/01/31/benjamin-bieber-gespraech-erstorientierun…
[2] https://www.volkshochschule.de/pressemitteilungen/pm-dvv-fordert-mehr-geld-…
[3] https://www.bamf.de/DE/Themen/Statistik/Asylzahlen/asylzahlen-node.html
[4] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Integration/Erstorientierung/eok-…
[5] https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Frust-bei-Gefluechteten-V…
## AUTOREN
Moritz Müllender
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Integration
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