# taz.de -- Güterbahnhof Greifswalder Straße: Flucht nach vorn | |
> Auf dem alten Güterbahnhof an der Greifswalder gibt es Kunst und Kultur | |
> satt. Doch der Eigentümer will das Grundstück bebauen. | |
Bild: Machen Krach und wollen bleiben: Roboterband und Erschaffer Kolja Kugler | |
Die Band auf der Bühne wirkt etwas unbeholfen. Der hünenhafte Bassist | |
spielt dieselbe Tonfolge über mehrere Minuten, der ungelenke Drummer | |
zerbricht mitten im Song einen Schlagzeugstick, ohne es zu merken. Dass die | |
Zuschauer:innen trotzdem begeistert sind, mag wohl daran liegen, dass es | |
sich bei den Musikanten nicht um Menschen, sondern um zwei aus | |
Schrottteilen zusammengebaute Roboter handelt. Von der Dachterrasse des | |
Schiffscontainers gegenüber guckt ein Mann mit Giraffenohren interessiert | |
zu, eine Frau in schwarzem Kleid hingegen beschäftigt sich eher mit | |
Seifenblasen, die sie mithilfe eines Seils und zweier Stöcke über das ganze | |
Gelände verteilt. | |
„Der Ort ist eine schöne kleine Welt für sich“, schwärmt Robert Bartl, | |
während er an der Roboterband vorbei über das Gelände führt. Der 35-Jährige | |
ist Mitglied des [1][Diskobabel e. V.], einem Zusammenschluss von derzeit | |
mehr als 10 Kunst- und Kulturvereinen und einzelnen Künstlern, die auf dem | |
Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs an der Greifswalder Straße ihre Basis | |
gefunden haben. Doch mit der schrägen Idylle könnte es bald vorbei sein: | |
Bis September sollen die Künstler:innen runter vom Gelände. Der | |
Eigentümer möchte es bald bebauen. | |
Lange war das seit Frühjahr 2018 vom Verein genutzte Gelände eher ein | |
Geheimtipp in der alternativen Szene und unter Anwohner:innen. Wenn es | |
Veranstaltungen auf dem Gelände gab, wurden diese bisher kaum beworben. | |
Doch angesichts des nahenden Endes wagt der Verein die Flucht nach vorn. An | |
diesem Samstag Anfang Juli haben Bartl und seine Mitstreiter:innen | |
einen Tag der offenen Tür organisiert. Jedes Kollektiv stellt seine | |
Kreativität zur Schau, neben der Roboterband spielen DJs, es gibt einen | |
Kostümverleih und Bobbycar-Rennen. Die Mischung kommt an: Nicht nur das | |
szenetypische Publikum tummelt sich auf dem Gelände, sondern auch viele | |
Kinder und ältere Menschen. | |
Die Idee ist, durch den „Babeltag“ die Bedeutung von alternativen | |
Freiräumen wie der Diskobabel zu verdeutlichen. „Orte wie dieser sind der | |
Grund, warum viele Menschen nach Berlin kommen“, ist Bartl sich sicher. | |
Doch davon gäbe es immer weniger, geeignete Ersatzflächen zu finden, wird | |
zunehmend ein Ding der Unmöglichkeit. | |
Dabei war es erst die Verdrängung, die die Kunst- und Kulturschaffenden | |
zusammengebracht hat. Anfang 2018 wurde dem Partykollektiv Jonny Knüppel, | |
das einen Club auf einem Gelände an der Lohmühleninsel betrieb, | |
überraschend gekündigt. Der Verein stand vor der Herausforderung, innerhalb | |
kürzester Zeit einen neuen Ort zu finden. | |
Das Gelände an der Greifswalder Straße schien geeignet. „Für Jonny Knüppel | |
allein war es aber viel zu groß“, erinnert sich Bartl, der neben seiner | |
Tätigkeit bei Diskobabel auch Teil des Kollektivs ist. | |
## Neue Heimat für die Kunst | |
Schnell fanden sich weitere heimatlose Künstler:innen und Kollektive. So | |
auch der selbstständige Künstler Kolja Kugler, der die Roboterband | |
betreibt. Seine Wild Waste Gallery, zu der auch noch andere | |
Roboter-Skulpturen gehören, ist sonst auf vielen Festivals wie etwa der | |
Fusion zu Gast. | |
Nachdem die Roboter dank Ersatz-Stick ihre Show zu Ende gespielt haben, | |
springt Kugler mit ölverschmierter Arbeitshose für ein Interview von der | |
Bühne herunter. Schnell wird deutlich, dass Kugler eher Lust hat, über | |
seine Kunst als über die Zukunft des Geländes zu reden: Detailliert | |
beschreibt der Künstler, wie er die Roboter mit Luftdruck betreibt, wie er | |
die Songs elektronisch komponiert und die Signale an die Roboter | |
weitergeleitet werden. Auch solle die Band erweitert werden, er bastele | |
gerade an einer Keyboarderin. „Ich habe Ideen für mehrere Leben“, lacht | |
Kugler. | |
Doch die Unsicherheit verfolgt den Künstler, zuvor musste er schon zwei | |
andere Locations innerhalb kurzer Zeit aufgeben: „Wir sind eine ungewollte | |
Bewegung der Vertriebenen“, sagt Kugler. | |
Auch die Artist:innen vom Zirkus Mond fanden auf dem Gelände ihre erste | |
feste Basis. Mit Hilfe eines Kredits haben sie ein himmelblaues Zirkuszelt | |
gekauft, welches unweit der Roboterbühne steht. Seitdem veranstalten sie | |
regelmäßig Shows. „Davor waren wir eher nomadisch in Clubs unterwegs“, | |
berichtet Max Mohr, Mitbegründer des Zirkus, „jetzt sind wir zum Herz der | |
Berliner Artistenszene geworden.“ Eine Ausweichmöglichkeit haben sie nicht, | |
auch wenn der Zirkus darauf hofft, ab 2024 im Spreepark sein Zelt | |
aufschlagen zu können. | |
Weiter geht der Rundgang, am Zirkuszelt vorbei. In einem durch junge Bäume | |
beschatteten Bereich wird gerade Pizza in einem selbst gebauten Ofen | |
gebacken. Bartl ist sichtlich stolz auf das, was die Vereinsmitglieder | |
innerhalb von drei Jahren aus einer Brache ohne Strom und Wasseranschluss | |
geschaffen haben. Sogar eine Sauna mit Wellnessbereich gibt es. „Es ist | |
aber noch viel Luft nach oben, vieles ist noch Baustelle“, sagt Bartl. | |
Eigentlich haben sie große Pläne für das Gelände, würden gerne länger | |
bleiben. Erst vor Kurzem hätten sie eine hohe Summe in eine | |
Feuerwehrzufahrt investiert. | |
## Wohnungen geplant | |
Aktuell befindet sich der Verein in Verhandlung mit dem Eigentümer. Die | |
Hoffnung ist, die Zwischennutzung noch ein wenig verlängern zu können. Der | |
Eigentümer hat bereits 2011 das Gelände mit der Absicht erworben, dort | |
Wohnungen zu bauen. Doch der Bezirk Pankow will einen Teil des Grundstücks | |
nutzen, um dringend benötigte Kita- und Schulplätze zu schaffen. | |
Der Eigentümer klagte mehrmals gegen die Verzögerung des Baubeginns, | |
unterlag aber zuletzt im März vor dem Oberverwaltungsgericht | |
Berlin-Brandenburg. Das Gericht bestätigte in seinem Urteil die vom Bezirk | |
verhängte Veränderungssperre, die verhindern soll, dass der Eigentümer | |
vorzeitig durch Baumaßnahmen Fakten schafft. Auf taz-Anfrage teilt der | |
Bezirk mit, dass es gut möglich sei, dass die Sperre bis 2023 verlängert | |
werden würde. | |
„Wir haben natürlich nichts dagegen, wenn hier eine Schule gebaut wird“, | |
stellt Bartl klar, auch seien sie dankbar, das Gelände überhaupt | |
zwischennutzen zu können. Aber ihnen wäre schon sehr geholfen, wenn sie bis | |
zum Baubeginn bleiben könnten. Auch wünsche sich der Verein Unterstützung | |
von der Politik bei der Suche nach einem Ersatzort. Sie hätten zwar schon | |
positive Rückmeldungen bekommen, berichtet Bartl, „aber viel passiert ist | |
noch nicht“. | |
27 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://www.diskobabel.de/ | |
## AUTOREN | |
Jonas Wahmkow | |
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