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# taz.de -- Geschädigte zu Klage gegen Bayer: „System gegen die Menschen“
> Sie hatte Fehlgeburten und Schlaganfälle, nachdem sie Glyphosat
> ausgesetzt war. Muss Bayer dafür geradestehen? Anwältin Sabrina Ortiz
> hofft darauf.
Bild: Jedes Jahr werden 3 Millionen Liter Agrochemikalien auf den Feldern rund …
taz: Frau Ortiz, die [1][OECD muss über eine Beschwerde von
Menschenrechtsgruppen gegen Bayer entscheiden]. Es geht um den Einsatz von
Agrochemikalien in Lateinamerika und ihre schädigenden Auswirkungen auf
Mensch und Umwelt. In Argentinien geht es um Pergamino. Was passiert dort?
Sabrina Ortiz: Pergamino wird von der Landwirtschaft beherrscht. Es gibt
mehr als 70 Unternehmen, die davon profitieren. Jedes Jahr werden über 3
Millionen Liter Agrochemikalien auf den Feldern rund um die Stadt
versprüht. Es ist ein industrielles System, das gegen die Gesundheit der
Menschen und gegen die Umwelt arbeitet, und Bayer ist ein wichtiger Teil
davon.
taz: Von welchem System sprechen Sie?
Ortiz: Hier wird Gensoja angebaut. Die Pflanzen sind immun gegen diese
Chemikalien, die von Bayer hergestellt werden, wie Glyphosat. Diese können
deshalb in großen Mengen auf die Felder gesprüht werden. Alles, was keimt,
stirbt ab, die Sojapflanzen überleben.
taz: Wie erklären Sie die positive Einstellung zu diesem System?
Ortiz: Es herrscht eine Wagenburgmentalität, nach der die Landwirtschaft
nicht nur das Beste ist, was uns passieren konnte, sondern auch alles immer
richtig macht. Jeder hält den Mund, aus Bequemlichkeit, aus Feigheit, aus
Desinteresse. Manche wollen es einfach nicht wissen, selbst wenn sie oder
ihre Kinder schon krank sind. Beim jährlichen Marathon laufen alle in
Trikots, auf denen „Bayer“ steht, der Werbespruch des Konzerns lautet hier
„Si es Bayer, es bueno“, also „Ist es Bayer, ist es gut“. Auch ich bin …
dieser Mentalität aufgewachsen.
taz: Wann haben Sie Ihre Einstellung verändert?
Ortiz: Es war ein schmerzhafter Weg. Meine erste Fehlgeburt hatte ich mit
27 Jahren. Ich weiß nicht, was an diesem Tag auf den Feldern versprüht
wurde. Der Gestank war unerträglich und man konnte kaum atmen. Meine Nase,
mein Mund, meine Kehle, alles begann zu brennen. In der folgenden Nacht
habe ich mein Kind verloren. Im Krankenhaus wurde eine Vergiftung
diagnostiziert. Aber der Arzt sagte, wenn er das als Grund für meine
Fehlgeburt angibt, würden sie ihn umbringen. Deshalb steht auf der
Bescheinigung nur Schwangerschaftsabbruch in Woche X. Meinen ersten
Schlaganfall hatte ich mit 30, meinen zweiten mit 31. Beide Male begannen
meine Arme zu zittern und die Sehkraft auf meinem rechten Auge verschwand.
Letztes Jahr hatte ich eine zweite Fehlgeburt. Damals wohnten wir in einem
Viertel, das an die umliegenden Felder grenzte.
taz: Wann kamen Sie darauf, dass das mit den versprühten Mitteln
zusammenhängen könnte?
Ortiz: Bei einem Arztbesuch habe ich erwähnt, dass unser Haus ganz in der
Nähe von Sojafeldern liegt, die ständig besprüht werden. 2018 haben wir
alle eine Analyse machen lassen. Bei meiner Tochter Fiama wurde ein Wert
von 9,20 Mikrogramm [2][Glyphosat] pro Liter Urin festgestellt. Mein Sohn
Ciro hatte sogar 10,20 Mikrogramm Glyphosat. Bei mir waren es 4,10
Mikrogramm Glyphosat. Die Toleranzgrenze liegt bei 0,1 Mikrogramm pro Liter
Urin. Als ich dann unsere Ergebnisse der Öffentlichkeit vorstellte, sagte
die damalige Gesundheitssekretärin, es handele sich um „betrügerische
Analysen“.
taz: Die Ärzte leugnen einen Zusammenhang?
Ortiz: Es gibt keinen einzigen medizinischen Toxikologen in Pergamino, und
die Antwort der anderen Ärzte war immer dieselbe: „Nein, das hat nichts
damit zu tun.“ Schließlich gingen wir zu einem Toxikologen im 170 Kilometer
entfernten Pilar. Während der Pandemie mussten wir wieder zu der
Kinderärztin in Pergamino gehen. Bei unserem zweiten Besuch sagte sie mir,
dass sie uns nicht mehr behandeln könne. Sie konnte uns kein Attest
ausstellen, weil sie mit der Person, die für die Kontrolle des
Sprüheinsatzes in Pergamino zuständig war, sehr gut befreundet war.
taz: War das der Moment, in dem es Klick gemacht hat?
Ortiz: Wenn ich zurückblicke, sehe ich eine naive Mutter, die mit ihren
Analyseergebnissen und Unterlagen verzweifelt nach Rat und Unterstützung
suchte. Selbst eine Anwältin, die ich gut kannte, sagte, sie könne mir
nicht helfen, weil sie auch landwirtschaftliche Unternehmen berate. Dabei
war sie Vorsitzende des Instituts für Agrar- und Umweltrecht bei der
Anwaltskammer von Pergamino und zuständig für die Ausbildung von Juristen
in diesem Bereich. Als ich begriff, dass es weder Ärzte noch Anwälte gab,
die mich unterstützen würden, sah ich nur einen Ausweg. Ich habe fünf Jahre
Jura studiert und 2017 meinen Abschluss gemacht.
taz: Und als Rechtsanwältin gingen Sie dann in die Offensive?
Ortiz: Ja, ich habe eine Strafanzeige beim Bundesgericht in der Stadt San
Nicolás eingereicht. Sie wurde nach nur einer Woche angenommen, das Gericht
ordnete Untersuchungen an. Unter Polizeischutz wurden damals Boden- und
Wasserproben in vier Stadtvierteln entnommen und untersucht. Das
Leitungswasser in unserem Viertel enthielt 18 Agrogifte. In den Bodenproben
wurden sogar 19 toxische Substanzen gefunden. 2018 wurde die erste
einstweilige Verfügung erlassen, die das Sprühen auf den Feldern in einem
Abstand von 600 Metern zu den Wohnvierteln verbietet.
taz: Inzwischen muss der Abstand größer sein.
Ortiz: Im September 2019 wurde eine Studie zur Gentoxizität in der
Nachbarschaft durchgeführt, die zeigte, dass viele Kinder bereits
genetische Schäden haben. Sie zeigte aber auch, dass diese Schäden ab einem
Abstand von 1.950 Metern zu den Feldern deutlich abnahmen. In einer
Petition forderten wir, den Radius für das Sprühverbot von 600 auf 1.950
Meter zu erweitern. Dies ging bis vor den Obersten Gerichtshof, der uns
letztlich Recht gab.
taz: Haben die Nachbarn Ihnen gratuliert?
Ortiz: Nur ein paar. Vor meiner Haustür wurden Giftkanister aufgestellt,
auf die Fassade meines Hauses wurde geschossen, mein Hund getötet. Im
Supermarkt flüsterte jemand: „Ich schieß dir in den Rücken, damit du den
Rest deines beschissenen Lebens im Rollstuhl verbringst.“ Mein Vater wurde
mit seinem Auto fast von der Straße gedrängt. Später tauchten
Videoaufnahmen auf, die zeigten, dass es das Auto des Nachbarn war, dem das
Feld gegenüber gehört.
taz: Sie sind jetzt wieder schwanger?
Ortiz: Ja, aber ich bin sehr vorsichtig. Ich gehe regelmäßig ins Hospital
Italiano in Buenos Aires. Nachdem ich meine Vorgeschichte erzählt hatte,
wurde ich zur Abteilung für hochkomplexe Fälle geschickt und in die höchste
Risikostufe eingestuft.
23 Jul 2024
## LINKS
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[2] /Nach-Kontamination-mit-Glyphosat/!5859491
## AUTOREN
Jürgen Vogt
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