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# taz.de -- Gastbeitrag über verdrängte NS-Opfer: Zeit, das Unrecht zu benenn…
> Als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ bezeichnete Menschen erhielten
> bisher keine Anerkennung als NS-Opfer. Das muss sich ändern.
Bild: Ein Kunstwerk auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers …
Mit 18 Jahren, kam Anita Köcke 1943 ins KZ Uckermark. „Ich habe dem
Jugendamt gehört“, sagte sie über sich. Mit vierzehn musste sie beim Bauern
morgens 70 Kühe melken. Sie lief fort, wurde aufgegriffen, bekam neue
Stellen zugewiesen, lief wieder fort. Schließlich galt sie als
„arbeitsscheu“.
Tausende junge Frauen und Mädchen ab 16 Jahren oder jünger waren im
sogenannten „Jugendschutzlager Uckermark“, nah dem Frauen-KZ Ravensbrück,
interniert. Wie Hildegard Lazik, die russische Kriegsgefangene mit
Lebensmitteln unterstützt hatte und im KZ zwangssterilisiert wurde. Oder
wie Amelie S., die wegen kleiner Diebstähle aufgefallen war.
Viele waren vorher in der Fürsorge, weil ihre Mütter ledig waren und Kinder
hatten von verschiedenen Männern. Um Jugendschutz ging es hier nicht.
Jedenfalls nicht um den der Internierten. Sie galten als
„gemeinschaftsfremd“, als „asozial“ oder „Berufsverbrecherinnen“. V…
sollte die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ geschützt werden –
ein Leben lang.
Auch über 70 Jahre nach Kriegsende weist die Aufarbeitung des
Nationalsozialismus erhebliche Lücken auf. Das betrifft den Holocaust, der
in seiner Singularität zu Recht im Zentrum deutscher Erinnerungskultur
steht. Das betrifft aber auch die bisher wenig beachteten Opfergruppen der
sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“.
## „Geborenes Verbrechertum“
Viele Betroffene haben das Stigma verinnerlicht und schwiegen aus Scham
über das Erlittene. In der von Zeitzeugen überlieferten Geschichte der
Konzentrationslager fehlt ihre Perspektive bis heute. Das hat zu Lücken
geführt im kollektiven Gedächtnis und in den Familiengeschichten.
Die damals als [1][„Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“] Bezeichneten hä…
unterschiedlicher kaum sein können. Manche waren vielleicht, wie Ringelnatz
über eine seiner Figuren schrieb, etwas schräg ins Leben gebaut, ungelenk
oder widerständig und anders. Viele waren arm, in die Armut geboren. Schon
ihre Eltern hatten nicht „funktioniert“.
Stand im Gesundheitspass des Kindes, dass die Eltern arbeitslos,
vorbestraft oder alkoholkrank waren, reichte das, um dem Kind „geborenes
Verbrechertum“ oder erbliche „Asozialität“ zu attestieren. Verfolgt wurd…
aber auch Hamburger Swing Kids. Mit ihrer amerikanischen Kleidung, ihren
langen Haaren und der Begrüßungsformel „Swing Heil!“ waren sie für Heinr…
Himmler, Reichsführers SS, „Arbeitsscheue“ und ein „Übel“, das „rad…
ausgerottet“ werden musste.
## Verfolgte Lebensentwürfe
Es ging nicht um Straftaten, sondern um Lebensentwürfe. Die Internierung im
KZ traf ab Mitte der 1930er Jahre sozial unangepasst lebende Menschen. Mit
dem Instrument der „rassischen Generalprävention“ wurden sie als
„gemeinschaftsfremd“ aus dem Kreis der Freien ausgeschlossen. Denn zu
schützen war nicht das Kind oder der Jugendliche, nicht der Mensch mit
seinen Sehnsüchten und seinen Krisen, sondern allein die
nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“.
Es war ein offen formuliertes Programm, wie Wolfgang Ayass schreibt, und
ging einher mit Begriffen wie „Auslese“, „Ballastexistenzen“ und
„Ausmerze“. Wer als „gemeinschaftsfremd“ galt, für den gab es keine Re…
Betroffen waren Obdachlose, Frauen, die als „sexuell verwahrlost“ galten,
wegen des Kontakts zu Fremdarbeitern, einer Abtreibung, vermeintlicher oder
tatsächlicher Prostitution. Oder Kleinkriminelle wie Ernst Nonnenmacher,
der wegen Wäsche- und Holzdiebstahls ein Vorstrafenregister hatte und zur
Vernichtung durch Arbeit im Steinbruch im KZ Flossenbürg interniert wurde.
Das Schicksal seines Onkels hat [2][Frank Nonnenmacher] in seinem
eindrücklichen Portrait zweier Brüder („DU hattest es besser als ICH“,
2014) festhalten.
Im Rahmen der Verfolgungspraxis wurden die Begriffe „Asoziale“ und
„Berufsverbrecher“ zunehmend unterschiedslos verwandt. Auch
[3][Homosexuelle], Juden, Sinti und Roma oder politische Oppositionelle
wurden von Justiz und Verwaltung als „asozial“ bezeichnet und verfolgt. Der
Begriff war dabei gezielt ungenau und diente auch dazu, derer habhaft zu
werden, für die die Zuschreibung „Berufsverbrecher“ nicht passte.
Armut war selbst verschuldet, so die Logik der Nazis. Sie widersprach dem
Bild des neuen, funktionstüchtigen Menschen und hatte aus der öffentlichen
Wahrnehmung zu verschwinden. Die Ermächtigungsgesetze von 1933 schufen den
rechtlichen Rahmen für die reichsweite Erfassung und Verfolgung der
„Asozialen“ und „Berufsverbrecher“. Die Ausgestaltung der Maßnahmen ge…
sie war dann Sache der Länder.
Eine KZ-Haft anordnen konnten Polizeidirektionen, Landratsämter und
Regierungspräsidenten. Sie erfolgten aber auch auf Vorschlag von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Wohlfahrtspflege, von Bürgermeistern,
Gesundheits- und Arbeitsämtern, in Einzelfällen von klinischen Anstalten,
nicht selten aufgrund von Denunziationen durch Mitbürger oder auch
Angehörige.
So vermerkt ein Pfarrer, wie Julia Hörath schreibt, in seiner Beurteilung
des Bäckerlehrlings Jasper O., das „anscheinend verdorbene Blut durch das
leichtsinnige Leben des Vaters“. Dass er damit Schicksal spielte, muss er
gewusst haben. Der so stigmatisierte Junge wurde von einer
Fürsorgeeinrichtung in die nächste geschoben. In seiner Akte wird der „Hang
zum Stehlen“, zu „Leichtsinn“ oder „Liederlichkeit“ vermerkt. Schlie�…
wird so aus einem verstolperten Kind ein delinquenter Jugendlicher und ein
straffälliger Erwachsener. Und man sah sich bestätigt.
## Freiheitsentzug ohne richterliche Anordnung
Zwischen 1933 und 45 wurden insgesamt mehrere zehntausend Menschen von der
Kriminalpolizei, der Gestapo, Wohlfahrtsbehörden oder Gerichten zu
„Asozialen“ oder „Berufsverbrechern“ erklärt und in Konzentrationslage…
interniert. Etwa 16.000 Menschen wurden nach einer verbüßten Haftstrafe aus
„Sicherungsverwahrung“ direkt in Konzentrationslager überwiesen.
Zum Kriegsende wurden die „Sicherungsverwahrten“ vermehrt zur „Vernichtung
durch Arbeit“ in die KZs gebracht. „Vorbeuge-“ oder „Schutzhaft“ wurd…
verhängt, wenn die Betroffenen mindestens einmal vorbestraft waren. Eine
genaue Zahl kennen wir bis heute nicht.
Dabei unterschied sich die „Schutzhaft“ der Nationalsozialisten von allen
vorangegangenen Bestimmungen durch ihren fundamentalen Unrechtscharakter.
Sie widersprach den Grundprinzipien eines rechtmäßigen Freiheitsentzugs,
erstmals kodifiziert durch die Habeas-Corpus-Akte 1679. Denn dieser
Freiheitsentzug erfolgte ohne richterliche Anordnung, ohne dass eine
Straftat vorlag und ohne dass den Betroffenen Rechtsmittel zur Verfügung
standen. Zudem war der Freiheitsentzug generell zeitlich unbefristet. Damit
war klar, dass eine Resozialisierung nicht angestrebt wurde. Den Tod der
Betroffenen nahmen die einweisenden Behörden mindestens in Kauf.
## Verbrecher in Uniform
Es gab auch ehemalige Kriminelle mit langen und schweren Vorstrafen unter
den KZ-Häftlingen mit dem schwarzen oder grünen Winkel. Solche, die heute
wohl als „Intensivtäter“ bezeichnet würden. Doch auch für sie gilt nach
unserem heutigen Rechtsverständnis, dass ihnen mit der Einweisung in ein
Konzentrationslager schweres Unrecht zugefügt wurde. Viel größere
Verbrecher standen ihnen gegenüber – in SS-Uniformen.
In der Nachkriegsgesellschaft stießen sie wieder auf Vorurteile. Auch in
neuer Literatur werden sogenannte Berufsverbrecher häufig auf die Rolle als
Funktionshäftlinge oder Kapos reduziert. Allerdings wurden in dieser
Funktion Schwerverbrecher nicht häufiger eingesetzt als andere, wie Dagmar
Lieske in einer Forschungsarbeit für Sachsenhausen feststellt. Sicherlich
gab es diejenigen, die ihre Macht auf Zeit und Abruf missbraucht haben.
Aber auch Kapos waren Häftlinge und im nächsten Moment auch Todesopfer. Das
System KZ war in sich ein Unrechtssystem. Wer dort als Häftling zum Täter
wurde, war doch immer zuallererst ein Opfer.
Kann man Kriminelle als Opfer anerkennen? Ich denke, man kann und man muss.
Es ist an der Zeit, das Unrecht zu benennen. Es ist an der Zeit, die
sozialrassistische und kriminalpräventive Verfolgung von Andersdenkenden,
Minderheiten oder benachteiligten Menschen mit einer eindeutigen Geste zu
verurteilen. Denn niemand war „zu Recht“ in einem KZ. Schon für die
Sondierungsverhandlungen 2017 hatten wir Grüne die Anerkennung der
Opfergruppen mit den grünen und schwarzen Winkeln als Ziel formuliert.
Doch die große Koalition ist bis heute nicht bereit, sie als Opfer des
Nationalsozialismus anzuerkennen. Dass wir heute wieder vermehrt
gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegenüber Langzeitarbeitslosen,
Flüchtlingen, Obdachlosen und Menschen mit Behinderung von rechts außen
beobachten, zeigt, wie aktuell das Thema ist – auch wenn sich ein
Analogieschluss mit dem NS verbietet.
8 Apr 2019
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## AUTOREN
Erhard Grundl
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