# taz.de -- Fast Neues von Bloody Valentine: Von Perfektionismus zu Selbstzerst… | |
> My Bloody Valentine sind ein Mythos ohne neues Material seit 1991. Aber | |
> drei von der Band persönlich remasterte Alben lassen jetzt erkennen, wie | |
> gut ihr Werk gealtert ist. | |
Bild: Immer noch herausfordernde, gewagte und überraschende Musik: My Bloody V… | |
Zur Verhandlung steht heute: My Bloody Valentine. Britische Rockband. | |
Quartett. Hinterlassenschaft: zwei Alben, eine Handvoll EPs. | |
Wirkunsgzeitraum: etwas über drei Jahre. Wann: vor über 20 Jahren. | |
Moment, Moment – warum sollte uns das interessieren? Ist jemand gestorben? | |
Hat einer von denen später Karriere gemacht? Haben Bandmitglieder | |
Straftaten begangen oder sind zumindest in die Psychiatrie eingewiesen | |
worden? Gibt es sonstige neue Erkenntnisse? Womöglich. Denn es gibt: drei | |
Alben mit Wiederveröffentlichungen. Die beiden Alben „Isn’t Anything“ | |
(1988) und „Loveless“ (1991) sowie die Compilation „EPs 1988–1991“. A… | |
remastered von My-Bloody-Valentine-Mastermind Kevin Shields | |
höchstpersönlich. Eine schöne Gelegenheit, zu untersuchen, wie gut das Werk | |
dieser einst so gehypten Gruppe gealtert ist. | |
My Bloody Valentine gehören zu jenen Bands, die es der Öffentlichkeit | |
schwer machen, weil sie es so besonders ernst meinen mit ihrer Kunst. Du | |
findest sie dort, wo Perfektionismus in Selbstzerstörung mündet. Sie lassen | |
uns seit 1991 auf ein drittes Album warten, und wundersamerweise ist die | |
Zahl derer, die da geduldig auf dieses neue Werk warten, mit den Jahren | |
nicht unbedingt kleiner geworden. | |
Sie wachsen im Gegenteil nach, die My-Bloody-Valentine-Aficionados. Und die | |
Band ist längst zu einem jener Popmythen geworden, die ihren Reiz nicht | |
zuletzt aus „schönem Scheitern“ ziehen. File under: Robert Johnson, Hank | |
Williams, Brian Wilson, Syd Barrett … | |
## Fiebrige Schaffensphase, plötzliches Verstummen | |
Neben all diesen sagenumwobenen Typen nehmen sich My Bloody Valentine | |
allerdings fast aufreizend normal aus. Punkt eins: Sie hatten’s nie mit | |
Drogen. Und Künstler, die nach kurzen, fiebrigen Schaffensphasen mit | |
reichem Output plötzlich verstummen, sind aus allen Disziplinen bekannt. | |
Punkt zwei: Sie sind ja noch nicht mal verstummt. Es gab hin und wieder mal | |
einen Compilation-Beitrag, und seit einigen Jahren sind sie auch wieder | |
live unterwegs. Nur das neue Album kommt nicht. Nein, falsch – Punkt drei, | |
– es kommt nämlich doch. Zumindest hat Kevin Shields in aktuellen | |
Interviews mehrfach diese Ankündigung gemacht. | |
Nun hatte er auch die CD-Remaster des bisherigen Hauptwerks seit 2001 | |
angekündigt. Dass es so lange dauerte, hat in erster Linie juristische | |
Ursachen, wie Shields dem US-Online-Magazin Pitchfork auseinandersetzte, | |
und liegt nicht daran, dass Shields pro Song circa ein Jahr zum Remastern | |
benötigt. Dass sich Shields so mitteilungsfreudig zeigt, steht nicht nur im | |
Gegensatz zur unkommunikativen Verpackung der remasterten Reissues, auf | |
denen es über die Songtitel und die Musiker hinaus kaum Informationen gibt: | |
keine Essays zur Neueinordnung des Oeuvres der Band, keine persönlichen | |
Rückbesinnungen der Bandmitglieder. Es steht auch dem Image der Band | |
entgegen, die immer als ausgesprochen interviewscheu und generell | |
verschlossen galt. Man schaue nur mal auf ihre Website. | |
Was aber haben sie in ihren dreieinhalb Jahren künstlerisch so | |
Bahnbrechendes zustande bekommen, dass es nicht nur Medienmultis | |
jahrzehntelange juristische Grabenkriege wert ist, sondern dass auch die | |
wachsende Verehrergemeinde eine jahrelange Wartezeit klaglos erträgt? | |
Fast backwards in die Zeit der Jahrzehntwende Achtziger/ Neunziger. Man | |
könnte sagen, dass zu dieser Zeit der Übergang von der aufgenommenen zur | |
produzierten Musik in die entscheidende Phase tritt. Nachdem in der zweiten | |
Hälfte der Achtziger vor allem die Idee der „Rock“-Musik noch mal | |
aufgegriffen und neu durchdekliniert wurde, war es nun eine der Ideen der | |
Stunde, unter dem Eindruck neuer Technologien wie Sampling und sich | |
stabilisierender und selbstbewusst Neuland in Besitz nehmender Genres wie | |
HipHop und Techno das frisch erschlossene Territorium der digitalen | |
Soundmanipulationen für die Popidee zu erobern. | |
## Radikalisierung der musikalischen Extreme | |
In den USA hatten Bands wie Hüsker Dü und vor allem Dinosaur Jr. die | |
Klangideale des Punk einerseits radikalisiert, spitzer, bissiger und | |
schmerzhafter gemacht, andererseits aber einen dieser Idee scheinbar | |
entgegenstehenden Komsos sehnsüchtiger Harmonien und Melodien hinzugefügt. | |
My Bloody Valentine dachten die beiden Extreme noch mal radikal weiter und | |
erzielten erstaunlicherweise eine mühelos und naheliegend klingende | |
Verbindung der beiden Pole. Diese Verbindung ging einher mit einer | |
kompletten Dekonstruktion des Ausgangsmaterials. Die Verzerrung und das | |
Tremolo der Gitarren wurden so weit getrieben, dass oft purer Krach | |
entstand, Töne und Anschläge kaum zu erahnen waren. Nicht nur das | |
Vorwärtstreibende, Formgebende der klassischen Rockgitarre, auch die gern | |
mit ihr assoziierte Härte verschwanden in dieser Konturenlosigkeit | |
komplett, aufgelöst wie eine Kopfschmerztablette im Wasser. | |
Stattdessen entstand ein seltsam pulsierendes Dröhnen, das umso | |
außerweltlicher wirkte, als My Bloody Valentine „weiche“, sehnsüchtige | |
Harmonien bevorzugen, Moll-Sept- und Dur-Major-7-Akkorde, und besonders auf | |
den späteren Werken die Tempi immer langsamer wurden, so dass eine Rhythmik | |
im allgemeinen Drone-Nebel kaum noch wahrnehmbar war. | |
Der Musikjournalist Simon Reynolds schrieb in seinem Buch „Blissed Out: The | |
Raptures of Rock“ 1990 über My Bloody Valentine: „Ihr Lärm klingt, als ha… | |
er keine Herkunft. Man kann sich keinen physischen Akt vorstellen, der ihn | |
hätte erzeugen können. Es gibt nur diesen amorphen, unwiderstehlichen Strom | |
von Sound, diese konturenlose Helligkeit.“ Kevin Shields wird in demselben | |
Text mit dieser Aussage zitiert: „Es ist buchstäblich das Gegenteil von | |
Rock ’n’ Roll. | |
## Gefühl der Verlassenheit | |
Es beraubt ihn all seiner Härte, es bleiben nur Reste, nur Umrisse. Es ist, | |
wie wenn man an einem Sonntag durchs East End oder durch Angel spaziert, | |
dieses tote Wo-sind-nur-all-die-Leute-Gefühl. Da sind alle diese riesigen | |
Wohnhäuser, aber man trifft keine Menschenseele. Dieses Gefühl der | |
Verlassenheit. Es ist nicht angsteinflößend, man fühlt sich nicht unwohl. | |
Aber auch nicht wohl.“ | |
Diese Entschiedenheit für einen bestimmten Sound, die sich bis in die | |
Gegenwart hält und unter anderem darin resultiert, dass „Loveless“ jetzt | |
als Doppel-CD mit zwei kaum unterscheidbaren Masterings veröffentlicht | |
wird, ist umso erstaunlicher, als My Bloody Valentine lange gebraucht | |
haben, bis sie diesen Sound fanden. | |
## Selbstdarstellung als Garage-Punk-Epigonen | |
Diverse Frühwerke der 1983 gegründeten Band zeigten sie etwa als armselige | |
Garage-Punk-Epigonen oder im Stil der „C86“-Britpop-Generation. „You Made | |
Me Realise“, die erste der vier EPs, die jetzt auf der Doppel-CD „EPs | |
1988–1991“ zusammengefasst wurden, war bereits die fünfte Veröffentlichung | |
der Band in diesem Format. | |
Auf dieser Compilation präsentiert sich die Band jedoch in Bestform. Die | |
zwischen den Alben veröffentlichten EPs „Glider“ und „Tremolo E.P.“ ze… | |
sie nicht nur von ihrer experimentierfreudigsten, sondern auch von ihrer | |
sehnsuchtsvollsten Seite – hier leuchtet ihre Vision am klarsten, „die | |
Zweischneidigkeit der wesentlichen Gefühle im Leben: die Gewalt im Süßen, | |
die Neigung der Schönheit, Schaden anzurichten, die Doppelgesichtigkeit von | |
Liebe und Hass“, wie Reynolds schreibt. | |
Dies ist auch die einzige Veröffentlichung, die unveröffentlichtes Material | |
als Zugabe liefert sowie köstliche Raritäten wie die beiden schlicht | |
„Instrumental“ benannten Aufnahmen, die als Bonus-7“ den ersten 5.000 | |
Exemplaren von „Isn’t Anything“ beilagen. | |
## Status quo des Forschungsstands | |
Vielleicht ist einfach das Albumformat nicht das Richtige für My Bloody | |
Valentine, vielleicht hätten sie schon ein Füllhorn an Musik | |
veröffentlicht, wenn man sie weiter 4-Track-Werke hätte machen lassen. Aber | |
da stießen sie wieder auf die unerbittlichen Vorschriften des | |
Musikgeschäfts. | |
Schon bei der „Tremolo E.P.“ mussten sie die ursprünglich sieben zu vier | |
Titeln zusammenfassen, da sie sonst im Format Mini-LP gelandet wären, das | |
nicht zuletzt im Handel teurer gewesen wäre. In der CD-Manie der Neunziger | |
ging es dann ohnehin eher darum, das neue Medium möglichst randvoll zu | |
bespielen. Ein Zwanzig-Minuten-Format hatte darin keinen Platz. | |
Das Urteil: Dies ist extrem gut gealterte, immer noch herausfordernde, | |
gewagte und überraschende Musik, die auch heute erdacht und produziert | |
hätte sein können. Man könnte mehr davon gebrauchen. Denn so gut wie alles, | |
was seitdem im Indie-Rock-Segment an Material veröffentlicht wurde, fällt | |
weit hinter diesen Forschungsstand zurück. | |
My Bloody Valentine: „Isn’t Anything“, „Loveless“, „EPs 1988– 199… | |
Sony) | |
9 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
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