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# taz.de -- Essay über die Mythen des Punk: Beethovenstr. 6, Mönchengladbach
> Die DNA des Punk ist auch im Netz-Zeitalter nicht zu entschlüsseln.
> Gedanken zu Cuntroaches, autonomen Jugendzentren und Google Street View.
Bild: Energie im Raum: EA80 live im Berliner SO36, August 2014
Rückblende: Es ist der Eröffnungsabend des Festivals CTM in Berlin, Januar
2018. Im neu eröffneten Club OST spielt ein Haufen rumpelnder Noise-Punks.
Eine von ihnen ist das Berliner Trio Cuntroaches. Die Band ist laut, spielt
inmitten des Publikums, und das zwischen den Stücken wiederkehrende
Feedback sagt gleichermaßen Fuck you, wie es vom Ort Aufmaß zu nehmen
scheint. Noch etwas schwebt im Raum, die Geste einer zur Schau gestellten
Wildheit: Zeitungen werden zerrissen, Gegenstände ins Publikum geschmissen.
Nach 20 Minuten ist alles vorbei. Irgendwas stört und gehört hier nicht
hin. Ist das Publikum zu interessiert? Unfähig die (Auto-)Erotik der
Selbstzerstörung zu spüren?
Ein paar Monate zuvor im Berliner Kellerclub „Koma F“ spielen Cuntroaches
mit der polnischen Hardcore-Band Ohyda. Der Laden gehört zum Köpi in Mitte.
Ein Ort, der von seiner gut 30-jährigen Hausbesetzergeschichte gezeichnet
ist. Eine verkrustete Zeitkapsel, in der sich Schicht um Schicht zu einem
juckenden Mycel verwachsen hat. Ein tiefschwarz, verkrustetes Herzchakra,
dessen Lebens-, Liebes- und Leidensgemeinschaften jenseits kapitalistischer
Verwertungsparadigmen existieren können.
Die Stufen hinunter ins „Koma F“ empfängt uns das vertraute Feedback und
erhellt den Weg vors Bühnenprovisorium. Cuntroaches machen hier nichts
anderes als im Club OST – nur ohne Spektakel, Papierschnipsel und Hipster.
Klingt ähnlich – und trotzdem komplett anders: Denn der Raum birst vor
Energie. Körper glühen, bilden abstrakte Pit-Formationen und lösen
systematisch Raum- und Zeitachsen gegeneinander auf. As above so below.
Nach einer kurzen Entladung ist Schluss. Und alles im Raum liegen
Gebliebene glüht genüsslich vor sich hin. Diese Gegenüberstellung
kontrastiert zwei Räume, die kulturell weit voneinander entfernt zu sein
scheinen. Der eine Raum so konstituiert, dass er neutral wiedergibt, was in
ihn eingespeist wird.
## Emotionaler Multiplikator
In diesem Fall ein Elektronikfestival. Und der andere Raum ein emotionaler
Multiplikator, der sich energetisch potenziert, sobald die kollektive
Betriebstemperatur ihren sozialen Peak erreicht. Eine Vermischung der
beiden Szenen gibt es nicht. Dabei gäbe es Gemeinsamkeiten: Beide Orte sind
Freiräume in Berlin, wo das Freiraum-Paradigma der Neunziger längst zum
Stadtmarketing erhoben wurde. Wichtig ist, was diese Räume verbindet,
nämlich dass beide Hülsen sind für Erfahrungen, die alltagsfern, perzeptiv
autonom und somit radikal subjektiv sind.
Noch eine Rückblende: Es ist 1978 und Crass, das Londoner
Anarcho-Punk-Kollektiv, ist für drei von dem bildenden Künstler Gee Vaucher
organisierte Konzerte nach New York gekommen. Vaucher lässt Crass etwa in
einem Zentrum für polnisch-amerikanischen Arbeiter spielen, aber nicht im
berühmten „CBGBs“. Zur gleichen Zeit ist der französische Soziologe Michel
de Certeau in der Stadt. Er arbeitet an seinem Essayband „Walking in the
City“. Als Eröffnungsmetapher wählt de Certeau eine panoptisch über alles
schwebende Totale.
Er beschreibt, wie sein Blick vom 111. Stock des World Trade Center über
die Metropole streift und sie so „in einen Text verwandelt, den man vor
sich unter den Augen hat“. Das ist der Trigger eines Spatial Turns, in dem
Stadtplanung, Hypertext und virtueller Raum in eine neue Soziologie
zusammenfließen. Wer hier strukturelle Ähnlichkeit zur Netzwerkforschung
sehen will, hat ebenso recht. Denn die Protagonisten heißen Pfad, Link,
Knoten, Schnittstelle, Punkt, Markierung und Kreuzung – und sind in ihrer
Funktion so austauschbar wie US-Straight-Edge-Bands der dritten Generation.
Ob de Certeau seinem Blick folgte und sich durch New York hat treiben
lassen, ist nicht überliefert. Ebenso wenig ist überliefert, ob Sylvère
Lotringer ihn bei diesem Umherschweifen begleitete oder ihn an einem der
drei Abende mit in einen der besagten Clubs schleppte. Dann wären sich de
Certeau und Crass in der gemeinsamen Vermeidung des Offensichtlichen
begegnet – und hätten somit eine der von de Certeau erwähnten Figuren
bestätigt: In seinem Essay benennt der Franzose die Stadt als zufälliges
Zusammentreffen „paroxystischer Orte“ und der „Körper, die von dem Wirrw…
der vielen Gegensätze erfasst (..) und von den Straßen umschlungen sind“.
Dafür bedient er sich einer Terminologie der neoplatonischen Dialektik –
dem coincidentia oppositorum des Zusammenfalls der Gegensätze.
Verlassen wir New York, bleiben aber auf de Certeaus Textspur. Bitte
folgende Adresse bei Google Street View eingeben: Beethovenstraße 6, 4050
Mönchengladbach. Jeder, der einmal ein Album der Band EA80 in Händen
gehalten hat, kennt diese Straße. Keine Adresse in Deutschland ist mehr
Punk, kein Ort stärker mythisch aufgeladen. Seit der Gründung von EA80 1979
kommuniziert man mit der Band über diese Adresse.
Ob die Nachkriegstristesse des niederrheinischen Städtchens zum Mythos
beigetragen hat oder die Beethoven-Referenz, bleibt offen. Fakt ist: Seit
damals geben EA80 diese Adresse als Kontakt an. Und seitdem existieren EA80
in nahezu unveränderter Besetzung. Ein Punk-Kontinuum, das hierzulande
seinesgleichen sucht. Ein klandestines Kraftfeld in Xerox-Schwarz-Weiß,
eine gelebte Totalverweigerung. Melancholisch, wütend und aggressiv, mit
ausgeixten Versöhnungsmoment.
## Wie eine sozialistische Arbeitskolonne
Und diese Ebene bearbeiten EA80 seitdem wie eine Arbeitskolonne in
Erfüllung ihrer sozialistischen Pflicht. In jedem autonomen Jugendzentrum
der Republik haben sie gespielt, nie mehr als 5 Euro Eintritt genommen, 13
Alben veröffentlicht und unzählige Singles. All das, was eine Punkband
macht, die Punk verstanden hat. Weil Punk eine Lebensflamme ist, die am
Lodern zu halten ist. Weil sie wie eine Staffel weitergereicht werden muss.
Im Netzwerk, an alle, denen man vertraut. Eingeschworen und konspirativ.
Zurück in die Gegenwart, zu Google Street View und in die Beethovenstraße
6. Besagte Adresse war stets nur eine Postanschrift, ein Wohnhaus. Nie
etwas Öffentliches. Doch je öfters man dieser Straße begegnete, desto
realer wurde der Ort. Und so wurde in der Vorstellung aus der Schrift
(Beethovenstraße 6, 4050 Mönchengladbach) ein Bild.
Das Bild eines inneren Ortes, der dafür stand, in der Welt zu sein und sich
dieser trotzdem zu verweigern. Und nun enttäuscht Google gleich doppelt:
Die Möglichkeit, besagte Adresse als Hyperlink aufzusuchen, und die eigene
Vorstellung mit der Realität gebauter Architektur abzugleichen, ist nicht
möglich. Keine Ansicht der Beethovenstraße 6 auf Street View.
Mönchengladbach ist von Google ausgespart – wie viele mittelgroße deutsche
Kleinstädte, die nicht genügend Klickzahlen versprechen. Google führt also
oben beschriebene Verweigerungshaltung fort. Und zerstört kurzerhand – punk
as fuck – die Hoffnung, zumindest vor einem geisterhaft verpixelten Haus zu
landen, das ein weiterer Baustein im EA80-Mythos sein könnte.
## Verflüssigung von Kultur
Ein anderes Gebäude in Mönchengladbach ist auch nicht bei Street View
ansehbar: Das Haus ur, welches der Mönchengladbacher Künstler Gregor
Schneider in der Unterheydener Straße 12 seit 1985 kontinuierlich umbaute
und dessen architektonischer Höhepunkt auf der Venedig Biennale 2001
gefeiert wurde. Schneider versucht, die materiellen Bedingungen von
Architektur aufzulösen, ohne dabei das Gebäude von seiner Aura zu trennen.
Vorgemacht hatte dies der Architekt Gordon Matta-Clark in seiner
Konzeptkunst. Jedoch ist Matta-Clark mit seinen Rauminterventionen nie
gereist. Die Idee, dass Gregor Schneider mit dem Haus ur auf Tour geht, wie
etwa EA80 auf Konzertreise gehen, ist interessant. Und signifikant für die
generelle Verflüssigung kultureller Produktionsbedingungen.
Von seiner Ästhetik her könnte das Haus ur eine Idee von EA80 sein. Auf die
Frage, ob sich Schneider und EA80 jemals begegnet sind (wie de Certeau und
Crass) gibt es eine Antwort: Das Cover der Split-Single „Japanische
Kampfhörspiele vs. Killer“ (veröffentlicht auf dem Label Beau Travail)
zeigt zwei Aufnahmen des Kaffeezimmers im Haus ur. Und Killer (oder auch
Killerlady) ist das Soloprojekt Martin Kirchers. Kircher ist Sänger von
EA80. Solo nimmt er sich alle Freiheiten, die das EA80-Korsett nicht
zulässt: Wim Thoelke-Zitate, Japan-Noise und Home Recording. Vor allem legt
Kircher Referenzsysteme aus, die wiederum Anknüpfungen zum Schneider’schen
Dickicht geben, wie zum Mycel im Club „Koma F“.
Gekürzte Fassung eines Textes, der auf Englisch im Festivalkatalog des
CTM-Berlin 2019 erschienen ist. Abdruck mit freundlicher Genehmigung
5 Apr 2019
## AUTOREN
Tim Tetzner
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Punk
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