# taz.de -- Erforschung von Höhlen: Zwei Wochen unter der Erde | |
> Enge Räume, Dunkelheit und Spinnen machen Špela Borko nichts aus. Die | |
> 32-jährige Biologin klettert in Höhlen hinab, um die dortige Fauna zu | |
> entdecken. | |
Bild: Špela Borko erkundet neue Höhlensysteme und erforscht die unterirdische… | |
Das Schwarz einer Höhle ist anders als das Schwarz eines | |
Computerbildschirms. Es ist kein Schwarz, das signalisiert, dass hier | |
nichts ist, sondern ein tiefes Schwarz, in dem ein bisschen Unendlichkeit | |
steckt. | |
Mit Schwarz verbindet Špela Borko Freiheit. Die 32-jährige Slowenin hat | |
braun-rötliches Haar und die sehnig-muskulöse Statur einer Sportlerin. | |
[1][Sie erforscht Höhlen], etwa sechzig Mal pro Jahr steigt sie dafür in | |
die Tiefe. Meist nur wenige Stunden und zu Forschungszwecken, doch wenn sie | |
ganze Höhlensysteme erkundet, also einen weißen schwarzen Fleck auf der | |
Landkarte kartiert, dann bleibt sie tagelang im Unterirdischen. In Mexiko | |
steckte die Höhlenbiologin einmal für zwei Wochen am Stück unter der Erde, | |
so tief, dass sie und ihr Team mehrere Tage zurück an die Oberfläche | |
kletterten. | |
Die wissenschaftliche Erforschung von Höhlen nennt sich Speläologie. | |
Speläolog*innen untersuchen weit mehr als nur herabhängende und | |
emporwachsende Tropfsteine, die über viele Tausende von Jahren wachsen. In | |
Höhlen befinden sich geologische, archäologische und biologische | |
Informationen, die an der Oberfläche längst verloren gegangen sind. | |
Anhand dieses Archivs lässt sich rekonstruieren, wie sich Landschaften und | |
Klimazonen im Laufe der Jahrtausende verändert haben. Dafür erschließen | |
Speläolog*innen bis dato unbekannte Lebensräume. Sie entdecken neue | |
Flüsse und Wasserbecken, die oberirdisch kilometerweit entfernt plötzlich | |
wieder auftauchen. | |
An einem Tag im Juni bereitet Borko eine Gruppe Biolog*innen, die sonst nur | |
oberirdisch forschen, auf eine Expedition vor. Sie stehen in dem haushohen | |
Eingang der Vranjača-Höhle im Süden von Bosnien. Mit über 818 Metern Länge | |
und 34 Metern Tiefe ist die Höhle kartiert, trotzdem gibt es noch viele | |
Fragezeichen – unangetastete Nebenarme oder Passagen, die noch kein Mensch | |
betreten hat. Die Höhle ist Teil einer Karstlandschaft, in der Wasser | |
überwiegend unterirdisch fließt. | |
## Plötzlich sitzt die Gruppe in absoluter Dunkelheit | |
Die Biolog*innen setzen sich Schutzhelme mit Stirnlampen auf und | |
überprüfen, ob die Lampe einen Lichtkegel an die gegenüberliegende | |
Höhlenwand wirft. Dann ziehen sie sich Arbeitshandschuhe über die Hände. | |
Einige Expediteur:innen haben keine wetterfeste Kleidung mitgebracht. | |
Sie schlüpfen in einen roten Jumpsuit und sehen nun aus wie Borko. | |
Nur ihre Bewegungen unterscheiden sie noch von der Höhlenbiologin: Borko | |
bewegt sich selbstsicher, schaut die Gruppe beim Reden an, die anderen | |
schauen beim Laufen auf ihre Füße. Sie sagt: „Wenn sich jemand unwohl oder | |
unsicher fühlt, sagen Sie es mir bitte. Aber ich denke, Sie sind alle gute | |
Feldforscher*innen.“ | |
Nach einer Viertelstunde kraxeln über Geröll und Gestein setzt sich die | |
Gruppe im Kreis auf den Höhlenboden. „Jetzt schalten wir das Licht für eine | |
halbe Minute aus“, sagt Borko. Nervöses Gemurmel, dann kehrt Ruhe ein. Alle | |
drehen das Rad ihrer Stirnlampe nach unten. Das Licht erlischt und die | |
Gruppe sitzt in absoluter Dunkelheit. Es riecht muffig, nach Wäsche, die zu | |
lange in der Waschmaschine gesteckt hat. Borko sagt: „Spürt, wie es ist, | |
ein unterirdisches Tier in kompletter Dunkelheit zu sein.“ | |
Sich vorzustellen, ein unterirdisches Tier zu sein, bedarf viel Fantasie. | |
Die millimetergroßen, wirbellosen Kleinstlebewesen sehen uns Menschen nicht | |
ähnlich. Borko fällt das vielleicht leichter, sie erforscht die Tiere seit | |
vielen Jahren, schrieb ihre Doktorarbeit über [2][Niphargus], | |
Höhlenflohkrebse der Gattung Amphipoda. Diese haben etwas Urzeitliches an | |
sich, würden Höhlenflohkrebse nicht krabbeln, hielte man sie für Fossilien. | |
Sie haben keine Augen und sind fast so transparent wie Quallen. „Wenn es | |
kein Licht gibt, braucht es auch keine Augen“, sagt Borko. | |
Fasziniert ist die Forscherin vor allem von der Langlebigkeit der | |
Höhlenbewohner. „Manche Tiergruppen leben unter der Erde Dutzende von | |
Jahren, während Artverwandte an der Oberfläche nur ein oder zwei Jahre | |
überleben“, sagt sie ins Dunkel hinein. Manche Arten von Niphargus | |
überleben bis zu 200 Tage ohne Nahrung. | |
## Eine Expedition erfordert sorgfältige Vorbereitung | |
Nach dem Gedankenspiel klettert die Gruppe weiter, immer tiefer in die | |
Höhle hinein. Die Stirnlampen [3][beleuchten sandige Steinwände], Spinnen | |
huschen davon, wenn der Lichtkegel auf sie fällt. Der Boden ist feucht und | |
matschig wie ein zerquetschtes Snickers. An einer besonders schmalen Stelle | |
müssen die Forscher*innen auf dem Bauch einen Kieshügel hinaufrobben. | |
Darüber die Decke mit nur knapp 30 Zentimetern Abstand, Stück für Stück | |
zwängen sich die behelmten Köpfe durch. „Wenn man kriecht, kann man an sehr | |
engen Stellen den eigenen Herzschlag hören“, sagt Borko. | |
Eine*r nach der*m anderen wagt sich durch den Engpass. Zwischen zwei | |
Kletternden wird geduldig gewartet, damit die Kieselsteine der nächsten | |
Person nicht ins Gesicht purzeln. Auf der anderen Seite angekommen, atmet | |
jede*r hörbar aus. Ein unterirdischer Raum breitet sich aus, ungefähr so | |
groß wie ein Einfamilienhaus. Wie viel Zeit am Engpass vergeht, bis alle | |
ihre Klaustrophobie überwunden haben, kann niemand sagen. | |
Zeit, das sei so eine Sache in Höhlen, sagt Borko. „Es gibt keinen | |
Biorhythmus unter der Erde.“ Bei mehrtägigen Expeditionen stellen sich die | |
Forscher*innen deshalb einen Wecker. Der strukturiert und | |
biorhythmisiert ihre Zeit in 12 Stunden Arbeit, 12 Stunden Schlaf, erzählt | |
sie. Ohne Wecker würden sie 15 bis 20 Stunden durcharbeiten. | |
So eine Expedition erfordert eine sorgfältige Vorbereitung. Genügend Essen | |
für eine Woche, aber auch nicht zu viel, denn alles muss getragen werden. | |
Dazu kommt das Gewicht von Bohrern, Vermessungsgeräten, Batterien, | |
Kletterausrüstung und warmen Schlafsäcken. Manchmal muss immerhin [4][das | |
Wasser] nicht getragen werden, wenn es eine Quelle gibt. Borkos Team spart | |
außerdem Gewicht ein, indem alle nur die Klamotten mitbringen, die sie am | |
Leib tragen. „Das Einzige, was ich nach ein paar Tagen rieche, sind meine | |
Kolleg*innen“, sagt sie mit einem Lächeln. | |
Wenn Borko an ihre erste Expedition in eine vertikale Höhle zurückdenkt, | |
erinnert sie sich an die Angst am Seil: „Ich hing in der Luft, 30 Meter | |
über dem Boden, mitten in der großen Kammer, ohne Wände drumherum, völlig | |
hysterisch, und die Ausbilder dachten, sie müssten mich vom Seil befreien“, | |
sagt sie. „Als ich es schließlich schaffte, mich zusammenzureißen und | |
hochzuklettern, dachten sie, ich würde nie wieder in den Kurs | |
zurückkehren.“ Damals stellte sie sich ihrer Angst und kehrte zurück. Heute | |
rät sie anderen dasselbe. | |
## Astronaut*innen trainieren in Höhlen | |
Als gefährlich empfindet die Höhlenbiologin ihren Beruf nicht. Nur einmal | |
geriet sie mit ihrem Team in eine brenzlige Situation. Die letzten zwei der | |
Gruppe kletterten gerade eine vertikale Wand hoch, als es immer lauter | |
rauschte. Innerhalb von einer Minute wurde das Rauschen zum Tosen, dann | |
verstand Borko ihr eigenes Wort nicht mehr. Plötzlich schoss ein Wasserfall | |
die Wand hinunter. Der unterste, ein erfahrener Kollege, kletterte in | |
Windeseile die letzten Meter zum zweiten Kollegen hinauf und brachte beide | |
in Sicherheit. | |
Nach dem Engpass bestaunt die Gruppe den Raum tief unter der Erde. Ein | |
Fotograf spielt erfolglos mit der Belichtung, die Biolog*innen suchen | |
nach Tausendfüßlern und Höhlenflohkrebsen. Borko steht ein wenig abseits | |
und sagt: „Es ist wie auf dem Mond. Tatsächlich trainieren | |
Astronaut*innen in Höhlen.“ | |
Hier, [5][etwa 30 Meter unter der Erde], spricht Borko nun über den | |
Aufstieg. Sie spricht von ober- und unterirdisch wie von zwei Gegenteilen: | |
Unten sei Stille, Frieden, Fokus – Simplizität. Oben warteten Ablenkung, | |
Lautstärke, Aufgaben – Komplexität. | |
Oben und unten stehen auch in Beziehung zueinander. Durch die | |
unterirdischen Erkenntnisse – neuentdeckte Flüsse, Arten, | |
Mineralablagerungen – können Speläolog*innen die oberirdischen | |
Landschaften verstehen, sowohl die gegenwärtigen als auch die vergangenen. | |
Beim Aufstieg ist Borko euphorisch: „Das Erste, was ich bemerke, ist der | |
Geruch, nicht das Licht. Ich gehe nach draußen und rieche Gras, Schmutz, | |
Wasser, Ozon. Es ist, als würden meine Sinne sich wieder füllen.“ | |
13 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /In-der-Hoehle-von-Postojna/!5292323 | |
[2] https://www.google.com/url?q=https%3A%2F%2Fwww.nature.com%2Farticles%2Fs414… | |
[3] /Besuch-bei-Grabungen-in-der-Naehe-von-Kiel/!5946102 | |
[4] /Die-Hoehle-von-Lascaux/!5371483 | |
[5] /Archaeologie-fuer-die-Ewigkeit/!5936768 | |
## AUTOREN | |
Enno Schöningh | |
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