# taz.de -- Einheitsregierung in Israel: Die nationale Misstrauenskoalition | |
> Netanjahu und Gantz haben sich auf eine Koalition geeinigt. Doch die | |
> Übereinkunft zeugt von gegenseitiger Skepsis statt von Gestaltungswillen. | |
Bild: Er hat es wieder geschafft. Netanjahu auf einem Transparent bei Protesten… | |
Tel Aviv taz | Nach eineinhalb Jahren politischen Stillstands und drei | |
Wahlgängen innerhalb eines Jahres können die Israelis aufatmen: Israel | |
bekommt eine neue Regierung. Der amtierende Ministerpräsident Benjamin | |
Netanjahu und sein einstiger Herausforderer Benny Gantz haben [1][nach | |
wochenlangem Gerangel] eine 36-seitige Vereinbarung über eine sogenannte | |
Notstands-Einheitsregierung unterzeichnet. Ob die geplante Koalition | |
wirklich funktionsfähig sein wird, ist allerdings fraglich. | |
Die ersten sechs Monate sind laut der am Montagabend getroffenen | |
Vereinbarung als „Notstandsperiode“ vorgesehen; in dieser Zeit dürfen nur | |
Gesetze zur Eindämmung der [2][Coronakrise in Israel] verabschiedet werden. | |
Auf die Notstandsperiode folgt eine „Phase der Einheitsregierung“, ein | |
Begriff, der bereits irreführend ist, denn die Vereinbarung spiegelt in | |
erster Linie das Misstrauen wider, das Netanjahu und Gantz gegeneinander | |
hegen. | |
Der Kompromiss wird eine Regierung sein, die aus zwei Blöcken besteht: dem | |
rechtsreligiösen Block unter Führung von Netanjahus Likud mit | |
voraussichtlich 59 Abgeordneten und Gantz’ Block, bestehend aus | |
voraussichtlich 19 Abgeordneten. Netanjahu soll für 18 Monate die | |
Amtsgeschäfte übernehmen und den Posten des Regierungschefs dann an Gantz | |
abtreten. | |
Doch unabhängig von ihrem Status erhalten beide große Macht über jeweils | |
einen Teil der gemeinsamen Regierung. Beide können einen Minister aus dem | |
eigenen Block entlassen – eine Macht, die normalerweise nur der | |
Ministerpräsident, nicht aber sein Vize, innehat. Mit einem System aus | |
gegenseitiger Kontrolle, etwa durch ein Vetorecht, das die Blöcke bei | |
Regierungsentscheidungen haben, haben die Verhandlungsteams außerdem | |
vorgesorgt, dass keiner im Alleingang Entscheidungen durchdrücken kann. | |
## Weg frei für Annexion von Palästinenser-Gebieten | |
Der Präsident des Israelischen Demokratieinstituts, Yohanan Plessner, sieht | |
politische Blockaden bereits programmiert: „Es wimmelt von gegenseitigen | |
Kontrollmechanismen und Formalitäten bei wenig inhaltlicher Substanz“, so | |
sein Urteil. Gleichzeitig aber könnten vom Likud angestrebte | |
antidemokratische Gesetze verhindert werden, etwa eine Entmachtung des | |
obersten Gerichtshofes. | |
Die Vereidigung der neuen Regierung ist für den 4. Mai vorgesehen. 32 | |
Ministerposten sind für die erste Phase vorgesehen, vier weitere sollen | |
nach Ende der Coronakrise hinzukommen. Jedem Block fällt jeweils die Hälfte | |
der Ministerposten zu. | |
Eine Einigung fanden Netanjahu und Gantz in Sachen [3][Annexion von Teilen | |
des besetzten Westjordanlandes]. Ab dem 1. Juli darf Netanjahu dem | |
Parlament einen Plan vorlegen, die israelischen Siedlungen sowie [4][das | |
Jordantal] – wie im umstrittenen [5][Nahostplan von US-Präsident Donald | |
Trump] vorgesehen – unilateral zu annektieren. Vorausgesetzt wird | |
lediglich, dass die US-Regierung zustimmt. Gantz und sein Blau-Weiß-Bündnis | |
haben zugesichert, nicht gegen den Schritt zu stimmen. | |
Ein weiterer Streitpunkt war die [6][Ernennung von Richtern]. Laut dem | |
gefundenen Kompromiss wird nun Zvi Hauser, ein Blau-Weiß-Abgeordneter vom | |
rechten Flügel, in das parlamentarische Komitee zur Ernennung von Richtern | |
geschickt. Mit ihm würde es in dem einflussreichen Gremium eine rechte | |
Mehrheit geben. | |
## Eine vierte Wahl ist noch nicht vom Tisch | |
Die größte Sorge Netanjahus aber war wohl eine persönliche: Es ist ein | |
offenes Geheimnis, dass der eigentliche Grund für das mehrmalige Scheitern | |
der Regierungsgespräche [7][der anstehende Gerichtsprozess] gegen ihn war. | |
Er ist wegen Betrug, Untreue und Bestechung angeklagt. Gantz hatte gedroht, | |
ein Gesetz ins Parlament zu bringen, die es einem Angeklagten unmöglich | |
macht, als Ministerpräsident zu dienen. Angesichts der Aussicht auf eine | |
Einheitsregierung hat er davon nun abgesehen. | |
Doch noch steht eine Entscheidung des obersten Gerichtshofes in dieser | |
Frage aus. Der hat am Dienstag drei Petitionen erhalten, deren Verfasser | |
mit jeweils unterschiedlichen juristischen Begründungen fordern, dass | |
Netanjahu aufgrund der Anklage nicht als Ministerpräsident tätig sein darf. | |
Allerdings hat Netanjahu auch hier Vorsorge getroffen: Sollte das Gericht | |
entscheiden, dass er das Amt des Ministerpräsidenten tatsächlich nicht | |
bekleiden darf, so dürfte laut der am Montag getroffenen Vereinbarung auch | |
Gantz nicht Ministerpräsident werden. Dann müsste sich die Knesset wohl | |
auflösen und es käme zu einer vierten Parlamentswahl seit April 2019. | |
Netanjahu hofft, mit diesem Schreckensszenario eine Entscheidung des | |
obersten Gerichtshofes zu seinen Ungunsten verhindern zu können. | |
21 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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