| # taz.de -- Ehemalige Kulturhauptstädte: Gemischte Bilanz | |
| > Der Titel Kulturhauptstadt ist begehrt. Die bulgarische Stadt Plowdiw | |
| > trug ihn 2019 und gewann an Beliebtheit. Doch nicht alle Viertel | |
| > profitierten. | |
| Bild: Plowdiw, 2019, Straßenszene im Romaviertel Stolipinowo | |
| Plowdiw, Bulgarien. Streunende Hunde und Katzen suchen im Müll auf den | |
| Brachflächen zwischen verfallenden Wohnblocks nach Fressbarem. Dazwischen | |
| spielen Kinder. An der löchrigen Durchgangsstraße der Roma-Siedlung | |
| Stolipinowo am Stadtrand von Plowdiw stehen Männer hinter Bergen von | |
| Hausrat, den sie hier verkaufen wollen. Die Geschäfte laufen schlecht. Das | |
| Angebot an billigen Klamotten, alten Waschmaschinen, Putz- und Waschmitteln | |
| ist größer als die Nachfrage. | |
| 2019 trug Bulgariens zweitgrößte Stadt Plowdiw als erste im Land den Titel | |
| „Europäische Kulturhauptstadt“. Die Stadt ließ ihr historisches Zentrum | |
| herausputzen, die Altstadt aus osmanischer Zeit ist ebenso renoviert wie | |
| die antike Arena und die Reste einer römischen Wagenrennbahn. | |
| Auch die Menschen in Stolipinowo, dem größten Romaviertel auf dem Balkan, | |
| sollten vom Kulturhauptstadtprogramm profitieren. Ein deutscher Architekt | |
| plante eine Brücke über das Flüsschen am Rande des Viertels, um die | |
| Bewohnerinnen und Bewohner mit der Stadt zu verbinden. „90 Prozent der | |
| Plowdiwer*innen waren noch nie in Stolipinowo“, schätzte 2019 der | |
| Schriftsteller und politische Aktivist Manol Peykov. Wie viele in seiner | |
| Heimatstadt freute er sich über den Kulturhauptstadt-Titel, warnte aber vor | |
| hohen Erwartungen. | |
| Inzwischen hat zumindest die Veranstalterin des Kulturhauptstadtjahrs, die | |
| Stiftung Plowdiw 2019, eine positive Bilanz gezogen. Im | |
| Kulturhauptstadtjahr sei die Zahl der ausländischen Besucher*innen der | |
| Stadt um 27 Prozent gestiegen. Aus Bulgarien seien dreimal so viele Gäste | |
| gekommen wie 2017. Allein mit diesen hätten Unternehmen der Stadt 2019 | |
| einen Umsatz von 400 Millionen Lewa (rund 204 Millionen Euro) | |
| erwirtschaftet. Plowdiw habe sich 2019 mit 320 Projekten und etwa 900 | |
| Veranstaltungen „auf die europäische Kultur-Landkarte gesetzt“. Auch in der | |
| Stadt selbst kam das Programm überwiegend gut an. | |
| 92 Prozent der Plowdiwer*innen gaben in einer Umfrage nach dem | |
| Kulturhauptstadtjahr an, sie seien „stolz auf ihre Stadt“ und 43,3 Prozent | |
| verstünden sich als „Bürger*innen Europas“. Die Zahl der Unternehmen im | |
| Kreativsektor ist nach Angaben der Plowdiw 2019-Stiftung um ein Viertel | |
| gestiegen, die Zahl ihrer Angestellten um 16 Prozent. | |
| ## Das kulturelle Leben blüht auf | |
| Vor allem das kreative Innenstadt-Viertel Kapana boomt. 2012 hatte die | |
| Stadt beschlossen, das verfallene und fast verlassene ehemalige | |
| Handwerkerviertel am Rande der Innenstadt wieder zu beleben. Sie begann, | |
| leer stehende Läden in den zwei- und dreistöckigen Häusern für ein Jahr | |
| kostenlos an Unternehmensgründer zu vergeben. Viele renovierten selbst, | |
| eröffneten Kneipen, Clubs, Restaurants, Imbisse, Designerläden, Boutiquen | |
| oder Geschäfte für ausgefallene Souvenirs. Das Konzept ging auf. An den | |
| Wochenenden ist die Kapana voll. Die Leute kommen bis aus Sofia zum | |
| Einkaufen, Feiern, Entspannen, Musik hören und wegen der Kunst. Valizar zum | |
| Beispiel hat zusammen mit seinen Eltern eine Bar aufgemacht und den | |
| Kellerraum zur Galerie umgebaut. Viele Ausstellungen kuratiert er bewusst | |
| nicht. Gezeigt wird, was die Künstler bringen. | |
| Neben der Kunst lockt die Musik Besucher in die Kapana. Gleich am Eingang | |
| des Kreativquartiers hat sich Asiya ihren Traum erfüllt: Die begeisterte | |
| Swingtänzerin kündigte ihren gut bezahlten Job als Anwältin in Sofia, um | |
| hier die erste Swing-Bar des Landes zu eröffnen. In dem stylish-modernen | |
| Raum mit viel Holz und Stahl serviert ihre Mannschaft Cocktails nach den | |
| Originalrezepten aus den USA. Asiya organisiert das jährliche Swingfestival | |
| mit zuletzt mehr als 800 Gästen, das nun Teil des offiziellen | |
| Kulturhauptstadt-Programms ist. Jeden Donnerstag lädt sie zur Swing Dance | |
| Night in ihre Bar. „Die Leute sind oft so begeistert, dass sie auf der | |
| Straße weiter tanzen“, erzählt die Gründerin. | |
| Plowdiw habe sich seit der Wahl zur Europäischen Kulturhauptstadt zum | |
| Positiven verändert: „Die Leute renovieren und dekorieren ihre Häuser“, | |
| schwärmt die Frau mit den langen dunklen Haaren und den knallrot | |
| geschminkten Lippen. „Überall eröffneten Kneipen und Läden.“ Es gebe imm… | |
| mehr Kulturveranstaltungen und die Einheimischen hätten enorm an | |
| Selbstvertrauen gewonnen. Damit erfüllt zumindest die Kapana in Plowdiw die | |
| Ziele einer Europäischen Kulturhauptstadt: Bürger*innen-Beteiligung, | |
| Demokratisierung, Selbstermächtigung und Vernetzung europäischer | |
| Kulturräume. | |
| ## Schub für die Zivilgesellschaft | |
| Seit 1985 verleiht die Europäische Kommission Städten und inzwischen auch | |
| Regionen für jeweils ein Jahr den Titel „Kulturhauptstadt Europas“. Die | |
| Initiative soll den „Reichtum und die Vielfalt der Kulturen in Europa“ | |
| zeigen. Außerdem soll das „Wir“-Gefühl in der EU gestärkt und die | |
| Entwicklung von Städten unterstützt werden. 2025 wird Chemnitz für | |
| Deutschland Kulturhauptstadt Europas. Magdeburg, Hannover, Hildesheim und | |
| Nürnberg sind vergangenes Jahr in der Endauswahl gescheitert. | |
| Die Städte stecken viel Geld in ihre Bewerbungsschreiben, die sogenannten | |
| Bid Books. Sie hoffen durch den Titel auf einen Imagegewinn, internationale | |
| Aufmerksamkeit und Touristen, die Einnahmen bringen. In Liverpool, Linz, | |
| dem Ruhrgebiet und vielen weiteren Städten und Regionen ist die Rechnung | |
| aufgegangen. | |
| Auch für Plowdiw hat sich die europäische Initiative gelohnt, findet die | |
| PR-Beraterin für Kulturprojekte und freie Mitarbeiterin der | |
| deutsch-bulgarischen Handelskammer Marina Tscholakowa. Die | |
| Kulturschaffenden träten heute selbstbewusster auf. Von der schwerfälligen | |
| Politik im Land und in der Region ließen sie sich nicht mehr so schnell | |
| abwimmeln. Die Kluft zwischen Politik und engagierten Bürger*innen sei | |
| kleiner geworden, das Interesse an bürgerschaftlichem Engagement gewachsen. | |
| Geholfen habe dabei auch die Vernetzung der lokalen Kulturszene mit Aktiven | |
| in anderen europäischen Ländern. Auch das Interesse an | |
| Kulturveranstaltungen sei gestiegen, Konzerte und andere Events anders als | |
| früher schnell ausverkauft. Marina Tscholakowa setzt sich in einer | |
| Bürgerinitiative für den Bau des seit langem geplanten Opernhauses in | |
| Plowdiw ein. | |
| ## Roma bleiben ausgegrenzt | |
| Doch der Schwung der Kulturhaupstadt ist längst nicht überall angekommen. | |
| Im Roma-Stadtteil Stolipinowo haben sich die Lebensbedingungen kaum | |
| verändert. Nach wie vor leben Menschen dort in verfallenden Wohnblocks aus | |
| den frühen 70er Jahren, manche davon ohne Fenster. Aus einem Abflussrohr | |
| läuft das Abwasser in den Keller, wo es sich stinkend staut. „Kaputt, alles | |
| kaputt“, schimpft einer der Bewohner in gebrochenem Deutsch. Er hat wie | |
| viele hier eine Zeit lang auf Baustellen im Ruhrgebiet gearbeitet. Niemand | |
| kümmere sich um die Häuser, obwohl sie doch der Stadt gehörten. | |
| Selbst verstehen sich die meisten bulgarischen Roma als Teil der türkischen | |
| Minderheit im Land. Sie sprechen einen eigenen türkischen Dialekt und | |
| schauen vor allem türkisches Fernsehen. | |
| Marina Tscholakowa sieht die Versäumnisse der Stadt und die Ausgrenzung der | |
| Roma. Viele in Plowdiw wollen mit den „Zigeunern“ nichts zu tun haben. Ihre | |
| Bürgerinitiative versucht, wie andere Projekte „Anstöße“ für die | |
| Integration der Minderheit zu geben. Da sei „einiges passiert, aber nicht | |
| mit dem erwarteten Erfolg“. Vieles scheitere auch an der fehlenden Bildung. | |
| Viele Roma-Kinder gehen nicht zur Schule. | |
| Zahlreiche Eltern verheiraten ihre Töchter mit 13, 14 oder 15 Jahren. | |
| Gründe gibt es viele: Mangelnde Einsicht in den Nutzen von Bildung, Mobbing | |
| und Diskriminierung in der Schule oder Lehrkräfte, die Roma-Kinder abwerten | |
| und benachteiligen, autoritäre Strukturen in Familien. „Um sich als Subjekt | |
| zu begreifen, braucht man selbstkritisches Denken, und das erfordert | |
| Bildung“, sagt Tscholakowa. Bei der Roma-Minderheit werde dieser Prozess | |
| „noch Generationen“ dauern. Daran kann auch ein Kulturhauptstadtjahr wenig | |
| ändern. | |
| 21 Sep 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Fishman | |
| ## TAGS | |
| Reisen in Europa | |
| Europäische Kulturhauptstadt | |
| Reiseland Bulgarien | |
| Europäische Kulturhauptstadt | |
| Europäische Kulturhauptstadt | |
| Reiseland Serbien | |
| Chemnitz | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kulturhauptstadt Europas 2024: Viel Pfeffer im Salzkammergut | |
| Mit Bad Ischl stellt Österreich seine dritte Europäische Kulturhauptstadt. | |
| Die Misstöne vorab wurden von der vielversprechenden Eröffnung übertönt. | |
| Kulturhauptstadt Kaunas: Das Badehaus inmitten der Stadt | |
| 2022 ist das litauische Kaunas europäische Kulturhauptstadt und sucht eine | |
| neue Identität. Zusätzlich findet eine Biennale statt. | |
| Europäische Kulturhauptstadt: Kai der Opfer | |
| Das schöne Novi Sad ist Europäische Kulturhauptstadt 2022. Die serbischen | |
| Ausrichter kehren unschöne Seiten der Stadt aber lieber unter den Teppich. | |
| Europäische Kulturhauptstadt 2025: Alle Zweifel ausgeräumt | |
| Nach Querschüssen aus Bayern war die Nominierung von Chemnitz als | |
| Europäische Kulturhauptstadt unsicher. Die Konferenz entschied nun | |
| einstimmig. |