# taz.de -- EU-Binnenmarkt nach dem Brexit: Der Herr der Heringe | |
> Boris Johnson tut gern so, als ginge es beim Brexit um die Fischerei. Das | |
> ist Quatsch, nützt aber auch der EU. | |
Bild: Zeigt sich gern mit großen Fischen: Boris Johnson im Wahlkampf 2019 | |
Beim [1][Brexit] wird es jetzt spannend. Die Briten haben definitiv | |
entschieden, dass sie Ende 2020 aus dem EU-Binnenmarkt ausscheiden und die | |
„Übergangsphase“ nicht verlängern. Bisher erinnerte der Brexit an eine | |
Bildstörung im Fernsehen: Es ging weder vorwärts noch zurück. Doch nun hat | |
der [2][britische Premier Boris Johnson] endgültig die Forward-Taste | |
gedrückt. | |
Großbritannien verabschiedet sich zu Silvester komplett aus der EU, obwohl | |
noch ziemlich nebulös ist, wie es ab Neujahr weitergehen soll. Das ist | |
mutig, um es freundlich zu sagen. Rechtlich bindend ist bisher nur das | |
Austrittsabkommen, mit dem die Briten die EU verlassen haben. Der | |
wichtigste Punkt ist dort: Drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien | |
sowie mehr als eine Million Briten in der EU können beruhigt sein, dass | |
sich für sie nichts ändert. | |
Sie dürfen weiterhin am Ort ihrer Wahl leben und arbeiten, dürfen ihre | |
Familien nachholen und nicht diskriminiert werden. Im Austrittsabkommen | |
wurde zudem das leidige [3][Nordirland]-Problem vom Tisch geräumt. Auf der | |
grünen Insel wird es keine Zollgrenze geben, die den Norden vom Süden | |
trennt. Stattdessen bleibt das britische Nordirland faktisch im | |
EU-Binnenmarkt, gehört aber gleichzeitig zum britischen Zollgebiet. | |
Damit nicht einfach Waren von Großbritannien über Nordirland in die EU | |
gelangen können, werden die nötigen Kontrollen von britischen Zöllnern in | |
den nordirischen Häfen vorgenommen. Die EU ist den Briten damit weit | |
entgegengekommen, wird doch eine hoheitliche Aufgabe – der Zoll – an einen | |
Drittstaat abgetreten. Dieses Austrittsabkommen wurde von einer | |
„politischen Erklärung“ begleitet, die Johnson zwar unterschrieben hat, die | |
aber rechtlich nicht bindend ist. | |
## Europa traut den Briten nicht | |
Deswegen nützt es den Europäern nicht viel, wenn in dem Text mehrmals | |
versichert wird, dass man gemeinsam einen „fairen Wettbewerb“ anstrebe (a | |
level playing field). Dies sind nur Worte. Am Ende entscheidet das | |
Handelsabkommen – das es noch nicht gibt und um das nun gerungen wird. | |
Viele Briten verstehen nicht, warum die Europäer so dringend auf dem „level | |
playing field“ beharren. Traut man den Briten etwa nicht? Nein. Das ist | |
leider die harte Antwort. | |
Die Europäer fürchten, dass die Briten auf gezieltes Steuerdumping setzen | |
könnten, um lukrative Großkonzerne abzuwerben. Die Europäer haben die | |
Drohung nie vergessen, mit der [4][Ex-Premierministerin Theresa May] im | |
Frühjahr 2017 in die Brexit-Verhandlungen startete. | |
In ihrer Grundsatzrede erwähnte May ausdrücklich die „Freiheit“ der Brite… | |
„kompetitive Steuersätze festzulegen und politische Instrumente | |
einzusetzen, die die besten Unternehmen und größten Investoren der Welt | |
nach Großbritannien locken würden“. Diese Drohung war nicht nur | |
diplomatisches Geplänkel, sondern dürfte ernsthafte Absichten beschreiben. | |
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Briten Unternehmen aus Europa abwerben | |
wollen. Da reicht schon ein Blick in die Statistiken: | |
Großbritannien lebt über seine Verhältnisse. Es konsumiert mehr, als es | |
sich leisten kann. 2019 importierten die Briten Waren im Wert von 501 | |
Milliarden Pfund, aber sie exportierten Güter für nur 372 Milliarden. | |
Bisher ließ sich dieses gigantische Minus im Warenhandel leidlich | |
finanzieren, weil die Briten bei den Dienstleistungen ein Plus von 106 | |
Milliarden erwirtschafteten. Dahinter verbargen sich vor allem die | |
Aktivitäten am Finanzplatz London. | |
## Mehr Import als Export | |
Doch ausgerechnet diese lukrativen Finanzgeschäfte werden durch den Brexit | |
teilweise wegfallen, denn für die Banken aus Asien oder den USA war es vor | |
allem deswegen attraktiv, sich in London anzusiedeln, weil Großbritannien | |
zur EU gehörte. Doch sobald die Briten aus dem Binnenmarkt ausscheiden, | |
müssen die internationalen Banken neue Tochterinstitute auf dem | |
europäischen Kontinent gründen, wenn sie weiterhin Geschäfte in der EU | |
tätigen wollen. | |
Bankexpertin Dorothea Schäfer schätzt daher, dass der Finanzplatz London um | |
30 Prozent schrumpfen dürfte. Es wird also ungemütlich für die Briten: Ihre | |
Exporte reichen sowieso nicht, um die Importe zu bezahlen – und künftig | |
dürfte dieses Loch noch größer sein, weil ein Teil der | |
Finanzdienstleistungen wegfällt. Da liegt es nahe, aggressiv um | |
ausländische Unternehmen zu werben. Die EU wiederum will genau dies | |
verhindern und Steuerdumping oder andere Tricks ausschließen. | |
Das Thema „level playing field“ dürfte daher darüber entscheiden, ob es zu | |
einem Handelsvertrag kommt oder ob Großbritannien einen „harten Brexit“ | |
vollzieht und den Binnenmarkt ohne Abkommen verlässt. Während hinter den | |
Kulissen um das Wesentliche gestritten wird, läuft auf der Bühne die Show | |
fürs Publikum. | |
Briten und EU tun so, als ginge es beim Brexit ganz zentral um die | |
Fischereirechte. Bisher gilt in der EU ein kompliziertes System von | |
Fangquoten, künftig wollen die Briten ihre Meeresgebiete allein befischen. | |
Beim Getöse um diesen Konflikt könnte man meinen, dass Millionen von | |
Arbeitsplätzen in Gefahr seien. Es wären aber wohl nur etwa 100 Jobs, die | |
auf deutschen Booten verloren gingen. Denn es gibt hierzulande überhaupt | |
nur sieben Schiffe, die Hochseefischerei betreiben. | |
## Nur noch sieben deutsche Hochseeschiffe | |
Zudem sind nicht alle sieben in britischen Gewässern unterwegs, weil es | |
auch noch Fanggebiete vor Norwegen, Spitzbergen, Island, Grönland, | |
Westafrika und im Südpazifik gibt. Übrigens ist es in Großbritannien | |
ähnlich: Auch dort ist die Fischindustrie weitgehend bedeutungslos und | |
macht nur 0,12 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Trotzdem ist es kein | |
Zufall, dass nun ständig über die Fischerei geredet wird. | |
Bei diesem Thema ist ein Kompromiss einfach, der sich dann als großer Sieg | |
für die Briten verkaufen ließe. Johnson wäre der Herr über Hering und | |
Kabeljau und könnte damit verbrämen, dass die EU ein „level playing field“ | |
durchgesetzt hat. | |
25 Jun 2020 | |
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[3] /Nordirland-nach-der-UK-Wahl/!5649800&s=nord+irland/ | |
[4] /Theresa-May-als-Krimiautorin/!5626893&s=theresa+may/ | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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