# taz.de -- Dokumentation „Leaving Neverland“: Kein Weg zurück ins Neverla… | |
> In der vierstündigen Doku erzählen zwei Betroffene, wie Michael Jackson | |
> sie missbraucht haben soll – ohne Gegenstimmen. Was muss nun daraus | |
> folgen? | |
Bild: Die Neverland-Ranch des verstorbenen Musikers Michael Jackson | |
In Deutschland gibt es drei Michael-Jackson-Gedenkbäume, sie stehen in | |
Berlin, Köln und Leipzig. Auch unweit des Kempinski-Hotels in Budapest | |
wurde eine hochgewachsene Linde über und über von Fans mit | |
selbstgezeichneten Bildern, Postkarten und Fotos behängt. Sie zeigen | |
Michael Jackson in verschiedenen Status seiner Karriere, und den | |
dazugehörigen Looks. | |
Auf einem Bild hält jemand das Cover einer Extra-Ausgabe der „Santa Maria | |
Times“ vom 13. Juni 2005 in die Kamera, darauf prangt in riesigen Lettern | |
die Schlagzeile: „NOT GUILTY ON ALL COUNTS“ (dt. unschuldig in allen | |
Anklagepunkten). Im Jahr 2005 wurde Michael Jackson das letzte Mal wegen | |
Kindesmissbrauchs angeklagt, zuvor, 1993, hatte es schon einmal eine | |
Anzeige gegeben – der Zahnarzt und Drehbuchautor Evan Chandler hatte den | |
King of Pop beschuldigt, seinen damals 13-jährigen Sohn Jordy sexuell | |
missbraucht zu haben. | |
In dem Fall einigte man sich außergerichtlich – angeblich, der 2009 an | |
[1][einer Überdosis Propofol verstorbene Jackson] hatte dies nie bestätigt, | |
erhielten Jordy und sein Vater als Gegenzug eine Zahlung über 22 Millionen | |
US-Dollar. Evan Chandler hatte sich nach dem Prozess einer Reihe von | |
kosmetischen Gesichtsoperationen unterzogen, um, wie er sagte, nicht der | |
Rache wütender Jackson-Fans ausgesetzt werden zu können. | |
Denn diese Jackson-Fans sind eine Großmacht. Die momentan befürchtet, dass | |
es ein für allemal vorbei sein könnte mit ihrem Star, [2][mit den Fanclubs, | |
den Bäumen, Statuen, dem Merchandising] – vor allem aber der Musik, die | |
seit Jahrzehnten zum Kulturgut unserer Erde gehört. | |
## Zwei Betroffene erzählen von ihren Traumata | |
Schon im Vorfeld der Ausstrahlung von Dan Reeds zweiteiliger Produktion | |
„Leaving Neverland“ am letzten Wochenende bei HBO war bekannt geworden, | |
dass darin zwei angebliche ehemalige Betroffene Jacksons sowie ihre | |
Familien umfassend zu Wort kommen würden. Auf der ganzen Welt nahmen | |
Radiosender „vorsorglich“ Jackson-Songs „für einige Zeit“ aus dem Prog… | |
– mit der offenen Frage, unter welchen Umständen man sie denn wieder | |
spielen würde: Wenn sich die Wogen geglättet hätten? Wenn die | |
Jackson-Erben, die HBO auf 100 Millionen Dollar verklagen, und den | |
Porträtierten in Reeds Film (und sämtlichen anderen vorherigen Klägern) als | |
Motiv Geldgier vorwerfen, Recht bekämen? | |
James Safechuck und Wade Robson, die beiden Protagonisten, waren bereits | |
2013 und 2014 mit ihren Vorwürfen vor Gericht gegangen – und wurden | |
abgewiesen, weil die Jackson-Erben nicht „für mögliche Verfehlungen des | |
Künstlers haftbar zu machen seien“. Im Film erzählen die Männer, die zu | |
Beginn der von ihnen beschriebenen Vorfälle sieben und zehn Jahre alt | |
waren, von den Spätfolgen ihrer körperlichen Traumata. | |
Beide hatte Jackson, laut ihrer Aussage, über Jahre hinweg geduldig und | |
perfide (und typisch für einen Missbrauchstäter) in ein unentrinnbares Netz | |
aus behaupteter Freundschaft, Geheimnissen, Intimität, Geschenken und | |
schließlich sexuellem Missbrauch verstrickt. Beide hatte er, der damals 30 | |
Jahre alt war, davon überzeugt, das, was sie in verschiedenen Räumen und | |
Häusern des Neverland-Wahnsinns, in Hotelzimmern (Safechuck war lange Zeit | |
als kindlicher Tänzer mit Jackson auf Tournee) und Wohnungen an Tortur | |
erleben mussten, gehöre zu ihrer besonderen Freundschaft, sei ein | |
spezieller Ausdruck der gegenseitigen Zuneigung. Beide waren verliebt in | |
ihr Idol Jackson – so sehr, dass sie sich selbst gegenüber auch als | |
Erwachsene lange nicht eingestehen konnten, was wirklich passiert ist. | |
Beide hatten sogar im Prozess gegen Jackson 2005 zu seinen Gunsten | |
ausgesagt. Und bei beiden spielte das Vertrauen und die Unterstützung der | |
Familie bei diesem angeblich großangelegten Verbrechen eine wichtige Rolle. | |
Die Szenen im Film, in denen die Mütter von Robson und Safechuck von ihrer | |
unfassbaren Starhörigkeit sprechen, von ihrer Liebe zu Jackson, den sie | |
„wie einen eigenen Sohn“ behandelten, von ihrer Arglosigkeit auch | |
angesichts der Tatsache, dass ihr Sohn beim Besuch in Jacksons Zimmer | |
übernachtete, sind, genauso wie die detaillierten Schilderungen der Männer, | |
kaum zu ertragen. Erst als Safechuck und Robson selbst Väter wurden, so | |
erzählen sie, brachen die Wunden auf. Depressionen und Zusammenbrüchen | |
folgte die Aufarbeitung, erst der Männer, dann derer Familien. | |
## Und wie geht's jetzt weiter? | |
Mit Jackson muss es also, eine andere Schlussfolgerung lässt die | |
erschütternde Produktion nicht zu, nun zu Ende sein. Bäume, Statuen, | |
Erinnerungen müssen gekappt oder zum Mahnmal umgewandelt, die Tonträger | |
verbannt, ein großer Teil der kollektiven (Pop-)Kultur unter neuen | |
Vorzeichen gesehen werden. Man muss Jackson, den Menschen, in die Hölle | |
verdammen, wenn alles so stimmt, wie die beiden es berichten, wie es auch | |
andere mutmaßliche Opfer vor ihnen bereits berichtet haben. | |
Der zweiteilige, im Ganzen vierstündige Film ist im journalistischen Sinne | |
keine Dokumentation, weil er eine eindeutige und damit einseitige | |
Regiehaltung vertritt, und Gegenstimmen oder –positionen nicht zulässt. | |
Damit stellt er ein unlösbares Dilemma dar: Es gibt wegen der Verjährung | |
der Vorfälle für die beiden Ankläger keine Chance, ein gerichtliches Urteil | |
zu ihrer oder Jacksons Glaubwürdigkeit zu erlangen. Somit bleibt ihnen zur | |
Verbreitung ihrer Wahrheit nur der Gang an die Öffentlichkeit – und die | |
Nutzung dieser schockierten Öffentlichkeit als Richterin. Doch die | |
Öffentlichkeit, weder die Fans, noch die Unparteiischen, kann und darf | |
nicht richten: Sie ist schlichtweg nicht in der Lage dazu. | |
Natürlich nimmt einen der Film mit seinen offenen, mit Musik unterlegten, | |
intimen Interviews mit. Dan Reed lässt 40 Minuten vergehen, in denen die | |
Männer vom immer stärker werdenden Band, gar vom „bonding“ sprechen, das | |
genaues Bild ihrer bis ins Mark geschmeichelten Familien zeichnen. Sie | |
sahen in Jackson den Retter aus der Normalität, der Mittelmäßigkeit, dem | |
Kleinstadtleben. Erst dann erzählt Safechuck, wie Jackson ihn, den kleinen | |
Jungen, mit Masturbation vertraut machte. Und atemlos spielen die Geigen | |
ihr leises Tremolo, wenn Wade Robson das erste Mal im Detail vom Missbrauch | |
berichtet. Mit seinem Spannungsbogen macht Dan Reed die ZuschauerInnen zu | |
mitleidigen, geschockten MitwisserInnen, die nicht anders können, als den | |
Protagonisten zu glauben. Und die es eh geahnt haben, dass Jackson, der | |
sichtbar kaputte Star ohne Kindheit, ein pädophiler Mann ist, der ein | |
pädophiler Täter wurde. | |
## Kein Urteil ohne juristische Auseinandersetzung | |
Doch ein Film, der keine Gerichtsverhandlung ist, keine um Ausgewogenheit | |
bemühte Recherche in alle Richtungen – Reed verzichtet komplett darauf, | |
andere Beteiligte zu Wort kommen zu lassen, und legt in dem Off-Text-freien | |
Stück auch nicht dar, ob er sie überhaupt angefragt hat -, ein solcher Film | |
darf nicht ein Urteil fällen, bevor es eine juristische Auseinandersetzung | |
gab. So elementar das Aufklären eines solchen Verbrechens ist, und so | |
relevant es für die mutmaßlichen Betroffenen ist, darf der Weg nicht als | |
erstes über die Öffentlichkeit gehen. | |
Robson und Safechuck planen angeblich, gegen das Abschmettern ihrer Klage | |
in Berufung zu gehen – darauf hätten HBO und Dan Reed warten müssen. Auch | |
bei einem monumentalen Fall wie dem King of Pop muss gelten, was für jedeN | |
andereN mutmaßlicheN TäterIn in jedem anderen Bereich gilt: Eine | |
demokratische Gesellschaft muss sich auf die Rechtsprechung verlassen. | |
Amerikas bekannteste [3][TV-Talkerin Oprah Winfrey], die die beiden | |
Protagonisten nach der Ausstrahlung des zweiten Filmteils vergangene in | |
ihre Sendung einlud, schien das übrigens bedacht zu haben – zwar gab sie | |
ihnen die Chance, ihre Anschuldigungen vor einem Millionenpublikum live zu | |
wiederholen. Doch sie selbst hielt sich mit Aussagen zurück. Von den | |
empörten Jackson-Fans wird ihr neben Kompromittierung nun vor allem | |
Treuelosigkeit vorgeworfen – Winfrey war bislang mit der Jackson-Familie | |
befreundet. | |
Wie man, nach der Ausstrahlung des Films und den ihn begleitenden | |
Konsequenzen, nun mit Michael Jacksons Musik verfährt, ist Teil eines | |
anderen Problems, das nicht erst seit der [4][MeToo-Debatte], aber infolge | |
dessen besonders deutlich wurde: Kann, darf, soll man Kunst und KünstlerIn | |
trennen? Wird es Jackson noch im Radio, in Playlists, bei | |
Thriller-Flashmobs, auf Partys, im Leben der Menschen geben? Ignorieren | |
kann man sein Oevre nicht. Es muss sich wohl jedeR selbst eine Haltung | |
überlegen. Vielleicht werden im Zuge der folgenschweren Geschichte auch | |
Bäume gefällt. Nach Neverland führt jedenfalls kein Weg zurück. | |
9 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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