# taz.de -- Die Brückenspringer von Mostar: „Du zahlst, ich springe“ | |
> Die Brücke von Mostar in Bosnien-Herzegowina galt als Sinnbild der | |
> multiethnischen Stadt. Für Edi Fink bietet sie die Möglichkeit, Geld zu | |
> verdienen. | |
Bild: Sie springen für die Touristen und manchmal brechen die Knochen. | |
MOSTAR taz | Turmhoch über dem Fluss, im Herzen der Altstadt von Mostar, | |
klettert ein junger Mann in roten Badehosen auf die Brüstung der Alten | |
Brücke. Er balanciert flink wie ein Lemur über das Geländer, in der | |
ausgestreckten Hand eine Mütze, und sagt: „Lass mich in Ruhe, wenn du nicht | |
zahlen willst. Du störst mein Business.“ | |
Vor ihm hat sich eine dichte Menge versammelt, Japanerinnen mit | |
aufgespannten Regenschirmen, spanische Reisegruppen, australische | |
Backpacker; sie drängen näher, halten Kameras hoch, und sie alle wollen nur | |
eins: Sehen, wie Ermin Sarics dünner Leib 25 Meter in die Tiefe stürzt. | |
„Ich springe jeden Tag, fünfmal, zehnmal. Das ist meine Arbeit: Du zahlst, | |
ich springe.“ | |
Ringsum brät die Stadt in der Glut des Mittags. Stari Most, die Alte | |
Brücke, schlägt einen hohen Bogen über das türkisgrüne eiskalte Wasser der | |
Neretva. Die Brücke, ein Wunderwerk der osmanischen Baukunst, wurde 1566 | |
errichtet. Rechts und links winden sich enge Gassen zwischen geduckten | |
Steinhäusern. Es ist dieses Panorama, weswegen die Urlauber in die | |
110.000-Einwohner-Stadt strömen. | |
Aber abseits der aufwändig restaurierten Altstadt sind viele Läden leer und | |
verrammelt; da und dort ragen ausgebombte Ruinen auf. 19 Jahre nach dem | |
Ende des Bürgerkriegs liegt die Wirtschaft am Boden; Bosnien und | |
Herzegowina zählt zu den ärmsten Ländern Europas. Zwei von fünf Menschen | |
sind arbeitslos; bei den Jugendlichen ist es sogar mehr als jeder zweite. | |
In der Altstadt ist es voll, laut und bunt wie in einem Vergnügungspark. | |
Die Springer stürzen sich im Akkord in den Fluss. Was für die Urlauber nach | |
Spaß und Übermut aussieht, ist ein Knochenjob. Sechs Männer in Mostar | |
arbeiten auf der Stari Most, sie wechseln sich in zwei Gruppen einen Tag um | |
den anderen ab, immer von morgens um neun bis abends um acht. | |
## Das beste Gefühl der Welt | |
Edi Fink, 20 Jahre, blond und braungebrannt, hat gerade einen Sprung hinter | |
sich. Er kommt tropfnass zurück auf die Brücke. Im Erdgeschoss des | |
ehemaligen Wachturms liegt der „Divers’ Club“, eine Art Vereinsheim für … | |
Springer. Über eine Stiege geht es hoch zu einem kleinen Café. Fink hockt | |
sich an einen der Tische. Er stammt aus einer Familie, in der es seit | |
Generationen prominente Brückenspringer gibt. Er war 14, als er seinen | |
ersten Sprung wagte; sein Vater hat ihn trainiert. „Es war der größte | |
Moment meines Lebens, das beste Gefühl auf der Welt.“ | |
Der Kellner, ein schlaksiger junger Mann mit spitzem Kinn, hievt einen | |
dicken Bildband von dem Regalbrett über der Tür: „Die Ikari von Mostar“ | |
lautet der Titel; so werden die Springer genannt, nach Ikarus aus der | |
griechischen Mythologie. Nino Nozice blättert hin und her; historische | |
Aufnahmen sind zu sehen, Ansichten der Brücke, die Springer oben auf der | |
Brüstung. | |
„Die Jungs hier sind immer gesprungen, auch während des Kriegs“, sagt Edi | |
Fink. Der Kellner deutet auf ein Foto aus den 90ern. Wo die Brücke sein | |
sollte, klafft eine Lücke. Während des Kriegs haben bosnisch-kroatische | |
Milizionäre das Bauwerk mit Panzergranaten beschossen, bis es einbrach. In | |
den Jahren danach sprangen die jungen Männer von einem Brett, das an der | |
Klippe für sie montiert war. | |
## Chiffre für den Zerfall | |
Nach dem Ende des Kriegs wurde die Brücke neu aufgebaut, finanziert mit | |
internationalen Geldern. Seit zehn Jahren wird sie wieder benutzt. „Die | |
Brücke ist die wichtigste Sache in Mostar“, sagt Nozice, denn sie zieht die | |
Touristen an, und ohne die Touristen gäbe es keine Arbeit, nicht für ihn | |
und auch nicht für die Springer. Die Stari Most ist symbolisch aufgeladen; | |
sie galt seit je her als eine Verbindung zwischen Ost und West, Christentum | |
und Islam. Dann wurde sie zerstört und damit zu einer Chiffre für den | |
Zerfall Jugoslawiens. Der Wiederaufbau sollte auch ein Sinnbild für die | |
Hoffnung auf Versöhnung sein. | |
Für Nozice und Fink ist sie vor allem eine Möglichkeit, Geld zu verdienen | |
in einem Land, das ihnen sonst kaum Chancen bietet. Von seinem Café aus hat | |
Nozice die Brücke im Blick; die Souvenirshops, die Restaurants an den | |
Hängen. Armut und Hoffnungslosigkeit haben die Stadt verändert, sagt er: | |
„Die Leute sind wie Geister. Wir leben gar nicht mehr richtig, wir | |
existieren nur noch für den Tourismus.“ | |
Unten stolziert Igor Kazic über die Brüstung der Stari Most, sein Kollege | |
Ermin Saric macht mit der Mütze die Runde. Kazic dehnt seine langen Glieder | |
und schließt die Augen. Saric hält den Touristen erneut die Mütze vor die | |
Nase. Kazic wird erst springen, wenn 25 Euro zusammengekommen sind. Dann | |
breitet er die Arme aus wie ein Messias. Saric schreit: „Applaus! Applaus | |
für Igor, den Champion!“ Ein Schritt ins Nichts. Kazic fällt, den Rücken | |
gespannt, die Arme schräg nach oben gereckt. | |
Am Abend wird es ruhiger auf der Stari Most. Kazic, 22 Jahre, hat sich im | |
Divers’ Club niedergelassen. Er ist nahe der Brücke aufgewachsen, viermal | |
hat er die Meisterschaft gewonnen, bei denen die Springer jedes Jahr | |
antreten. Er hat den Turnieren schon als Kind zugeschaut und dachte: Eines | |
Tages werde ich dabei sein. „Wenn du springst, glaubst du zu fliegen. Dann | |
kommt das Adrenalin.“ Nun ist der Rausch für ihn Alltag geworden; 400-, | |
500-mal stürzt er sich jeden Sommer von der Stari Most, schätzt er. | |
Die Tradition der Springer ist fast so alt wie die Brücke selbst. Die | |
Meisterschaft wurde laut den örtlichen Annalen in diesem Jahr zum 447. Mal | |
organisiert. In den Anfangsjahren sprangen die Jungen, um den Mädchen ihren | |
Mut zu beweisen, aber auch damals ging es schon um Geld. Kazic deutet auf | |
auf das Café oben im Turm. „Da oben saßen die reichen Leute und haben | |
Goldmünzen aus dem Fenster geworfen.“ | |
## Er stürzte auf die Felsen | |
Das Risiko ist immer dabei. Die Sonne heizt die Luft oft auf mehr als 40 | |
Grad auf, das Wasser wird nicht wärmer als acht. Der Temperaturunterschied | |
ist ein Schock für Herz und Kreislauf; der Aufprall schadet der | |
Wirbelsäule. Vor einigen Jahren ist einer der Springer ausgerutscht, als er | |
das Geld der Touristen einsammelte. Er stürzte auf die Felsen und brach | |
sich einige Knochen. Herzinfarkte kommen vor, nicht bei den Profis, aber | |
bei Touristen, die sich ohne Vorbereitung herabstürzen, oder bei | |
Betrunkenen. | |
Die Springer trainieren ständig, damit ihr Körper die Belastungen aushält. | |
„Ich hätte gern einen anderen Job“, sagt Kazic, zieht lange an seiner | |
Zigarette. „Aber es ist schwer, einen zu finden. Ich könnte höchstens auf | |
einer Baustelle arbeiten und 20 Euro am Tag verdienen.“ An guten Tagen auf | |
der Brücke kommen rund 100 Euro für jeden der Springer zusammen. | |
Draußen schimmert die Brücke blass im Abendlicht; zwei Frauen balancieren | |
auf Stilettos über den hohen Spitzbogen. Inzwischen gehen die jungen | |
Mostarer wieder in die Bars auf der jeweils anderen Seite des Flusses. Der | |
Krieg hat die Stadt gespalten zurückgelassen. Bis in die 90er Jahre war | |
Mostar in etwa zu gleichen Teilen von Kroaten, Bosniaken und Serben | |
bewohnt. Jetzt gibt es kaum noch Serben. Die Stadt ist geteilt in einen | |
kroatisch-christlich dominierten Westen und einen bosniakisch-muslimischen | |
Osten. Die Brücke verbindet streng genommen nicht die beiden Völker, | |
sondern den muslimischen Osten und eine muslimische Altstadtenklave am Ufer | |
gegenüber. Der christliche Teil beginnt etwas weiter im Westen, hinter dem | |
Boulevard. | |
Entsprechend sind die meisten Springer Bosniaken. Es gibt aber auch ein | |
paar Kroaten darunter. Bis heute sprechen die Menschen nicht gern über den | |
Krieg und seine Folgen. Oben im Turmcafé zieht Edi Fink die Schultern nach | |
oben; er sagt: „Ob Bosniak oder Kroate – das spielt auf der Brücke keine | |
Rolle.“ Aber selbst inmitten des touristischen Getümmels zeichnen sich die | |
Spuren des Konflikts ab; gleich neben dem Divers’ Club steht ein Stein mit | |
der Inschrift: „Don’t forget 93“ – das Jahr, in dem die Brücke zerstö… | |
wurde. Auf der Treppe daneben hat Vanessa Delic ihren Stand aufgebaut; sie | |
verkauft Kühlschrankmagneten in Form der Brücke und Kugelschreiber aus | |
Patronenhülsen. | |
Ihr Mann Admir zählt mit Ende 30 zu den ältesten Springern. „Es ist sehr | |
schlecht für die Gesundheit; der Druck auf die Knochen ist zu stark“, sagt | |
sie. „Bis 45 können sie den Job machen, danach ist Schluss.“ Delic, mit | |
blondiertem Zopf und pink lackierten Nägeln, späht in die Nachmittagshitze | |
und raucht. „Wir überlegen nun, ein Apartment einzurichten und an Touristen | |
zu vermieten.“ | |
## Fick dich, Barcelona! | |
Am nächsten Morgen schiebt sich Ermin Saric durch das Gedränge auf der | |
Brücke. Dann hält er inne; als er vor 13 Jahren mit dem Springen anfing, | |
gab es keine Brücke, nur die provisorische Plattform. Saric, 29 Jahre alt, | |
hat klarblaue Augen, in seinem Mund fehlen ein paar Zähne, auf der Brust | |
trägt er ein tätowiertes Abbild der Stari Most. Er wirft die Arme in die | |
Luft und schreit: „Wozu gab es diesen Krieg? Für nichts! Die normalen Leute | |
hatten nichts davon! Nur Elend und eine kaputte Wirtschaft.“ | |
Die Brücke, sagt er, ist sein zweites Zuhause. Vor vier Jahren hat er hier | |
seine Frau kennengelernt, eine Touristin aus Spanien. Nun lebt das Paar im | |
Sommer in Mostar und im Winter in Barcelona. Im Oktober endet die Saison; | |
dann ist in der Altstadt nicht mehr viel los. Von dem, was sie im Sommer | |
verdient haben, kommen die Springer bis März über die Runden. Manche von | |
ihnen suchen sich Jobs als Tagelöhner, sonst gibt es für sie nichts zu tun. | |
Saric flaniert in den Schatten des Wachturms. „Es gibt keine Wirtschaft, | |
ein Riesenscheiß“, ruft er, „aber ich liebe diese Stadt, wenn ich vier | |
Monate weg bin, halt ich’s nicht mehr aus. Dann sag ich: Fick dich, | |
Barcelona! Ich muss nach Hause.“ Ringsum verdichtet sich der Strom der | |
Touristen allmählich wieder; Saric muss an die Arbeit. Er verschwindet in | |
der Menge und taucht oben auf der Brüstung wieder auf, den Blick zum | |
Horizont gerichtet, den Abgrund im Rücken. | |
20 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Gabriela Keller | |
## TAGS | |
Mostar | |
Bosnien und Herzegowina | |
Bosnien und Herzegowina | |
Film | |
Serbien | |
Flüchtlinge | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar Brüssels Bosnien-Politik: Die EU versagt in ihrem Protektorat | |
Die Wähler in Bosnien sollen „positiven Schwung“ ins Land bringen, fordert | |
die EU – als hätte sie nichts mit der verkorksten Lage zu tun. | |
Kulturszene in Bosnien-Herzegowina: Nicht mehr ihr Land | |
Die Stadt Mostar hatte vor dem Krieg ein reiches Kulturleben. Heute wandert | |
die kreative Szene ab. Daran wird auch die Wahl nichts ändern. | |
Leiter der Sarajevo Film Factory: „Wir zeigen die Leute auf der Straße“ | |
Er hat keine Lust auf glatte Coverbilder: Der Regisseur Béla Tarr über | |
Filmfestivals im Bosnienkrieg, soziale Sensibilität und seine Arbeit als | |
Lehrender. | |
Serbiens Wirtschaft in der Ukraine-Krise: Im Ost-West-Spagat | |
EU-Anwärter Serbien soll sich dem Embargo gegen Russland anschließen. Aber | |
das Land ist von russischer Wirtschaftshilfe abhängig. | |
Bundesamt will strengere Regeln: Zurück auf den Balkan | |
Migrationsbundesamt fordert, Asylbewerbung vom Balkan schneller | |
auszuweisen. Erst so könne man sich um die kümmern, die Schutz dringender | |
brauchen. |