| # taz.de -- Der Fall Duogynon: Wer sich nicht einschüchtern ließ | |
| > Der Pharmakonzern Schering versuchte jahrelang, Kritiker wie den Arzt | |
| > Ulrich Moebius mundtot zu machen. Dies belegen Archiv-Dokumente. | |
| Bild: Ihm ist es mit zu verdanken, dass Duogynon vom Markt genommen wurde: der … | |
| Berlin taz | Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass der Arzt Ulrich | |
| Moebius den Berliner Pharmakonzern Schering 1966 erzürnt verließ. Mit dem | |
| Vorsatz, nichts mehr zu tun haben zu wollen mit der Firma, für die er drei | |
| Jahre gearbeitet hatte. Aber als Ulrich Moebius jetzt, an einem Januarabend | |
| 50 Jahre später, den Telefonhörer abnimmt daheim im Unterfränkischen, da | |
| ist der bald 78-jährige Mediziner schnell bereit, sich doch noch einmal in | |
| Rage zu reden – über „Duogynon, diese Dreckspille“. | |
| Duogynon, das war ein Hormonpräparat, das Schering 1950 auf den Markt | |
| gebracht hatte und bis 1981 unter wechselnden Namen in Europa verkaufte, | |
| gegen Menstruationsbeschwerden und als Schwangerschaftstest. Duogynon, das | |
| war das Medikament, das Ulrich Moebius von 1963 bis 1966 als Verkaufsagent | |
| für Schering in Irland, Österreich und der Schweiz Frauenärzten empfahl. | |
| Duogynon steht seit spätestens 1967 im Verdacht, verantwortlich zu sein für | |
| Missbildungen bei Ungeborenen. | |
| „Für die Firma war Duogynon ein money spinner, eine Innovation, nur ein, | |
| zwei Dragees zum Schlucken, unkomplizierter zu handhaben als alle | |
| bisherigen Schwangerschaftstests damals“, sagt Moebius. „Aber eben eine | |
| Hormonbombe, ausgerechnet für Schwangere, völlig idiotisch“, seine Stimme | |
| bebt, das alles ist lange her und regt ihn doch noch auf. „Ein Risiko“, er | |
| ruft es ins Telefon, „für die Kinder im Mutterleib.“ | |
| ## Der knallharte Nachweis blieb aus | |
| Ulrich Moebius hat sich mit Schering später, in den 1970er und 1980er | |
| Jahren, da arbeitete er schon lange als Arzt in einem Krankenhaus, angelegt | |
| deswegen, mit Publikationen im pharmakritischen arznei-telegramm. Nur den | |
| einen knallharten Nachweis für seinen Verdacht, dass der Hormoncocktail aus | |
| Gestagenen und Östrogenen zu Fehlbildungen an Herz, Gliedmaßen, Genitalien | |
| und inneren Organen bei tausenden Ungeborenen geführt haben könnte, diesen | |
| Nachweis, es wurmt ihn bis heute, „konnten wir rückblickend nicht | |
| erbringen“. | |
| Auch weil klinische Arzneimittelstudien an Menschen oder Menschenaffen | |
| fehlten – sie waren damals gesetzlich gar nicht vorgeschrieben. Auch weil | |
| Schering mit Informationen geizte und besorgte Nachfragen von | |
| Wissenschaftlern und Ärzten abbügelte. | |
| Bis heute bestreitet die Bayer AG, die Schering 2006 übernahm, jeden | |
| Zusammenhang zwischen der Einnahme des Medikaments und den Schädigungen. | |
| Moebius sagt: „Bei Schering ahnten sie die Risiken schon in den 1960ern, | |
| aber sie haben sie negiert. Es war eine brutale Zeit.“ Er hält inne. „Gibt | |
| es denn etwas Neues“, fragt er dann. | |
| Schon. | |
| Seit 2015 gestattet das Landesarchiv Berlin Deutschen und Briten, die in | |
| den 1960er und 1970er Jahren mit schweren Missbildungen geboren wurden, den | |
| Zugang zu bislang geschützten Akten. Erstmals dürfen mutmaßlich | |
| Duogynon-Geschädigte Einsicht nehmen in vertrauliche Dokumente. | |
| Diese wurden Ende der 1970er Jahre von der Berliner Staatsanwaltschaft in | |
| einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen Schering sichergestellt: | |
| Briefwechsel der Schering-Rechtsabteilung aus den 1960er und 1970er Jahren | |
| mit Ärzten. Mit Wissenschaftlern, spezialisiert auf die Erforschung von | |
| Ursachen embryonaler Fehlbildungen. Sowie Strategieüberlegungen des | |
| Konzerns zu Umsätzen – und zum Umgang mit Kritikern und Presse. | |
| ## Konzern blieb untätig | |
| Aus den Unterlagen, die der taz vorliegen, geht hervor, dass Schering um | |
| das Risiko einer fruchtschädigenden Wirkung von Duogynon seit Mitte der | |
| 1960er Jahre wusste – auch aufgrund firmeneigener Versuche an Nagetieren. | |
| Leitende Schering-Mitarbeiter diskutieren daraufhin intern die potenziellen | |
| Gefahren des Medikaments. Doch anstatt den Verdacht durch aussagekräftigere | |
| Untersuchungen an Menschenaffen zu überprüfen, belässt es die Firma bei | |
| weiteren Studien an Ratten, Kaninchen und Mäusen, wegen der hohen Kosten | |
| und des zeitlichen Aufwands für Affenstudien. Und in der bizarren Hoffnung, | |
| eigene wissenschaftliche Untätigkeit könne die externen Kritiker zum | |
| Schweigen bringen – und einen Imageschaden von der Firma abwenden. | |
| Vergeblich. 1975 empfiehlt die medizinische Fachzeitschrift Ärztliche | |
| Praxis, „vor Progesteron-Östradiol-Medikation Schwangerschaft mit | |
| Sicherheit auszuschließen“. Eine alarmierte Mitarbeiterin der Klinischen | |
| Forschungsabteilung von Schering schreibt daraufhin an die „Pharma | |
| Deutschland Leitung“ der Firma: „Nach Durchsicht dieser schönen Abhandlung | |
| können Sie sich sicher vorstellen, daß ich einem Herzinfarkt recht nahe | |
| war.“ Beim Chefredakteur des Blattes solle nun auf eine „Richtigstellung“ | |
| hingewirkt werden. | |
| Wenige Monate später, erneut sind Zweifel an Duogynon publik geworden, | |
| erinnert die Abteilung Medizinisch-Wissenschaftliche Information die | |
| Leitung von Pharma Deutschland, es gebe einen „Beschluß der | |
| Vertriebsleitung, nur dem Zwang der Behörden zu weichen“. Dieser gelte auch | |
| für den Fall, „daß im Herbst eine Publikation erscheinen werde, die die | |
| oralen Schwangerschaftstests verdammen wird“. | |
| ## „Er sinnt auf Rache“ | |
| Einschüchterung statt Dialog, diese Strategie im Umgang mit der | |
| Öffentlichkeit wird Schering über Jahre verfolgen. Ende der 1970er Jahre | |
| notiert Schering über Wissenschaftler und in Großbritannien sogar über | |
| Parlamentsabgeordnete vertrauliche Beobachtungen für die Akten – getreu dem | |
| Motto: Wer nutzt, wer schadet dem Unternehmen? | |
| Auch über Ulrich Moebius, den unbequemen Exmitarbeiter, finden sich | |
| Einträge. Obwohl er seine Zweifel an dem Produkt in Fachzeitschriften | |
| öffentlich gemacht hatte, blieb das Präparat auf dem Markt. Im August 1978 | |
| berichtet daraufhin die Schering-Rechtsabteilung „vertraulich“ an den | |
| Schering-Vorstand, „daß Herr Dr. Möbius [. . .] offenbar enttäuscht darüb… | |
| ist, daß die Duogynon-Entscheidungen nicht in seinem Sinne ergangen sind“. | |
| Die Rechtsabteilung befürchtet: „Er sinnt auf Rache.“ | |
| „Rache?“ Ulrich Moebius am Telefon, Januar 2016, lacht. 1978, erzählt er, | |
| das war die Zeit, als in Großbritannien und Deutschland Mütter geschädigter | |
| Kinder sich an Staatsanwaltschaften, Gerichte und die Presse wandten. Als | |
| in Deutschland endlich ein ernstzunehmendes Arzneimittelgesetz in Kraft | |
| trat. Als auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft vor | |
| möglichen Schädigungen Ungeborener durch Duogynon warnte. Kurz: 1978 wuchs | |
| der Druck auf Schering. | |
| ## Das Präparat wird umbenannt | |
| Der Hersteller indes nimmt bloß die Empfehlung als Schwangerschaftstest | |
| zurück und benennt das Präparat um. Duogynon heißt fortan Cumorit. Erst | |
| 1981 wird Schering es ganz vom Markt nehmen. Rechtliche Konsequenzen | |
| bleiben aus, weil die Kausalität weiterhin nicht nachweisbar ist. | |
| Derweil verwendet die Firma Energie darauf, eine offene Auseinandersetzung | |
| über Duogynon zu unterbinden: „M. E. ist es nun auch für uns an der Zeit, | |
| Herrn Dr. Möbius überall dort Schwierigkeiten zu machen, wo dies möglich [. | |
| . .] ist“, schreibt die Rechtsabteilung 1978 an den Vorstand. Dieses Ziel | |
| dürfe auch mit fragwürdigen Methoden erreicht werden: „M. E. sollten wir [. | |
| . .] überlegen, ob wir einen Journalisten finden, den das Thema ‚Herr Dr. | |
| Möbius betreibt sein Geschäft mit der Angst‘ interessiert.“ | |
| „Mich“, sagt Ulrich Moebius, „wundert das gar nicht. Für die war ich der | |
| Feind.“ Bis heute hat sich niemand von der Firma bei ihm entschuldigt. Die | |
| Bayer AG als Schering-Rechtsnachfolgerin lässt Fragen der taz zu | |
| Durchführung und Erfolg der damaligen Überlegungen, Ulrich Moebius | |
| Schwierigkeiten zu machen, unbeantwortet. | |
| ## Untersuchungsausschuss in Großbritannien | |
| In Großbritannien dagegen beschäftigen die Unterlagen aus dem Landesarchiv | |
| Berlin seit dem Herbst 2015 auch das Parlament. Der Gesundheitsausschuss | |
| soll rückblickend untersuchen, welche Risiken dem Unternehmen, aber auch | |
| den staatlichen Aufsichtsbehörden wann bekannt waren – und wer welche | |
| Konsequenzen daraus hätte ziehen müssen. Viele Betroffene hoffen neben der | |
| Aufklärung auch auf die Anerkennung von Schuld – wenn schon nicht im | |
| juristischen Sinne, dann doch moralisch. Es wäre ein Zeichen, wenn die | |
| Firma zugäbe, Fehler gemacht zu haben, auch im Umgang mit der | |
| Öffentlichkeit. | |
| Als der Stern Ende 1978 über mögliche Risiken durch Duogynon berichtet, | |
| schaltet Schering eine Kanzlei in Köln ein: „Der Vertrieb der (. . .) | |
| Stern-Nummer in England soll verhindert werden“, schreiben die Kölner | |
| Anwälte ihrer Auftraggeberin im November 1978. | |
| Ähnlich kaltschnäuzig begegnet das Unternehmen besorgten Ärzten. Die | |
| meisten bitten um Aufklärung, wie etwa ein Facharzt für Geburtshilfe aus | |
| Bayern, der 1978 an Schering nach Berlin schreibt: „Frau [. . .] hat 1967 | |
| ein zentral geschädigtes Kind entbunden und nun im Stern gelesen, daß in | |
| England Zusammenhänge zwischen Duogynon und solchen Mißbildungen | |
| festgestellt wurden. [. . .] Das Kind leidet heute an einer linksseitigen | |
| Halbseitenlähmung, einem inneren Wasserkopf und einem Knickfuß.“ | |
| Schering antwortet: „Nach den Erfahrungen, die uns die Massenmedien in den | |
| letzten Wochen beschert haben, wundern wir uns nicht mehr, wenn Menschen, | |
| die ein mißgebildetes Kind aufzuziehen haben, emotional reagieren und für | |
| erwiesen halten, was nicht einmal als Hypothese haltbar ist.“ | |
| 28 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
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