# taz.de -- Buch über den Philosoph Ludwig Wittgenstein: Kampf mit dem inneren… | |
> Der Sozialpsychologe Christian Schneider hat eine neue Biografie des | |
> Philosophen Ludwig Wittgensteins vorgelegt – ein bahnbrechendes Werk. | |
Bild: Ludwig Wittgenstein galt als hochsensibel | |
Ludwig Wittgenstein (1889–1951) gilt als einer, nein vielleicht sogar als | |
der Begründer der sprachanalytischen Philosophie: einer Denkrichtung, die | |
aller Spekulation den Abschied erteilen will, indem sie den Sinn von | |
Gedanken ausschließlich aus deren sprachlicher Form erläutert. | |
[1][Wittgensteins] Frühwerk, der 1921 erschienene „Tractatus-logico | |
philosophicus“ enthielt entsprechend die Behauptung: „Die Grenzen meiner | |
Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ | |
Es ist genau diese Behauptung, die den Sozialpsychologen Christian | |
Schneider dazu motiviert hat, Wittgensteins gesamte Philosophie aus dessen | |
durchaus unglücklicher Lebensgeschichte zu erklären. Dieses – nicht | |
unplausible – Vorgehen war in der Philosophie lange Zeit tabu: galt doch | |
die [2][neukantianische] Unterscheidung von „Genesis“ hier und „Geltung“ | |
dort als geradezu sakrosankt. | |
## Das Leben berücksichtigen | |
Das scheint sich derzeit zu ändern: So hat schon der Doyen der Geschichte | |
des Deutschen Idealismus, Dieter Henrich, 2011 eine Studie über „Werke im | |
Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten“ veröffentlicht, | |
während im Jahr 2020 die Psychoanalytikerin Hanna Gekle eine umfangreiche, | |
mehr als 600 Seiten lange Studie zu Ernst Bloch vorgelegt hat: „Der Fall | |
des Philosophen“. | |
Eine Studie, die anhand von Briefen und weiterem biografischen Material das | |
Entstehen von Blochs Philosophie der Hoffnung und Revolution nachzeichnet. | |
Dieses Verfahren hat Christian Schneider in ebenso überzeugender wie | |
brillanter Weise vervollkommnet: kann er doch tatsächlich nachweisen, dass | |
der philosophiehistorische Umschlag von Wittgensteins enigmatischem, | |
geradezu mystischem Frühwerk zu seinen späteren „Philosophischen | |
Untersuchungen“ auf den Kampf des Philosophen mit seinem „inneren Kind“ | |
zurückzuführen ist. | |
Mit dem scharfen Blick des Analytikers zeichnet Schneider die Geschichte | |
einer großbürgerlichen Wiener Familie mit acht Kindern nach, in der drei | |
von fünf Brüdern durch Suizid starben, einer Familie, deren Mutter ihren | |
Kindern gegenüber uneinfühlsam war, die aber gleichwohl als brillante | |
Pianistin Gefühlen durch musikalischen Klang Ausdruck verleihen konnte. | |
Das Kind Ludwig Wittgenstein aber war, wie Schneider überzeugend zeigt, | |
das, was man gegenwärtig als „autistisch gestört“ bezeichnet – das hei�… | |
unfähig, auf Gefühle und Erwartungen anderer Mensch empathisch einzugehen. | |
Die zentrale Frage von Wittgensteins Frühwerk, wie überhaupt Gewissheit in | |
der Welt zu erlangen, wie also bedrückender Ungewissheit zu entgehen sei, | |
lässt sich demnach in Schneiders Worten so ausdrücken: „Wie kann ich einen | |
Austausch mit den anderen gestalten, der zwischen meinem Wunsch, | |
Alleinherrscher meiner Welt zu sein, und dem Verlangen, doch der anderen | |
anzugehören, vermittelt?“ | |
Die Antwort auf dieses Problem fand sich erst Jahre später, nach Weltkrieg | |
und Kriegsgefangenschaft in den erst postum 1953 veröffentlichten | |
„Philosophischen Untersuchungen“, die gültig nachgewiesen haben, dass | |
„Privatsprachen“ ein Ding der Unmöglichkeit sind und die Bedeutung von | |
Worten aus den Regeln ihres intersubjektiven Gebrauchs erwächst. Ebendiese | |
„Philosophischen Untersuchungen“ aber können als die Grundschrift der aller | |
Metaphysik abgeneigten „ordinary language philosophy“ gelten. | |
Christian Schneider kann dabei nachweisen, dass die bekannt gewordene Rede | |
vom „Sprachspiel“ sowie die immer wieder von Wittgenstein verwendeten | |
Beispiele kindlichen Sprechenlernens in den „Untersuchungen“ der | |
Niederschlag des lebensgeschichtlichen Kampfes Wittgensteins wider den | |
Autismus seiner Kindheit waren. Reflexe, die schließlich in einen von | |
Kierkegaard beeinflussten Kampf um Sicherheit im (religiösen) Glauben | |
münden. | |
Glauben, religiöse Hingabe aber ist in diesem Fall stets schweigender | |
Glaube, daher: „Auch unser Ansatz“, so Schneider, „ist ‚stillschweigend… | |
allerdings nur insofern, als er von einem Schweigen ausgeht. Ein Schweigen | |
freilich, das keine ‚Stille‘ im romantisch-schönen Sinne impliziert. | |
Sondern die extreme Not eines Kindes, das den elementaren | |
Entwicklungsschritt zum Sprechen, zur Sprache nicht vollziehen konnte.“ | |
## Der psychoanalytische Blick | |
Mit seiner Studie „Der sprachlose Philosoph“ hat Schneider, der zuvor eine | |
Biografie Sahra Wagenknechts publiziert hat, ein Werk geschaffen, bei dem | |
noch offen bleiben muss, ob es seine überzeugende Plausibilität nur aus der | |
spezifischen Geschichte seines Gegenstands – eben Ludwig Wittgensteins – | |
oder aus dem penibel, umsichtig und genau schauendem psychoanalytischem | |
Blick zieht. | |
Bisher jedenfalls wurde das „Werden von Werken“, (Dieter Henrich) – etwa … | |
Falle Hegels – vor allem aus den politisch-ökonomischen Randbedingungen | |
ihrer Entstehung, der antiken Polis, der bürgerlichen Gesellschaft oder der | |
Französischen Revolution erklärt. Mit seiner psychoanalytischen | |
Werkbiografie hat Christian Schneider eine bahnbrechende Pionierarbeit | |
vorgelegt – man darf gespannt sein, ob und wie sein Verfahren Schule machen | |
wird. | |
9 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://www.philolex.de/wittgens.htm | |
[2] http://www.philolex.de/neukanti.htm | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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